Kalorien, Teufels Werk oder Gottes Beitrag
THEORIE
Kalorie ist eine veraltete Maßeinheit der Energie, insbesondere der Wärmemenge. Eine Kalorie ist nach einer gängigen Definition die Wärmemenge, die erforderlich ist, um (bei bestimmten Bedingungen) 1 Gramm Wasser um 1 Grad Celsius zu erwärmen.
PRAXIS
Wenn du als Mädchen das Licht der Welt erblickst, hat diese rein wissenschaftliche Definition aber noch andere, ungeahnte Auswirkungen auf dein Leben. Sie bestimmt, ob du eine 36er, Konfektionsgröße trägst, oder dich mit Müh und Not in eine 42 zwängst. Sie hat die Kraft, dein Selbstbewusstsein nachhaltig zu verwirren, dir ein vollkommen gestörtes Essverhalten anzuerziehen, und das was dich ausmacht auf Kilos und Zentimeter zu beschränken. Statt ohne schlechtes Gewissen superleckeres, genial duftendes Essen, bei dessen Anblick dir das Wasser im Mund zusammenläuft, zu genießen, steht plötzlich ein fieses Monster an deiner Seite, um dir jeden Gaumenschmaus zu verleiden. Dieses Biest zwingt dich Essen zuerst argwöhnisch auf Kalorien zu untersuchen, bevor du es reuelos zu dir nehmen darfst.
Für mich war es immer schon unverständlich, was eine Schaumrolle, eine Tafel Schokolade, ein knuspriges Hendlhaxerl oder flaumige Marillenknödel mit der 1 Grad Celsius Erwärmung zutun haben sollte. Als Kind war meine Beziehung zum Essen noch ganz natürlich, ich folgte dem Grundsatz: Iss wenn du Hunger hast.
Ich war ein Omakind, meine Mama starb zu früh und mein Vater war mit einer lebendigen 4-Jährigen vollkommen überfordert. Also kam ich in die Obhut meiner heiß geliebten Oma, von mir liebevoll Ömchen genannt. Sie nahm mich in ihre mütterlichen Arme, trocknete meine Tränen, zog mich an den wogenden Busen und begann mich zu bekochen. In ihrer Welt hielt gutes Essen Leib und Seele zusammen und heilte jeden Kummer. Ömchen hatte böhmische Vorfahren und das schlug sich auch in ihrer Kochkunst nieder. Ihre Knödel, Palatschinken, Powideltascherln oder Buchteln mit Vanillesauce, waren zum Anbeten, der Apfelstrudel, der Nusskuchen und die Vanillekipferln ein Gedicht. Damals war ich noch ein Allesesser, Schweinsbraten, von dem ich heimlich die knusprige Schwarte stibitzte, landete genauso in meinem Magen wie Grenadiermarsch, Paprikahendl, Gulasch mit Nockerl, Linsen mit Semmelknödeln, Schwammerlgulasch oder ein Ganserl mit Apfel Maroni Rotkraut mit Erdäpfelknödeln und Bratensaft. Mit ganz viel Saft und noch mehr Knödeln! Eigentlich war ich schon immer eher der Beilagenesser, Fleisch musste nicht sein, aber dummerweise gibt es ohne Fleisch keinen Saft, also verdrängte ich mein schlechtes Gewissen, dass Tiere für mich sterben mussten, und genoss Omas Küche. Erst Jahrzehnte später strich ich Fleisch ersatzlos von meinem Speisezettel und begriff, dass ich meinen Genuss nicht durch den Tod eines Tieres erkaufen wollte. Aber das ist eine andere Geschichte.
Als kleines Mäderl war ich fest gebaut, nicht dick, aber auch keine Elfe mit zarten Knochen und feinen Gliedern. Meine beste Freundin, die Ingrid, war um ein Jahr älter und auch kein Hungerhaken, wir waren gesunde, lebendige, aktive Kinder, die lieber in der Prater-Hauptallee herumstreunten, als sich mit „Mädchendingen“ zu beschäftigen. Im Sommer 1972 waren wir Teil einer lustigen Gruppe, Mädchen und Buben gemischt im Alter von 9 bis 12 Jahren, die alles miteinander teilten, die irgendwie trotz der Geschlechtsunterschiede „gleich“ waren. Es war ein heisser Sommer und wir lungerten faul in unserem Bandenhauptquartier herum, als die „Neue“ zu uns stieß. Ich erinnere mich noch gut an den Tag und sogar mir blieb der Geleefrosch fast im Hals stecken, als sie mit Max´s Schwester Andrea, den Clubraum betrat. Sie hieß Lucia und war zum Anbeten schön, zumindest sahen das unsere Jungs so. Langes, dunkles Haar, das nicht wie bei uns zu Zöpfen geflochten war, Augen so groß wie Bambi, ein schlanker, biegsamer Körper, der die Schwelle vom Mädchen zur Frau bereits überschritten hatte – kurz gesagt – sie war perfekt. Der ehemalige Geräteschuppen, der von uns als Treffpunkt benutzt wurde, war nichts Besonderes, wir hatten ihn ein bisserl verschönert, lose Bretter angenagelt, ausgediente Fauteuils und eine alte Bettbank hineingestellt, auf der sich Decken, Polster und Comics, mit Apfelbutzen und in Stanniolpapier gewickelter Schokolade den Platz teilten. Uns hatte das nie gestört, doch als Lucia erschien (anders konnte man das nicht nennen) sprang der fesche Max sofort auf um Platz zu machen. Michael, sein bester Freund, schüttelte eifrig imaginäre Brösel einer Decke aus und legte sie für Lucia auf die verschlissene Bank. Sogar Erwin, der sich eigentlich nie um etwas anderes kümmerte als um Fußball und umSammelbilder der Austria-Mannschaft, strich sich unauffällig die zerrauften Haare aus der Stirn, zog die Hose hoch und den Bauch ein. DAS hatten sie bei Ingrid und mir noch nie gemacht und der Grund war eindeutig Lucia. Die wunderschöne, schlanke, elfenhafte Lucia… Heute weiß ich, dass ihr sirenenhafter Auftritt den Untergang von Erdbeerschokolade, Kokosstangerl, Geleefröschen und Co einläutete, weil ich kurz den Wunsch verspürte, genauso wie Lucia angesehen und hofiert zu werden.
Mir war damals noch nicht klar, dass es zwei Kategorien Frauen gab, die Glücklichen, deren Stoffwechsel mit einem Güterwagen voll Schokolade umging, als wäre es ein Salatblatt und die Anderen. Ingrid und ich gehörten eindeutig zur zweiten Kategorie. Wir mussten eine Torte nur ansehen und schon schmiegte sie sich an Hüften oder Bauch an. Und zwar dauerhaft. Sie war gekommen, um zu bleiben.
Mit zehn Jahren war ich noch weit davon entfernt Essen argwöhnisch zu betrachten und in Kohlehydrate, Eiweiß und Fett aufzuspalten, bevor ich hineinbiss. Im Laufe der Zeit wurde mir aber klar, dass ich nicht zu den „Lucias“ dieser Welt gehörte. Ich war im Team „gute Futterverwerter“, wie meine Oma es liebevoll nannte, und die hatten es viel schwerer in Form zu bleiben als Lucia´s. Je älter ich wurde, umso mehr wuchs die Erkenntnis in mir, dass ich die Freunde meiner Kindheit - Schokolade, Mehlspeisen, Knödel und Co - nie wieder ansehen würde, ohne frustriert zu seufzen.
Es hat einige Irrungen und viele Lucias gebraucht, um mich aus diesem unnatürlichen Kaloriendiktat zu lösen. Heute weiß ich, Kalorien machen nicht dick und trennen auch keine Beziehungen, nicht sie treiben dich in den Wahnsinn, sondern du selbst, weil du dir einbildest dich in ein Kleid zu hungern, in das nur Lucias mit Leichtigkeit hineinpassen. Kalorien machen dich auch nicht liebenswürdiger, schöner, beliebter, mitfühlender, gütiger, klüger oder glücklicher, sie machen dir aber das Leben schwer, weil du ihnen diese Macht gibst.
Ich brauchte fast 40 zig Jahre um zu erkennen, dass Essen Spaß machen muss, es nichts Besseres für die Seele gibt, als Vanillekipferl nicht nur zu riechen, sondern auch zu essen. Mittlerweile hab ich verstanden, dass es genial ist, mit Freundinnen vor dem Fernseher zu sitzen, umgeben von Chips, halbleeren Pizzakartons und ganz leeren Sektgläser, um mit Baby mitzufiebern, ob sie am Ende ihren Jonny bekommt, oder Lizzie ihren versnobten Mr. Darcy erobern kann. Zu begreifen, dass Geburtstagstorten mit Schokoladencreme oder Zuckerguss nicht Teufels Werk, sondern Gottes Beitrag sind, um Anlässe zu feiern und dadurch unvergesslich zu machen, ist ein wichtiger Teil meines Lebens.
Heute, im Alter von 59 Jahren, sitze ich mit Tee und Keksen vor meinem Laptop und schreibe das alles in der Hoffnung nieder, dass ich Essen nie wieder an Kalorien und Verzicht binde, es viel mehr ein Teil von Lebensfreude und Genuss bleibt.
Bevor meine Schwammerlsuppe am Herd nun endgültig überkocht, oder das selbstgebackene Brot im Backofen zu knusprig wird, noch ein flammender Appell an alle „nicht Lucias“ dieser Welt:
Vergesst nie das Leben euch schmecken soll, lasst nicht zu, dass alte Muster es verkopfen und diktieren, denn dazu ist unsere Zeit auf Erden eindeutig zu kurz.