Seitenwind Woche 1: Brötchen mit Soße für 60 Pfennig

Die Banane nicht braun, der Apfel nicht grün.
Die Haferflocken nicht zart, sondern kernig.
Kernig wie die Hände meiner Oma, die in ihrer Kittelschürze immer aussah, als wäre sie direkt einem Katalog für Kinderwohlfühldinge entsprungen.
„Soll ich deinen Lieblingsteller nehmen, den mit Hänsel und Gretel darauf?“
Ja, Oma, das sollst du, auch wenn mich der Schneewittchenteller reizt.
Aber der gehört meiner Schwester. Und die ist älter als ich.
Und stärker.
Zum Glück ist sie noch in der Schule, so habe ich meine Oma ganz für mich allein.
Und obendrein mein Lieblingsessen.
„Magst du Honig oder Zucker?“
Den weißen Zucker, den ungesunden, und nicht zu wenig davon.
Die Milch frisch vom Bauern, lauwarm und fettig.
Jetzt die Banane mit einer Gabel zerquetschen, den ungeschälten Apfel darüber reiben und die Haferflocken mit Hilfe der Milch untermischen. Natürlich den Zucker nicht vergessen. Fertig.
„Lass es dir schmecken, mein Schatz!“
Das tue ich, Oma!
Auch ein halbes Jahrhundert später noch.
Allerdings sind meine Bananen heute bio. Ebenso die Äpfel und die Haferflocken.
Frische Milch vom Bauern gibt es bei mir nicht mehr, geschweige denn den Industriezucker.
Aber auch deine Hände gibt es nicht mehr, geliebte Oma, die immer so lustvoll unter der Kittelschürze hervorschauten, als könnten sie zaubern.
Als zauberten sie.
Bis heute.
Mein Lächeln.

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DARMLIEBELUNG

Es war mehr der Marsch zum Imbiss, der die Verdauung anregte. Bereits als Kind – kurzbeinig, Vokuhila-Frisur, flinke Füße – hab ich Strecke gemacht. Vorlaufen, zurücklaufen, immer mehr Kilometer als nötig. Mittlerweile springe ich nicht höher als die Latte liegt.

Der Marsch zur Imbissbude auf Rädern war das Herzstück des Besuchs von meinen Großeltern, die aus dem Pott regelmäßig angereist kamen.
Mein diabeteskranker Oppa schlemmte zwar kontrolliert, aber so wie er das Zigarettchen immer noch heimlich in der Garage rauchte, so lies er sich die Currywurst in Hamburg-Wandsbek auch nicht nehmen. Er tarnte sein Vorhaben den Blutzucker in die Höhe zu pitschen als Ausflug mit seiner Enkelin, der eh immer zu schnell langweilig wurde.

Ich war seine Garage. Er war mein Dinner-Date.

„Eine Currywurst und vier kleine“, hörte ich meinen Oppa die Bestellung aufgeben. Auf Kinnhöhe Wellblech und auf meiner Augenhöhe die senfverschmierte und fettgegerbte Ablage, auf der Innenstadtflaneure ihre Pappteller zum Bezahlen seit Jahrzehnten zwischenlagerten.

Zwei Psychonanalysen später weiß ich, was mir daran so gut geschmeckt hat: Wir haben beide zwar das selbe verzehrt, nur war mein Gericht kindgerecht zubereitet. Er pickte sich mit dem farbigen Plastikzweizack die einzelnen Scheiben auf der oberen Etage aus der Currysauce und ich nahm ein Würstchen nach dem anderen auf der unteren Etage des Stehtisches in die Hand.
Ein Stehstisch für Generationen. Höhenunterschied auf Augenhöhe.

Um uns herum Kaufhausstimmung, ein vor und zurück juckelnder Gaul, der von Kindern für 50 Pfennig beritten wurde, Imbissdampf und in mir drin nichts geringeres als Seligkeit, die nach Curryketchup schmeckte.

Selbst der angesabberte Finger meiner Mutter, die unsanft Ketchupreste aus den Mundwinkeln rubbelte, nachdem der Ausflug wieder zu Hause endete, machte nichts aus.
Bevor die Liebe durch den Magen geht, wurde sie also in einen Darm gepresst. Jetzt wird mir einiges klar.

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Mamas Hackbraten

In den Sommer- und Weihnachtsferien durften wir für eine Woche zu unseren Eltern nach Berlin fahren. Einfach mal raus aus dem Kinderheim.
Diese beiden Wochen waren ausnahmslos die besten des ganzen Jahres. Endlich Mama, Papa und unseren kleinen Bruder wiedersehen und eine schöne Zeit miteinander haben. Und immer gab es an einem dieser Tage Mamas Hackbraten.
Keiner wusste genau, wie sie ihn gemacht hat, es war ihr Geheimnis. Wir wussten nur, alle liebten ihren Hackbraten. Sie war darauf sehr stolz.
An solchen Tagen, wenn wir sie gefragt haben „Mama wat jibts heute zum Mittag?“
Strahlte sie uns stolz an: „Heute jibts Hackbraten.“
Wir vertrieben uns die Zeit in unserem Zimmer mit spielen und rumalbern, dabei hatten wir eine Menge Spaß.
Der Geruch breitete sich in der ganzen Wohnung aus. Er lässt sich einfach nicht in Worte fassen, es roch einfach nach „Mamas Hackbraten“. Wir konnten kaum abwarten, bis Mama rief: „Essen iss fertig. Kommt ihr?“ Als hätten wir in den Startlöchern gesessen, sind wir zu dritt aus dem Zimmer gestürmt. Wir brauchten auch nicht helfen, den Tisch vorzubereiten. Das hat Mama immer gemacht. Ich glaube, ihre größte Freude war, uns dabei zuzusehen, wie wir ihren Hackbraten mit Kartoffeln und Rotkohl genossen. Manchmal gab es auch Klöße dazu. Beides war sooo lecker.
Leider wird dieser Hackbraten nur noch Erinnerung sein, aber dafür eine wirklich schöne. Eine Erinnerung, die lebendig wird, wenn ich nur das Wort Hackbraten höre. Dann sehe ich Mama bildlich vor mir, höre ihre Stimme mitsamt Berliner Dialekt, wenn sie verkündet, dass es Hackbraten jibt, wie sie mit wippenden Schritten in die Küche geht, um zu kochen. Dann muss ich schmunzeln.
Und man sagt ja: „In der Erinnerung leben die Menschen weiter, die wir lieben.“

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Ich habe schon in vielen Hotels überall auf diesem Globus mehr oder weniger gut genächtigt. Was solls, wichtig ist das Frühstück!
Nach nur etwas mehr als drei Stunden Schlaf hatte mich ein Gewitter, das mit einer so immensen Wucht über der Stadt niederging, dazu gezwungen meine Schlafbemühungen aufzugeben. Das Bett war sowieso zu weich und der Lattenrost, den ich unter der dünnen Matratze durch spürte knarzte bei der kleinsten Bewegung. Mühsam drehte ich mich also auf die Seite und setzte meine Füße auf den angenehm kühlen Steinboden vor dem Bett. Nachdem sich der Drehschwindel, der wohl meinem chronisch zu niedrigen Blutdruck geschuldet ist, gelegt hatte, richtete ich meine gesamten, stattlichen einmeterfünfundsechzig zu voller Höhe auf und blickte mich um. Schräg gegenüber dem Bett war eine Tür und genau auf die zielte mein Begehren ab und auch die Hoffnung, dort die Erschöpfung und Müdigkeit mittels einer möglichst kalten Dusche aus dem geplagten Körper zu treiben.
Ich hätte doch besser die Glastür etwas weiter rechts geöffnet und mich in den Gewitterregen gestellt, denn das, was sich hier ganz großspurig „Ganzkörperdusche“ nannte war ein armseliges Getropfe, von dem man nicht richtig nass werden konnte.
Eine halbe Stunde später betrat ich, aus dem Lift kommend, die Lobby und orientierte mich durch einen Rundumblick an den dezenten Hinweisschildchen an den Wänden Richtung Speisesaal, wo es angeblich ein Frühstücksbuffet geben sollte. Es war überraschend still in dem langgestreckten, hellen Saal, der zu einer Seite - zu einem gepflegten Park hin - durch eine Fensterfront begrenzt war und dessen anderen drei Wände, unterbrochen von einigen verschlossenen Türen, von einem Buffet beherrscht wurden, deren schiere Ausmaße ich mir in meinen kühnsten Träumen nicht ausmalen hätte können. In der Mitte des Raumes standen mit diskreten Abständen ungefähr fünfzig Tische, mal für zwei, mal auch für mehr Personen eingedeckt. Ich bewegte mich fast ein wenig eingeschüchtert ob der gigantischen Ausmaße, vorsichtig meinen Trolley hinter mir herziehend, auf den am nächsten freien dem Ausgang am nähesten stehenden Tisch zu, immer bedacht, nur nicht großartig aufzufallen und nach dem Frühstück schnell und wieder verschwinden zu können. Von der Seite kam ein Kellner in einem weinroten Sakko auf mich zu und bat mich um die Zimmernummer. Ich hatte den Mann beim Eintreten nicht bemerkt und erschrak leicht, zuckte ein bisschen zusammen, was diesen aber vollkommen ungerührt mit ausdruckslosem Gesicht auf Antwort wartend, verharren ließ. Ich erfuhr, dass mir mit Übereinstimmung zu meiner Zimmernummer ein bestimmter Tisch zugewiesen sei und so blieb mir nichts anderes übrig, als dem Livrierten zu folgen. Der Tisch, zu dem er mich führte, war etwas am Rande, aber dadurch nahe an dem dreiviertel der Wände einrahmenden Buffettische. Gut, nahe an der Quelle ist nie ganz schlecht, dachte ich und bedankte mich höflich.
Nachdem ich meinen Trolley neben einen Stuhl gestellt und meinen Mantel über dessen Lehne gehängt hatte, machte ich mich auf Erkundungstour den Wänden entlang um in Erfahrung zu bringen, was mich hier und jetzt für eine miserable Nacht entschädigen könnte. Schnell stellte ich fest, dass die Auswahl doch nicht so überwältigend riesig war, wie es auf den ersten Blick schien, denn das Angebot erstreckte sich nur über vier Buffettische und wiederholte sich dann immer wieder. Die Idee dahinter war, dass die Gäste nicht alle an derselben Stelle anstanden und dass die Wege zu den einzelnen Tischen dadurch kürzer wurden. Es gab aber eine stattliche Auswahl an verschiedenen Brotsorten und Gebäck, wie man es nur in Italien findet, dazu Wurst und Käse, sicher zehn verschiedene Konfitüren und allerlei, für fast jeden Geschmack passende Müsli und Körnerkreationen. Auch an frischem Obst wurde nicht gespart. Das Highlight für mich aber war der Kaffee. Da stand doch wirklich in der Mitte des Saales eine wuchtige, richtig alt-aussehende italienische Kaffeemaschine samt Barista, der je nach Wunsch des Gastes, jegliche Kaffeevariation aus acht verschiedenen, frisch gerösteten Bohnensorten, Fauchen und Dampf herstellen konnte. Mein Tag war also gerettet – wenigstens vernünftigen Kaffee gab es hier. Ich belegte einen Teller mit ein paar Wurst- und Käsescheiben, nahm mir ein Körbchen mit Vollkornbrot und brachte dies schon mal zu meinem Platz, dann begab ich mich zu der Kaffeemaschine. Der etwas ältere Herr, der das Ungetüm bediente, verneigte sich leicht und lächelte mich an. Er wünschte mir einen guten Morgen und fragte, woher ich komme. Mit meiner Antwort, von überall auf dieser schönen Welt, konnte er nicht viel anfangen. Er wollte ja nur ergründen, welcherart Kaffee ich wohl bevorzuge, aber daraus ergab sich eine interessante Unterhaltung. So erfuhr ich, dass dieser eher unscheinbare Mann schon seit seiner frühen Jugendzeit immer mit Kaffee zu tun hatte. Seine Eltern hatten eine Kaffeerösterei in einer kleinen Stadt in Süditalien, wo er nach seinem Schulabschluss zu arbeiten begonnen hatte und da von der Pike an alles über diese belebenden Beeren lernte. Er zog dann mit knapp zwanzig Jahren nach Rom, um dort in einem Café zu lernen. Dort machte er auch die Bekanntschaft mit einem gewissen Signore Rancilio, der aus Milano (er sprach das so schön uritalienisch aus, nicht dieses eingedeutschte Mailand) in die Hauptstadt gekommen war, um da seine Kaffeemaschinen zu verkaufen. Sein Chef kam damals mit diesem Signore Rancilio ins Geschäft und kaufte ihm seine erste richtig große, originale Maschine ab. Als die Maschine geliefert wurde, war in dem Service auch inbegriffen, dass die Mitarbeiter eine genaue Einschulung erhielten. Signore Rancilio tauchte von da an immer mal wieder in dem Lokal auf und so entwickelte sich eine bis heute anhaltende Freundschaft. Aus dem Café von damals wurde dieses Hotel. Die Maschine, die hier im Hotel für die Gäste alle nur erdenklichen Kaffeegenüsse produzierte, war immer noch diese erste Maschine von damals, ja und der junge Mann von damals ist inzwischen der Besitzer diese Hotels mit Frühstück.

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Ich erinnere mich noch genau an Omas “Nudeln mit Schnee”.

Du weißt nicht, was das ist? Nun, dann folge mir in meinen Kopf, sieh dir meine Erinnerung an und erlebe mit, warum dieses Gericht für mich so besonders ist. Es sind nicht die vergleichsweise einfachen Zutaten, sondern meine Oma, die dieses Essen so einzigartig gemacht hat.

Als ich nach der Schule bei Oma ankomme, rieche ich es schon. Diese spezielle Mischung aus Nudeln und Käse, die wohl jedem das Wasser im Mund zusammenlaufen lässt. Oma steht im Türrahmen und lächelt mich an: “Da bist du ja. Weißt du, was es heute zu essen gibt?”

Ich will mir nicht anmerken lassen, dass ich es bereits weiß, denn ich sehe die Freude in ihrem Gesicht, wenn sie mir eröffnet, dass es heute mein Lieblingsgericht gibt. Die Vorfreude darauf, dass ich juchzend in die Küche renne, mich schon mal an den Küchentisch setze und es kaum erwarten kann, dass es endlich los geht.

“Heute gibt es Nudeln mit Schnee!” sagt sie und lächelt verschmitzt. Erwartungsgemäß juble ich und renne los in Richtung Küche. Es ist unser Ritual, das sich im Laufe der Zeit entwickelt hat. Oma kommt mir hinterher und nimmt sich die feine Reibe um den Emmentaler weiter zu reiben. Ich liebe es, ihr dabei zuzusehen. Sie sieht so zufrieden aus und ich bin mir jetzt noch sicher, dass nicht nur Nudeln und Käse, sondern auch eine große Portion Oma-Liebe in meinem Lieblingsgericht enthalten sind.

Als die Nudeln fertig sind, nimmt sie das große Metallsieb und schüttet das Wasser ab. Jetzt kommt der große Moment! Sie häuft einige Löffel Nudeln auf meinen tiefen Teller und gibt den in winzig kleine Stückchen gehobelten Käse über die Nudeln. Käse, der aussieht wie Schnee. Der Käse verläuft sofort und zieht köstliche Fäden. Ich kann es kaum erwarten, den ersten Bissen zu nehmen und schließe genießerisch die Augen. Was für eine Party meine Geschmacksnerven gerade feiern, kannst du dir bestimmt vorstellen. Der Kontrast zwischen dem milden Geschmack der Nudeln und dem fein-herben Geschmack des Käses ergibt für mich das perfekte Essen.

Leider ist es mir niemals gelungen, “Nudeln mit Schnee” nachzukochen, obwohl es nur aus Makkaroni, etwas Butter und fein geriebenem Emmentaler besteht. Ich weiß heute, dass in meinem Essen die Zutat Oma-Liebe fehlt. Also bleibt das Gericht, von dem ich nicht mal weiß, ob Oma es sich ausgedacht hat oder ob es noch andere Menschen gibt, die es kennen, bei mir in ebenso liebevoller Erinnerung wie meine leider schon verstorbene Oma.

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Hallo,
vermutlich bin ich zu alt und zu blöd für diesen ganzen online Kram. Schreibe seit mehreren Jahren mit Papyrus und könnte auch etwas zum Thema: „Brötchen mit Soße“ schreiben, finde aber nix, wo ich meinen Text eingeben könnte. Eingeloggt bin ich. Trotzdem ratlos. Oder wäre das hier der richtige Ort?
Rüdiger Paulsen

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Mein Bruder grinst mich über den Tisch an. Ein hämisches Grinsen. An einem winzigen Mittagstisch, in einer kleinen, stinkenden Küche. Ich rieche, mein Meist-Hass-Essen wird zubereitet.
In geölter Pfanne pufft und zischt und dampft eine ganze, wässrige Tomate.
Zerstossen, mit Haut und Allem! Bedeckt mit einem aufgeschlagenen Ei. Dann das Ganze verquirrlt mit dem Schaumbesen. Zu einer rot-gelb-weiss marmorierten Masse, durchbrochen von zäher Haut. Mit Salz und Pfeffer beworfen.
Es stockt, wird fest. Nochmals gedreht und nochmals vermischt. Mit energischem Stossen, Drücken hälftig geteilt und je auf einen Teller. Die Teller dann mit Schwung vor unsere Nasen.
Ich atme durch den Mund. Stochere angewidert nur so im Essen herum.
«Mami, Christian stochert nur so im Essen herum.»
Vom Herd ein Schnaufen. Meine Bitte nach Alternativen vorweg nehmend, aber trotzdem an niemanden direkt gerichtet – oder, an alle Kinder dieser Welt… ausser Afrika:
»Es wird gegessen, was auf den Tisch kommt.» Kurze Pause. «Ihr habt es gut, die Kinder in Afrika müssen hungern.»
Ich zwacke ein winziges Stück ganz am Rand ab, schiebe es auf die Gabel, zu meinem Mund.
Richtiges Essen gibt es erst wieder, wenn Paps zurück ist. Im grossen Esszimmer. Am grossen Tisch. Mit grossem Abstand zu meinem Bruder.
Noch viermal schlafen.

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Hallo Rüdiger! Du hast eigentlich alles richtig gemacht. Genau so, wie du deine Frage in diesen Thread gepostet hast – mit dem blauen „Antworten“-Button ganz unten, nehme ich an – reichst du auch deinen Text ein.

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Ein licht- und forenscheuer Neuling traut sich:

Schlüsselreiz

Winter 1963/64. Die DDR hat beide Altchen weit über die menschenverachtende Grenze in den Westen gespuckt. Zu alt, um noch nützlich zu sein, dürfen sie sich endlich legal mit der Familie des Sohnes, die acht Jahre zuvor schon „rüber jemacht“ hat, unter einem Dach wiedervereinen.

Die Enkelin ist neun Jahre alt und freut sich wie Bolle über die Familienvergrößerung, auch wenn diese fünfundsechzig Jahre älter ist, als die, die sie sich eigentlich als Geschwisterchen gewünscht hätte. Sie nimmt, was sie kriegen kann, um einen Fluchtpunkt im Haus zu haben, wenn sich mal wieder ein elterliches Donnerwetter drohend zusammenbraut und sich mit Hagel, Sturmböen und Blitzen über ihr entlädt.
Die kleine Omi, das Enkelmädchen überragt sie schon einige Zentimeter, und der Opa haben das Gros ihres Hab und Guts im Osten zurückgelassen. Eine Entscheidung, in die sich fügten, weil ihr Leben sie auf harten Verzicht trainiert hat. Zwei widerwärtige, entbehrungsreiche Weltkriege, im ersten verlor der Großvater seinen linken Arm und seine Gesundheit, dann der frühe Verlust eines Kindes, der schmerzliche Verlust des engen Kontaktes mit der Familie, die in den Westen geflohen war und schlussendlich ihr Häuschen mit Nutzgarten im südöstlichen Brandenburg, aus dem sie nur wenige Habseligkeiten mitbrachten.
Aber sie sind zufrieden. Der Opa puttelt im neuen Garten, obwohl der Rasen und die Beete eher dekorativer Natur sind und er Obst und Gemüse wichtiger findet, und zweimal am Tag läuft er kilometerweit über die Dörfer der Umgebung und kennt bald jeden Bauern persönlich. Er war selbst in der Landwirtschaft tätig, und allein draußen sein zu können, reicht zur vollkommenen Seligkeit. Regnet es zu heftig, um spazieren zu gehen, jampelt er unruhig durchs Haus und nervt seine „Kleene“. Sie teilt seinen Unternehmungsdrang nicht und kapituliert, denn sie hat einen hinderlichen Vogel, einen Grauen Star, und weil sie nach der ersten, eine zweite OP für sich nicht mehr lohnend erachtet, war sie nahezu blind. Trotzdem kocht das kleine Energiepaket regelmäßig wie ein Uhrwerk für sich und ihren „Papa“. Mit preußischer Pünktlichkeit stehen um neun Uhr der Muckefuck und die Margarinestulle, um zwölf Uhr das einfache Mittagessen, am Nachmittag noch einmal Muckefuck und ein gerecht geteiltes Hefestück und am Abend eine Scheibe Brot, nicht selten nur mit Butter und Zucker darauf, auf dem Tisch. Alles gute Zureden, sie könnten es sich von ihren Renten doch wesentlich komfortabler machen, abwechslungsreicher essen, helfen nicht, und die „Kleene“ schickt ihren „Papa“ von Pontius zu Pilatus, um die einfache Marmelade noch einen Pfennig günstiger zu ergattern.

Das Enkelmädchen sitzt gerne bei den Großeltern im Wohnzimmer, schaut später heimlich und im Schlafanzug „Raumpatrouille“ zwischen Tür und Angel, damit sie von den Eltern nicht erwischt wird. Kein Film für Kinder und zu spät! Die Großeltern halten dicht, verfüttern weiße und rosafarbene Schokolinsen und kringeln sich vor Lachen. Und oft, wenn es Stuckkartoffeln mit dicker Milch gibt, lädt sich die Enkelin selbst zum Essen ein. Sie weiß es schon Tage vorher, denn dann geht sie mit der Milchkanne zum Bauern und holt die euterfrische Milch dafür, denn nur so gelingt die Dickmilch. Die mit einem Tuch abgedeckte Milchschüssel darf in Ruhe über Tage stocksauer werden. Dazu gibt es gestampfte Kartoffeln mit untergehobenem, ausgelassenem Speck und kurz darauf schließen die heißen Erdäpfel zusammen mit der kühlen Dickmilch einen himmlischen Bund, so wie es bloß einfachen Gerichten gelingt.

Man muss richtig hungrig oder noch ein Kind sein, dann genießt man jeden einzelnen, der wenigen Bestandteile einer bescheidenen Gaumenfreude, und man erinnert sich, inzwischen genauso alt wie die „Kleene“, wehmütig daran. Eine Geschmackserinnerung wird zum Schlüssel für das Tor zur Vergangenheit. Es gibt so viele Schlüssel …

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Ich habe vor einiger Zeit unsere Familiengeschichte mit Fotos, Stammbaum und Erinnerungen geschrieben. Dazu gehören auch einige Anekdoten rund ums Essen mit den Rezepten dazu. Einen Auszug möchte ich mit euch teilen:

Der Wald überm Weg war ein wunderbarer Spielplatz. Schließlich waren Hof und Garten dem
Federvieh vorbehalten. Auf dem Feld sah uns Opa Werner auch nicht so gern, außer er schickte
uns los, um Kartoffelkäfer von den Blättern zu sammeln. Wenn wir im Mais verstecken spielen
wollten, durften wir uns lieber nicht erwischen lassen.
Der Gemüsegarten war Opa Werners Heiligtum. Schnurgerade zog er im Frühjahr die Reihen,
um Beete mit Erdbeeren und Gemüse anzulegen.
Oma erzählte oft, dass sie mit Opa eine gute Ehe führte und sie so gut wie nie gestritten haben.
Nur ein einziges Mal ist Opa ein „Du Trampel!“ rausgerutscht, weil Oma beim Anlegen der Erdbeerbeete
ein klein wenig neben den Pfad und auf das Beet getreten war.
Mit uns Kindern hat er aber nicht geschimpft, noch nicht einmal, als Moni im Frühjahr alle Krokusse
pflückte und sie freudestrahlend Oma schenkte.
Im Gegenteil, er versuchte, uns jeden Wunsch zu erfüllen. Deshalb baute er auch eine Schaukel
überm Weg.
Und wenn wir im Wald oder auch auf einem Baum unsere Buden bauten, schaute er, dass uns
nichts passiert. An der Eiche sägte er sogar die Äste zurecht, damit wir besser Klettern konnten.
Mickeins jüngste Enkeltochter Simone gesellte sich bald zu uns und wurde uns eine liebe
Freundin. Gemeinsam stellten wir so einiges an, aber genau genommen, nichts Schlimmes.
Unsere ersten Gartenfeste feierten wir gemeinsam auf dem Spielplatz unterm Fliedergebüsch.
Schnell war eine Bühne gebaut, Lampions und Lichterketten aufgehängt.
Mickeins Hofhund Molly musste ein paar Kunststückchen aufführen, wir sangen (mehr schlecht
als recht) und sagten Gedichte auf. Unser geneigtes Publikum applaudierte begeistert.
Zu einem Fest gehörten natürlich auch Kaffee und Kuchen. Die Omas Martha und Bertel sorgten schon dafür, dass alle satt wurden.
Später öffnete die „Bar“ und wir Mädels bewirteten unsere Gartenfestgäste mit selbst zusammen gerührtem Eierlikör und anderen mehr oder weniger genießbaren Getränken.

Simone gehörte genauso zur Familie wie wir bei Mickeins ein- und ausgingen. Auch wenn es
um’s Essen ging, wurde kein Unterschied gemacht.
So kam es, dass es einmal eine regelrechte Hefeklöße-Orgie gab. Oma Martha und Tante
Friedel, die gerade zu Besuch war, standen in der Küche, kneteten den Hefeteig, stachen die
Klöße aus und ließen sie auf mehreren Töpfen im Wasserdampf auseinander gehen. Wir Kinder
standen schon Schlange, um mit der nächsten Ladung Hefeklöße samt Blaubeerkompott
auf dem Teller nach draußen zu verschwinden. Oma und Tante Friedel kamen kaum hinterher,
neue Hefeklöße fertigzubekommen. Obwohl sie reichlich Teig angesetzt hatten, neigte er sich
bald dem Ende zu und die beiden hatten noch nicht ein Fitzelchen davon abbekommen.
„Ich werde mal schon Kartoffeln holen!“, beschloss Tante Friedel und sorgte dafür, dass auch
alle Großen ein Mittagessen bekamen, weil - die Hefeklöße hatten die fünf Mädels allein verputzt!

So, die nächsten Hefeklöße macht ihr euch allein!

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Streng genommen bin ich mir bis heute nicht mal sicher, ob es ein wirkliches Gericht ist, an das ich mich am liebsten zurückerinnere.
Meine Oma nannte es Granadiermasch. Ein simples Essen, das aus übriggebliebenen Salzkartoffeln und Nudeln zubereitet wird. Ja, ich habe und geschrieben, da diese zwei Komponenten zwingend zusammen erforderlich sind!
Bei einer Recherche habe ich tatsächlich etwas grob Vergleichbares gefunden, den Grenadiermarsch. Aber nach reichlicher Überlegung bin ich davon überzeugt, dass es sich um vollkommen verschiedene Gerichte handelt, auch wenn die verwendeten Zutaten fast vollständig zusammen passen. Aber die Optik …
Kross angebratene Kartoffelscheiben zusammen mit liebevoll drapierten Farfalle, die locker zusammen auf dem Teller liegen.
Das ist einfach nur völlig falsch!
Das Endresultat sollte ein sehr kompakter Stampf sein, der mit einer Kelle auf den Teller geklatscht wird. Und wer leichtsinnig genug ist, diesen besagten Teller nicht mit beiden Händen festzuhalten, ist selbst schuld, wenn das Gesetz der Massenträgheit greift und der Teller auf dem Boden landet.
Die Zubereitung selbst ist sehr simpel. Gewürfelte Zwiebeln müssen mit Pflanzenöl sehr scharf in einem größeren Topf anbraten werden. Also so richtig scharf, nicht so lasch glasig, sondern bis so kurz vorm Anbrennen.
Dann kommt ein großzügiger Schwung Paprikapulver darauf. Meine Oma war Jugoslawin und man musste nun einmal scharf können, wenn man bei ihr etwas zu essen haben wollte.
Das Ganze wird einmal umgerührt, ehe die Salzkartoffeln dazu kommen. Mit einem stabilen Kartoffelstampfer müssen dann die Kartoffeln zügig mit den Zwiebeln vermengt werden. Man darf an dieser Stelle keine Angst vor dem Festkleben der Kartoffeln auf dem Topfboden haben. Diese Schicht sorgt dafür, dass einem die Zwiebeln nicht mehr verbrennen können.
Anschließend kommen gekochten Nudeln mit in den Topf. Diese werden ebenfalls mit dem Stampfer unter die Kartoffelmasse gearbeitet.
Das ist es im Grunde auch schon. Keine Brühe, keine Soße oder sonstige Flüssigkeit mehr. Salzen und Pfeffern sollte dann jeder nach seinem ganz persönlichen Geschmack.
In meinem Fall war der frische Pfeffer auf dem dampfenden Essen der wundervollste Geruch der Welt.

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Dankeschön, das freut mich!

Danke Elisabeth. Das freut mich sehr.
„Tante“ Grete könnte eine Freundin der Oma sein, die unten im Haus wohnte. grins.

Über Geschmacksnerven, angesengte Bärte und Schmalzmus
Ich habe gelesen, dass es drei Fähigkeitsstufen im Schmecken gibt: Allesesser, Unkomplizierte und Gourmets. Wie bei allen vorteilhaften Eigenschaften des Menschen ist auch die des Schmeckens gerecht verteilt: Jeder glaubt, er habe genug davon – das heisst in unserem Fall, fast jeder Mensch hält sich für einen Gourmet. Objektiv betrachtet, ist es aber durchaus einfach, eine den drei Fähigkeitsstufen entsprechende Einteilung vorzunehmen. Allesesser können sich von Buttermilch und Cornflakes ernähren; einen ganzen Sommer lang, wenn’s sein muss. Es ist Ihnen egal, ob das Hafermus angebrannt oder die Polenta versalzen ist. Sie schmecken nämlich keinen Unterschied.
Die Unkomplizierten erkennen zwar, dass etwas nicht wirklich stimmt, doch sind sie darüber keineswegs unglücklich, denn mit einer gehörigen Portion Aromat oder Maggi wird alles zum Lieblingsessen.
Wir Gourmets hingegen werden bereits als kleine Kinder kulinarisch gebeutelt. Ich erinnere mich an eine Ovomaltine, die meine Mutter aus Mangel an Milch mit Wasser angerührt hatte, und die ich trinken musste, weil man nichts verkommen lässt. Ich habe den ganzen Nachmittag dafür gebraucht und erst, als mir meine grosse Schwester aus Mitleid den Tipp gab, mir die Nase zuzuhalten und es dann einfach herunterzukippen, wurde ich von meinem Leiden erlöst. Nur für diesen Tag allerdings, denn die Fischstäbchen auf unserem Tisch waren chronisch Minibriketts und nicht einmal mit einer dicken Mayonnaise-Wurst obendrauf geniessbar. Ganz zu schweigen von den Fleischbrocken, die ich nach minutenlangem Kauen immer noch nicht schlucken konnte und die nicht einmal der Hund fressen wollte, dem ich sie unter den Tisch schmuggelte.
Es gab aber auch Speisen, die ich bereits als Kind heiss liebte: Blutwurst mit Salzkartoffeln beispielsweise oder Tomatenspaghetti. Ein regelrechtes Fest war es für mich, wenn Käsefondue auf dem Speiseplan stand. Wer diese typisch schweizerische Speise kennt, weiss, dass hierfür ein sogenanntes Caquelon auf einem Rechaud mit Spiritusbrenner steht. In dem Caquelon blubbert die Käsemischung, wohinein alle ihre auf extralange, dreizackige Gabeln gespiessten Brotbrocken eintauchen und sie über dem Caquelon einige Male drehen, um den herabtriefenden Käsefaden aufzurollen. Dann bläst jeder den heissen Brot-Käse-Würfel an, um ihn so weit abzukühlen, dass er in den Mund geschoben werden kann, ohne Verbrühungen zu verursachen.
Als wir vier Kinder noch klein waren, sassen wir beim Essen paarweise übers Eck unseren Eltern gegenüber auf einer Bank. Beim Fondue-Essen traf unser Gepuste zum Abkühlen unserer Brot-Käse-Klumpen genau auf die Flamme des Spiritusbrenners. So verursachten wir nicht nur einmal eine Stichflamme, die unseres Vaters Vollbart ansengte und stellenweise verschmürzelte. Darüber regte er sich jeweils fürchterlich auf, denn sein Bart war sein ganzer Stolz. Zum Glück musste auch meine Mutter darüber lachen, wenn er wie das Rumpelstilzchen neben dem Esstisch hüpfte und mit der Serviette auf seinen Bart einschlug.
Schmalzmus war weit weniger gefährlich. Es handelt sich dabei um ein Gericht, das unser Nani uns hie und da am Mittag auftischte – Nani ist die Bezeichnung für die Grossmutter bei den Walsern in Graubünden. Man isst Schmalzmus genau wie das Käsefondue gemeinsam aus einer Pfanne. Eine Bratpfanne um genau zu sein, in welcher Mehl, Butter, etwas Milch und wenig Salz so lange gerührt wird, bis ein bräunliches Mus entstanden ist. Die Pfanne wird auf den Tisch gestellt und jeder beginnt auf seiner Seite, indem man nach Belieben Zucker draufstreut und Löffel für Löffel aussticht. Obwohl dies ein Gericht war, das wir alle gerne assen, wundert es mich nicht, dass ich seit diesen Tagen in den Siebzigern nie mehr davon gehört habe.
Als Kind wurde ich immer als heikel taxiert, weil ich vieles nicht gerne ass. Ging es Euch ähnlich? Dann seid Ihr auch Gourmets und habt im Gegenzug die Fähigkeit, wahren Genuss als solchen zu erkennen und zu schätzen.

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Omas Kuchen

Es ist ein warmer Tag Mitte September.
Ich bin auf dem Weg zu Omas Geburtstag. Die Scheiben von meinem roten Smart habe ich herunter gelassen. So weht ein lauer Wind durch das kleine Auto, der den satten Geruch gemähter Felder durch die Lüfte trägt. Für mich hat dieser Duft schon immer das Ende des Sommers angekündigt. Bald würde es wieder kälter werden.

In dem kleinen Kofferraum des Smarts liegt ein bunter Blumenstrauß in herbstlichen, kräftigen Farbtönen. In der Mitte habe ich eine leuchtend gelbe Sonnenblume einbinden lassen. Oma liebt die Farben des Herbsts. Sie sagt immer: „Die leuchtenden Farben machen es uns leichter, den Sommer zu verabschieden. Wir sollten nicht traurig sein, dass der Sommer geht. Wir sollten uns freuen, welch schöne, intensive Farben uns der Herbst schenkt. Außerdem geht es im Leben wieder gemütlicher zu. Die Menschen verbringen mehr Zeit zusammen. Das ist etwas Gutes.“ Ihre positive Einstellung hat sie durch ein ereignisreiches Leben getragen. Ich bin froh, dass sie bis heute, zu ihrem 82. Geburtstag, so lebensfroh geblieben ist.

Omas freudiges Gesicht ist das Erste, was ich sehe, als ich bei meinem Elternhaus vorfahre. Munter ruft sie von der Haustür: „Hallo mein Kind! Schön, dass du da bist! Komm dann rein! Ich muss nach dem Kaffee sehen!“
Langsam steige ich aus dem Auto und strecke mich nach der Fahrt in der warmen Sonne aus. Nach Hause kommen hat seine eigene Form der Geborgenheit. Auch, wenn ich selbst schon 42 bin, ja unsere Oma wurde früh damit überrascht, eine zu werden, bin ich doch immer noch „das Kind“. Manchmal hat der Gedanke, dass darauf Verlass ist, egal was im Leben passiert, etwas Tröstliches.

Vorsichtig hole ich den Blumenstrauß aus dem Kofferraum und gehe rüber zur Haustür, die Oma für mich offengelassen hat. Auf dem Gehweg rieche ich das schwere, volle Aroma von frisch gebrühtem Kaffee. Ein leises Gefühl der Vorfreude auf Omas Kuchen steigt in mir auf. Nachdem ich die Tür geschlossen habe, finde ich Oma im Untergeschoß. Im Esszimmer ist sie mit dem Herrichten der Kaffeetafel beschäftigt. Ich gratuliere und übergebe ihr den Blumenstrauß. Ihre blauen Augen strahlen. Versonnen atmet sie den Duft der Blumen ein: „Danke dir, Kind. So ein schöner Strauß. Ich werde gleiche eine passende Vase suchen.“ Und schon verlässt sie auf immer noch flinken Füßen den Raum, um oben in der Küche nach der Vase zu suchen. „Aber Oma, das kann ich doch für dich machen.“, biete ich an. „Du weißt ja nicht, welche Vase ich haben will.“, sie zwinkert verschmitzt. „Was kann dir abnehmen, Oma?“ „Ach Kind, wenn ich mal nicht mehr kann, dann kannst du mir alles abnehmen. Solange ich aber noch kann, da seid ihr meine Gäste. Ihr arbeitet alle so fleißig, da sollt ihr es bei mir schön haben und auch mal nicht arbeiten.“ So ist unsere Oma. Sie will gebraucht werden und uns eine Freude machen, solange sie es kann. Sind wir glücklich, ist sie es auch. „Helfen könnt ihr mir alle, wenn ich alt bin.“, und dann lacht sie vergnügt.
Die Kaffeetafel ist mit einer blütenweißen Tischdecke überzogen. Ihr liebstes Porzellangeschirr mit dem Blumenmuster steht darauf. Den Kuchen hat sie mittig platziert. Es klingelt wieder und diesmal ist es Papa mit seiner Lebensgefährtin und meinem Bruder. Lachen und Geplapper dringt von oben durch das Treppenhaus, als die Neuankömmlinge Oma gratulieren. Schritte auf der Treppe kündigen an, dass alle auf dem Weg nach unten sind. Papa hat die Vase mit dem Blumenstrauß in der Hand. Oma hat ihm genaue Anweisungen gegeben, wo der Strauß stehen soll. Und so findet auch er einen Platz auf der Tafel: „Damit ihn alle sehen.“, wie Oma zufrieden sagt. Hinter Papa folgt Opa mit dem duftenden Kaffee.
Wir setzen uns an Omas schön gedeckte Kaffeetafel.
„Schwarzwälder“ nennt Oma ihren Kuchen, den sie zu allen Anlässen backt. Eine richtige „Schwarzwälder Torte“ ist es allerdings nicht.
Omas Schwarzwälder hat einen Boden aus Rührteig, der sehr schokoladig schmeckt mit einem Hauch von Zimt. Auf diesem Boden verteilt sie, nachdem er gebacken wurde, die aufgekochten Kirschen. Sie krönt diesen Kuchen immer mit einer Schicht aus Schlagsahne, die sie locker aufschlägt. Der Vanillinzucker darf nicht fehlen. Er sorgt für ein feines Aroma in der Sahne. Zu guter Letzt streut Oma Schockoraspel über ihren Kuchen.
Wir haben uns etwas länger nicht gesehen, erzählen was im Leben gerade los ist und lachen über Anekdoten. Was passt dazu besser, als Omas „Schwarzwälder“? Auch wenn es keine richtige
Schwarzwälder ist, wir alle lieben diesen Kuchen. Oma strahlt glücklich, als zum Ende des Kaffeetrinkens kein Stück mehr übrig ist.
So unterschiedlich wir sind: Ihr Kuchen bringt uns immer zusammen. Und wird für uns ein Stück „zu Hause“ bleiben.

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Kalorien, Teufels Werk oder Gottes Beitrag

THEORIE

Kalorie ist eine veraltete Maßeinheit der Energie, insbesondere der Wärmemenge. Eine Kalorie ist nach einer gängigen Definition die Wärmemenge, die erforderlich ist, um (bei bestimmten Bedingungen) 1 Gramm Wasser um 1 Grad Celsius zu erwärmen.

PRAXIS

Wenn du als Mädchen das Licht der Welt erblickst, hat diese rein wissenschaftliche Definition aber noch andere, ungeahnte Auswirkungen auf dein Leben. Sie bestimmt, ob du eine 36er, Konfektionsgröße trägst, oder dich mit Müh und Not in eine 42 zwängst. Sie hat die Kraft, dein Selbstbewusstsein nachhaltig zu verwirren, dir ein vollkommen gestörtes Essverhalten anzuerziehen, und das was dich ausmacht auf Kilos und Zentimeter zu beschränken. Statt ohne schlechtes Gewissen superleckeres, genial duftendes Essen, bei dessen Anblick dir das Wasser im Mund zusammenläuft, zu genießen, steht plötzlich ein fieses Monster an deiner Seite, um dir jeden Gaumenschmaus zu verleiden. Dieses Biest zwingt dich Essen zuerst argwöhnisch auf Kalorien zu untersuchen, bevor du es reuelos zu dir nehmen darfst.
Für mich war es immer schon unverständlich, was eine Schaumrolle, eine Tafel Schokolade, ein knuspriges Hendlhaxerl oder flaumige Marillenknödel mit der 1 Grad Celsius Erwärmung zutun haben sollte. Als Kind war meine Beziehung zum Essen noch ganz natürlich, ich folgte dem Grundsatz: Iss wenn du Hunger hast.

Ich war ein Omakind, meine Mama starb zu früh und mein Vater war mit einer lebendigen 4-Jährigen vollkommen überfordert. Also kam ich in die Obhut meiner heiß geliebten Oma, von mir liebevoll Ömchen genannt. Sie nahm mich in ihre mütterlichen Arme, trocknete meine Tränen, zog mich an den wogenden Busen und begann mich zu bekochen. In ihrer Welt hielt gutes Essen Leib und Seele zusammen und heilte jeden Kummer. Ömchen hatte böhmische Vorfahren und das schlug sich auch in ihrer Kochkunst nieder. Ihre Knödel, Palatschinken, Powideltascherln oder Buchteln mit Vanillesauce, waren zum Anbeten, der Apfelstrudel, der Nusskuchen und die Vanillekipferln ein Gedicht. Damals war ich noch ein Allesesser, Schweinsbraten, von dem ich heimlich die knusprige Schwarte stibitzte, landete genauso in meinem Magen wie Grenadiermarsch, Paprikahendl, Gulasch mit Nockerl, Linsen mit Semmelknödeln, Schwammerlgulasch oder ein Ganserl mit Apfel Maroni Rotkraut mit Erdäpfelknödeln und Bratensaft. Mit ganz viel Saft und noch mehr Knödeln! Eigentlich war ich schon immer eher der Beilagenesser, Fleisch musste nicht sein, aber dummerweise gibt es ohne Fleisch keinen Saft, also verdrängte ich mein schlechtes Gewissen, dass Tiere für mich sterben mussten, und genoss Omas Küche. Erst Jahrzehnte später strich ich Fleisch ersatzlos von meinem Speisezettel und begriff, dass ich meinen Genuss nicht durch den Tod eines Tieres erkaufen wollte. Aber das ist eine andere Geschichte.
Als kleines Mäderl war ich fest gebaut, nicht dick, aber auch keine Elfe mit zarten Knochen und feinen Gliedern. Meine beste Freundin, die Ingrid, war um ein Jahr älter und auch kein Hungerhaken, wir waren gesunde, lebendige, aktive Kinder, die lieber in der Prater-Hauptallee herumstreunten, als sich mit „Mädchendingen“ zu beschäftigen. Im Sommer 1972 waren wir Teil einer lustigen Gruppe, Mädchen und Buben gemischt im Alter von 9 bis 12 Jahren, die alles miteinander teilten, die irgendwie trotz der Geschlechtsunterschiede „gleich“ waren. Es war ein heisser Sommer und wir lungerten faul in unserem Bandenhauptquartier herum, als die „Neue“ zu uns stieß. Ich erinnere mich noch gut an den Tag und sogar mir blieb der Geleefrosch fast im Hals stecken, als sie mit Max´s Schwester Andrea, den Clubraum betrat. Sie hieß Lucia und war zum Anbeten schön, zumindest sahen das unsere Jungs so. Langes, dunkles Haar, das nicht wie bei uns zu Zöpfen geflochten war, Augen so groß wie Bambi, ein schlanker, biegsamer Körper, der die Schwelle vom Mädchen zur Frau bereits überschritten hatte – kurz gesagt – sie war perfekt. Der ehemalige Geräteschuppen, der von uns als Treffpunkt benutzt wurde, war nichts Besonderes, wir hatten ihn ein bisserl verschönert, lose Bretter angenagelt, ausgediente Fauteuils und eine alte Bettbank hineingestellt, auf der sich Decken, Polster und Comics, mit Apfelbutzen und in Stanniolpapier gewickelter Schokolade den Platz teilten. Uns hatte das nie gestört, doch als Lucia erschien (anders konnte man das nicht nennen) sprang der fesche Max sofort auf um Platz zu machen. Michael, sein bester Freund, schüttelte eifrig imaginäre Brösel einer Decke aus und legte sie für Lucia auf die verschlissene Bank. Sogar Erwin, der sich eigentlich nie um etwas anderes kümmerte als um Fußball und umSammelbilder der Austria-Mannschaft, strich sich unauffällig die zerrauften Haare aus der Stirn, zog die Hose hoch und den Bauch ein. DAS hatten sie bei Ingrid und mir noch nie gemacht und der Grund war eindeutig Lucia. Die wunderschöne, schlanke, elfenhafte Lucia… Heute weiß ich, dass ihr sirenenhafter Auftritt den Untergang von Erdbeerschokolade, Kokosstangerl, Geleefröschen und Co einläutete, weil ich kurz den Wunsch verspürte, genauso wie Lucia angesehen und hofiert zu werden.
Mir war damals noch nicht klar, dass es zwei Kategorien Frauen gab, die Glücklichen, deren Stoffwechsel mit einem Güterwagen voll Schokolade umging, als wäre es ein Salatblatt und die Anderen. Ingrid und ich gehörten eindeutig zur zweiten Kategorie. Wir mussten eine Torte nur ansehen und schon schmiegte sie sich an Hüften oder Bauch an. Und zwar dauerhaft. Sie war gekommen, um zu bleiben.
Mit zehn Jahren war ich noch weit davon entfernt Essen argwöhnisch zu betrachten und in Kohlehydrate, Eiweiß und Fett aufzuspalten, bevor ich hineinbiss. Im Laufe der Zeit wurde mir aber klar, dass ich nicht zu den „Lucias“ dieser Welt gehörte. Ich war im Team „gute Futterverwerter“, wie meine Oma es liebevoll nannte, und die hatten es viel schwerer in Form zu bleiben als Lucia´s. Je älter ich wurde, umso mehr wuchs die Erkenntnis in mir, dass ich die Freunde meiner Kindheit - Schokolade, Mehlspeisen, Knödel und Co - nie wieder ansehen würde, ohne frustriert zu seufzen.

Es hat einige Irrungen und viele Lucias gebraucht, um mich aus diesem unnatürlichen Kaloriendiktat zu lösen. Heute weiß ich, Kalorien machen nicht dick und trennen auch keine Beziehungen, nicht sie treiben dich in den Wahnsinn, sondern du selbst, weil du dir einbildest dich in ein Kleid zu hungern, in das nur Lucias mit Leichtigkeit hineinpassen. Kalorien machen dich auch nicht liebenswürdiger, schöner, beliebter, mitfühlender, gütiger, klüger oder glücklicher, sie machen dir aber das Leben schwer, weil du ihnen diese Macht gibst.

Ich brauchte fast 40 zig Jahre um zu erkennen, dass Essen Spaß machen muss, es nichts Besseres für die Seele gibt, als Vanillekipferl nicht nur zu riechen, sondern auch zu essen. Mittlerweile hab ich verstanden, dass es genial ist, mit Freundinnen vor dem Fernseher zu sitzen, umgeben von Chips, halbleeren Pizzakartons und ganz leeren Sektgläser, um mit Baby mitzufiebern, ob sie am Ende ihren Jonny bekommt, oder Lizzie ihren versnobten Mr. Darcy erobern kann. Zu begreifen, dass Geburtstagstorten mit Schokoladencreme oder Zuckerguss nicht Teufels Werk, sondern Gottes Beitrag sind, um Anlässe zu feiern und dadurch unvergesslich zu machen, ist ein wichtiger Teil meines Lebens.

Heute, im Alter von 59 Jahren, sitze ich mit Tee und Keksen vor meinem Laptop und schreibe das alles in der Hoffnung nieder, dass ich Essen nie wieder an Kalorien und Verzicht binde, es viel mehr ein Teil von Lebensfreude und Genuss bleibt.

Bevor meine Schwammerlsuppe am Herd nun endgültig überkocht, oder das selbstgebackene Brot im Backofen zu knusprig wird, noch ein flammender Appell an alle „nicht Lucias“ dieser Welt:
Vergesst nie das Leben euch schmecken soll, lasst nicht zu, dass alte Muster es verkopfen und diktieren, denn dazu ist unsere Zeit auf Erden eindeutig zu kurz.

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schrecklich… nicht dein Schreiben, sondern Deine Erinnerung.

Ich habe heute zwei neue Wörter gelernt, die ich hoffentlich bald total lässig nebenbei in ein Gespräch einbauen kann, am liebsten über ein blubberndes, duftendes Käsefondue hinweg. Und ich habe sehr geschmunzelt über den verschmürzelten (drei neue Wörter!) Bart deines Vaters. Ich hoffe, das ist nicht schlimm.

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Haha! Ich bin auf Deiner Seite. Glücklicherweise brauchte ich nicht 40 Jahre sondern erlangte Deine Weisheit bereits nach 30 Jahren Darben. Und du gehörst zu den Gourmets, genau wie ich. Die meisten Lucias hingegen zu den Allesessern… Liebe Grüsse aus dem Schokoladenland…

Wo auch. Ich freue mich sehr darüber und auch, dass du meinen Beitrag zum Wettbewerb schon gelesen hast. Danke!