Weihnachtsmarkt 2.0
Sie war allein auf den Weihnachtsmarkt spaziert. Eine Mutprobe. Seit ihrer Scheidung hatte sie vieles vermieden. Weihnachtsplätzchen backen. Einen Baum aussuchen.
Immerhin, den Adventskranz hatte sie aufgestellt und sich jeden Abend am warmen Licht der Kerzen gefreut, das ihr niemand mehr madig machte. Sie hörte immer noch Rolfs Stimme. „Religiöser Kitsch!“, hatte er gesagt. Vorbei.
Als sie am Morgen nach dem Wetter geschaute hatte, hatte der Tag sie mit zartem Rouge und einem Spitzenkragen aus filigranen Wolken begrüßt. Jetzt war der Wind aufgefrischt, der Tag zog die dicke graue Strickjacke über und der Weihnachtsbaum in der Mitte des Platzes wankte bedrohlich.
Die Händler rieben die Hände aneinander und stapften mit den Füßen. Der Wind scheuchte allerlei lose Papiere zwischen den Buden her, gebraucht und nutzlos, entsorgt. Der Wind trieb sein Spiel damit. Die Kälte ließ ihre Augen tränen.
Bei Käthe Wohlfahrt war es warm. Vielleicht könnte sie doch noch einen Stern aus Glas kaufen, der im Fenster das fahle Winterlicht zum Funkeln brächte. Oder das Licht der Kerzen.
Sie fand keinen Stern, der ihr gefiel.
Was ihr gefiel war zu teuer und was sie bezahlen konnte, gefiel ihr nicht und als sie mundgeblasene saure Gurken aus Glas als Weihnachtsschmuck entdeckte, floh sie aus dem Laden und hörte Rolf hämisch lachen.
Der Markt duftete nach gebrannten Mandeln und Zimtsternen, so sehr, dass sie die Süße schmecken konnte. Es roch ein wenig klebrig. Märchenweihnachtsmarkt, Sterntaler im Hemdchen mit bloßen Füßen in der Kälte.
Petra schlenderte zum Maronenstand. Kindheitserinnerungen. Die kleine Hexe. Der Maronimann war kein frierendes Männchen sondern eine frierende ärmliche Frau mit Hijab, dunkler Haut und ein paar bläulich schimmernden Tattoos im Gesicht. Marokko, dachte Petra.
„Atlas“, sagte die Frau, als hätte sie Petras Gedanken gelesen, „Schnee, Winter. Kalt.“
„Kalt.“ Petra nickte und gab ihr einen Fünf-Euro-Schein. Als die Frau ihr das Wechselgeld hinhielt, legte sie ihre Hand um die Hand der Frau, schloss die Finger und schob die Hand zurück.
Die Frau hatte Kältetränen in den Augen oder vom Maronenofen.
„Schon gut“, sagte Petra. Sie schlenderte weiter, vorbei am Sterntaler, am Krippenschnitzer aus Tirol, dem Stand mit den Mützen und russischen Matrjoschkas. Die Maronen wärmten Hände und Magen. Sie steckte die leere Tüte in die Tasche, selbstvergessen.
„Vom Himmel hoch da komm ich her“
Petra stellte sich beim Finnen an, holte sich eine Portion Feuerlachs und Rentierblut, Preiselbeersaft mit einem gehörigen Schuss Wodka. Deftig, nichts klebte.
Ein Mann gesellte sich zu ihr, wärmte seine Hände am Becher mit heißem Glögg. Er trug eine Nikolausmütze, die ausgezeichnet zu seinem weißen Bart passte.
„Allein unterwegs?“, fragte er. Anbaggern auf dem Weihnachtsmarkt! Petra packte ihre Punschtasse fester und schaute nach der Finnin in der Bude. Wo waren Freundinnen, wenn man sie brauchte?
„Keine Sorge.“ Der Nikolaus räusperte sich. „Ich will nichts von Ihnen. Ich bin unterwegs, um Menschen einzuladen.“ Er schob ihr eine Karte hin. „Kaminabend. Weihnachten zum Mitfeiern mit Freunden, die man noch nicht kennt.“ Darunter eine Anschrift und eine Telefonnummer.
Als sie wieder aufblickte, war der Nikolaus verschwunden. Sie hielt Ausschau nach der Nikolausmütze und entdeckte sie hinter der Schlange am Bratwurststand.
„Hallo“, Petra lief hinüber und winkte. Der Nikolaus drehte sich um. Ein Schwarzafrikaner im Kostüm.
„Oh, ich habe Sie verwechselt.“ Der Nikolaus schaute sie grimmig an.
„Den Nikolaus verwechselt. Keinen Schwarzen erwartet, was?“
„Nein, nein!“ Petra beeilte sich, das Missverständnis aufzuklären.
„Ich hab den Job ergattert, Studentenwerk, Kaspar, der Afrikaner, der schwarze König zu Diensten.“ Er machte einen Diener. „Ich verteile kleine Krippenfiguren aus Uganda.“ Er gab ihr eine. Daran befestigt war ein Zettel, der zu Spenden aufrief. Welthungerhilfe.
„Und Sie? Wo kommen Sie her?“
„Hört man das nicht? Aus Frankfurt; ich studier hier, Promotionsstudium, Germanistik.“ Er lachte über ihr verblüfftes Gesicht. Petra schaute auf ihre Füße.
Als vom nahen Kinderkarussell „Rocking around the Christmas tree“ erklang, nahm Kaspar, der afrikanische König, sie am Arm, hielt sie fest und tanzte mit ihr auf dem holprigen Pflaster. Petra ließ sich willig führen. Das Karussell drehte sich, sie drehte sich und die Welt drehte sich mit ihr, um sie herum. Die Musik wechselte, das Karussell stoppte, der Mann am Fahrgeschäft entließ die wenigen Kinder aus ihren Träumen und Kaspar hielt sie noch einen Wimpernschlag lang fest, ehe er sie freigab.
„Danke“, sagte Petra, „da wird einem schwindlig!“
Sie strahlte.
Umstehende klatschten Beifall. Kaspar verabschiedete sich.
Petra beschloss, nachhause zu fahren, stoppte noch einmal am Speckkuchenstand, noch ein Schmeggewöhlerchen für daheim. Die Schlange war lang; der Himmel hatte sich immer tiefer in seine graue Jacke verkrochen. Leise begann es zu schneien.
„Industrieschnee!“, sagte eine ältere Frau missmutig hinter ihr, „Wasser, das an den Staubpartikeln festfriert. Kein Vergleich zu früher.“
Märchenweihnachtsmarkt.
„Und wenn sie nicht gestorben sind, die Nörgler…“ Petra hielt ihr Gesicht dem Himmel entgegen wie Sterntaler. Die Flocken schmolzen auf ihren Wangen, Tränen, die der Himmel schickte.
Als sie in der Straßenbahn saß und die Hand in die Tasche steckte, fühlte sie die Tüte der Maronifrau und das Püppchen von Kaspar und die Karte. Kaminabend.
Alle feiern. Weltweit. Sie war nicht allein.