Francis schreckte hoch und sein Blick fiel auf einen hageren Geistlichen, dessen Hände in den weiten Ärmeln seiner Kutte verborgen waren. Er blickte Francis freundlich an. “Ist schon Zeit für die letzte Ölung”, murmelte Francis verschlafen. “Aber nein, mein Sohn. Ich bin Padre Alvarez und bin hier, um euch die Beichte abzunehmen.” “Ich habe nichts zu beichten”, entgegnete Francis. Francis’ Einwand ignorierend, begann er, den üblichen Sermon zu beten. Als die Wache, die ihn nach unten geleitet hatte, verschwunden war, verstummte er. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass sie nicht belauscht wurden, sagte er: “Ihr seid eurem Vater sehr ähnlich, Lord Fulton.” Francis war sofort hell wach. “Kanntet ihr ihn denn?”, fragte er. “Ja. Als wir uns zum letzten Mal begegnet waren, wart Ihr noch ein kleiner Junge”, antwortete Alvarez. Er sah sich noch einmal um, und fuhr fort: “Kapitän Morgan schickt mich, um euch zur Flucht zu verhelfen.” “Was? Wieso?”, fragte Francis verwirrt. “Nun, nicht ganz uneigennützig, wie ich gestehen muss. Aber auch, weil ich davon überzeugt bin, dass nicht das geringste gegen sie vorliegt. Und weil ich Kapitän Morgan sehr schätze. Wir sind uns schon des öfteren begegnet.”
“Wenn ich fliehe, wird Northwny Morgan ebenfalls einsperren”, wandte Francis ein. “Seid unbesorgt, Lord Fulton. Morgan hat bereits entsprechende Vorkehrungen getroffen. Im Einzelnen weiß ich es nicht, und das ist auch besser so.” “Aber wie?” wollte Francis wissen. Alvarez reichte ihm eine braune Kutte und einen Dietrich. “Wenn die Glocken Mitternacht schlagen, zieht ihr die Kutte über und öffnet die Zelle. Ihr solltet es unbemerkt in den Hof schaffen. Dort versteckt ihr euch hinter dem großen Brunnen. Ich werde um diese Zeit noch einmal um Einlass ersuchen, um nach meinem verlorenen Rosenkranz zu fragen”, erklärte der Padre. “Ob das gutgeht?”, meinte Francis zweifelnd. “Hab Vertrauen, mein Sohn”, sagte Alvarez und sah Francis wohlwollend an. Dann verabschiedetet er sich.
Etwa zur gleichen Zeit fuhr in der Garnison die Kutsche des Konsuls vor.
Ohne anzuklopfen betrat der Konsul das Arbeitszimmer von Timothy Northwny. Northwny stand am Fenster und schaute einem Priester nach, der mit gefalteten Händen zum Haupttor ging, als der Konsul eintrat, drehte er sich überrascht um. „Northwny!“, der Konsul ging auf Tim zu „ich habe sie nicht zum Kommandanten der Garnison ernannt, damit sie hier ihren persönlichen Kleinkrieg führen können“ und ohne eine Antwort abzuwarten fuhr er fort „mit einer der angesehensten Familien unserer Stadt. Wegen eines Hirngespinstes? Was haben sie sich dabei gedacht? Wollen sie Francis eines auswischen? Wegen dem Mädchen?“. Er wartete Tims Antwort auch hier nicht ab „Bringen sie das wieder in Ordnung“. Wütend verließ er die Stube und ließ die Tür laut ins Schloß fallen.
Northwny war verärgert über den Besuch des Konsuls. Er hatte ihn nicht einmal zu Wort kommen lassen. Er setzte sich an seinen Schreibtisch und schlug mit der Faust auf den Tisch. Es blieb ihm nichts anderes übrig, er musste die Freilassung von Francis anordnen, sonst würde ihn der Konsol auf die Straße setzen. Er nahm Feder und Papier, schrieb ein paar Zeilen auf und versah das Dokument mit seinem Siegel.
Kapitän Morgan füllte einen handlichen Lederbeutel, steckte ihn ein, bestellte sich eine Kutsche und machte sich auf den Weg zu Senor Perez. Er würde ihm seine schnelle Entscheidung mitteilen und das Grundstück am Hafen kaufen. Die Fässer waren dort sicher untergebracht und sobald Northwny die Insel verlassen hätte, würde er sie ganz oder teilweise zurückholen. Er hatte in den vergangenen Tagen oft an die Zukunft gedacht. Vielleicht würde er sich hier ein kleines Geschäft aufbauen und Handel betreiben. Doch zuerst musste er das alles hier in Ordnung bringen.
Señor Perez saß wir bei seinem letzten Besuch auf seiner Terrasse mit Blick zum Meer. Sie hatten ein angenehmes, wenn auch kurzes Gespräch, beschlossen den geschäftlichen Teil und trennten sich mit freundschaftlichen Gesten.
Morgan ließ sich zum Hafen von Câmara de Lobos bringen und begab sich zur Lagerhalle. Er wurde bereits erwartet. “Käpt´n”, grüßte ihn der Fuhrwerker. Morgan öffnete die Halle und zeigte auf fünf Fässer. Die Männer machten sich sogleich an die Arbeit und nachdem die Fässer verladen waren, griff Morgan in seine Tasche, entnahm ein Papier und gab es dem Fuhrwerker in die Hand “Liefern sie an diese Adresse”, dann zahlte er ihn aus, bedankte sich mit einem Handschlag und machte sich auf den Weg zu seinem Schiff. Seinen Teil der Vereinbarung hatte er somit erfüllt. Der Fuhrwerker faltete das Papier auseinander und las “Kommandant Timothy Northwny, Fortaleza De Sao Tiago”, er faltete das Papier wieder zusammen, setzte sich auf den Kutschbock und fuhr los. Wofür braucht die Garnison fünf Fässer Gurken?, fragte er sich, während er sein Fuhrwerk durch die engen Gassen lenkte.
„Sie laufen Morgen aus, hat es ihnen auf der Insel gefallen?“, stellte der Hafenmeister nüchtern fest, nachdem Aliena ihre Gebühren entrichtet hatte. „Ja, sehr“, Aliena lächelte „uns ist nur ein Seemann abhanden gekommen. Ist ihnen etwas bekannt? Er ist schon etwas betagt und auch manchmal nicht ganz nüchtern.“ Der Hafenmeister sah nachdenklich auf, rückte seine Brille zurecht „Von einem älteren Herrn weiß ich nichts. Oben, in den Gassen wurde ein junger Bursche tot aufgefunden, wohl im Suff erstochen. Da kann ich ihnen nicht weiterhelfen.“ Aliena nickte dankend und verabschiedete sich. Dann ging sie zurück zur Aurelia worauf die letzten Fässer mit Proviant und frischem Wasser verstaut wurden.
“Morgan”, Charlotte ging aufgeregt auf den Kapitän zu, als er die Lale betrat. “Ist etwas geschehen?”, fragte Morgan. “Nein, das nicht. Ich halte das Warten nicht mehr aus und, ach ich weiß auch nicht”, sie zupfte nervös an Morgens Hemdsärmel. “Du kneifst jetzt aber nicht, wegen der Reise nach Übersee?”. Charlotte musste sich ein wenig strecken um dem Kapitän in die Augen sehen zu können “Wo denkst du hin”, antwortete sie. Morgen schenkte ihre Worten keinen Glauben. In ihren Blicken lag Wehmut, eine Wehmut die er zu gut kannte. “Du willst dich verabschieden, bevor du in deine neue Zukunft mit Francis gehst”, sagte er und legte eine Hand auf Charlottes Schulter. Charlotte wischte sich die Tränen aus den Augen “Morgan. Ich habe es Emma und Mozy versprochen, das wenn ich und Francis zusammen kommen werden”, sie schluchzte “ich kann nicht einfach für immer verschwinden, Morgan, sie sind für mich wie meine Familie”. Morgan nahm Charlotte in die Arme “Ich werde eine Lösung finden, Charlotte, das verspreche ich Dir”. Charlotte hatte großes Vertrauen in Morgan und seine ruhige Art und seine Wort wirkten beruhigend. “Dann ist ja gut”, sie nahm ein Taschentuch und tupfte sich die geröteten Wangen “Wann wird Francis hier sein?”. Morgan schaute auf seine Uhr. “Bald, Charlotte. Wir erwarten ihn nach Mitternacht”.
Morgan ging in seine Kajüte, nahm eine Seekarte vom Stapel und bereitete sie aus. Während er die Karte studierte, konnte er über alles nachdenken. Er dachte über Charlottes Worte nach. Weder sie noch Francis hatten in den vergangenen Tagen darüber gesprochen, was es für sie bedeuten würde, ihre Heimat zu verlassen. In ihren jungen Jahren und der großen Liebe, welche die beiden nun miteinander verband, waren sie einzig mit den Träumereinen einer gemeinsamen Zukunft beschäftigt. Und ihm war es in der Aufregung ebenso entgangen, darüber nachzudenken, was die beiden zurück lassen würden. Was er in seinem Leben schmerzlich vermisste, waren jene Momente, worin er sich von geliebten Menschen und Orten hätte richtig verabschieden können. Diese Gelegenheit wollte er Charlotte und Francis ermöglichen. Die beiden waren sehr in ihrer Heimat verwurzelt. Charlotte mit Mozy und Emma, Francis mit seinem Anwesen. Das alles konnten sie nicht so einfach zurück lassen. Morgan beschloss, die Reise nach Übersee, wenn möglich soweit aufzuschieben, bis die beiden ihre Angelegenheiten geklärt hatten. Morgan legte sein Lineal über die kanarischen Inseln, dann verließ er seine Kajüte und begab sich einige Schritte den Flur hinunter und klopfte an Charlotte´s Tür.
“Herein”, rief Charlotte. Sie war gerade dabei, ihre Kleidung aufzuräumen, als Morgan die Kajüte betrat. Ihre Augen waren noch gerötet, sie blickte ihren Großvater jedoch lächelnd an. “Ich habe mir folgendes überlegt”, begann er. “Sobald Francis aus dem Gefängnis ist, bringen wir ihn und dich zu dem Anwesen, dass ich gemietet habe. Dort haltet ihr euch versteckt. Aliena und Warlock laufen wie geplant aus. Northwny und McKinnley sollen glauben, dass ihr mit ihnen geflohen seid. Sobald ich hier alles geregelt habe, folgen wir ihnen zu den Kanaren. Von dort aus können wir uns immer noch nach Übersee aufmachen”, erklärte er. Charlotte schluchzte auf und fiel ihm um den Hals. Morgan tätschelte ihren Rücken. “Na, na, nicht mehr weinen, mein Kind.” Charlotte löste sich von ihm und wischte sich die Tränen ab. “Großvater, dass ist eine großartige Idee”, sagte sie voller Freunde. Er lächelte. “Packe deine Sachen zusammen und gehe in die Kirche. Dort wartest du auf Alvarez und Francis. Der Padre zeigt euch dann den Weg zu dem kleinen Haus neben der Lagerhalle. Gebe Gott, dass alles gut geht”, sagte er und gab seiner Enkelin einen Kuss auf die Stirn. Er reichte Charlotte noch den Hausschlüssel und verließ dann ihre Kajüte. Als er gegangen war, ließ sich Charlotte erleichtert auf einen Stuhl fallen. Dann jedoch packte sie eilig ihre Sachen. Sie konnte es kaum abwarten, wieder mit Francis vereint zu sein.
Warlock ging es bedeutend besser. Sein Bein schmerzte zwar noch beim Auftreten, doch mit der Krücke, die ihm Dr. Koch geliehen, hatte konnte er sich einigermaßen gut fortbewegen. Er saß auf dem Bett und packte seine Sachen in einen großen Leinensack als es an der Tür klopfte und Morgan eintrat. Er hielt eine Flasche und zwei Gläser in den Händen und setzte sich neben Warlock auf das Bett. “Na, mein Junge”, er reichte Warlock ein Glas “das ist meine beste Flasche, die ich mir für ganz besondere Augenblicke aufgehoben habe”, er zog den Korken und schenkte ein, dann stieß er mit Warlock an “mein Junge, ich erinnere mich noch gut an den Tag, als Du tollpatschig bei mir an Deck erschienen bist, grün hinter den Ohren und mit einem lausigen Benehmen. Mein erster Gedanken war, dich so schnell wie möglich wieder los zu werden”, er nahm einen Schluck und genoß für einen kurzen Augenblick das Aroma und die wohlig wärmende Wirkung " und heute fällt es mir beinahe schwer, dich gehen zu lassen", er schaute seinen Enkel lange an “Ich bin stolz darauf, dich als meinen Enkel zu haben.” Warlock war sichtlich ergriffen von den lobenden Worten seines Großvaters. “Danke”, sagte er “danke für alles, was du für mich und für uns getan hast. Ohne dich hätten wir das alles nicht überstanden.” Es klopfte an der Tür und Aliena trat ein “Störe ich euch?”, fragte sie höflich. “Aliena, komm herein”, sagte Morgan “ich habe die Ruhe vor eurer Abreise genutzt, mich von meinem Enkel gebührend zu verabschieden, er war immerhin mein Schiffsjunge”. “Und nun wirst du mein Matrose”, lachte Aliena. Warlock reichte ihr sein Glas und sie und Morgan prosteten sich zu. “Auf die Familie”, sagte Morgan und sie tranken. Dann besprachen sie die Einzelheiten ihrer Reise. Aliena´s Plan war es, zuerst zurück nach El Golfo zu fahren. Sie musste dringend Rafael von den Ereignissen in Kenntnis setzen. Als Nachfolgerin Don Pedro´s würden der gesamte Besitz, alle Eigentümer und auch alle Geschäfte auf sie übertragen werden. Rafael sollte die Geschäfte in ordentliche Bahnen lenken und dafür Sorge tragen, das Aliena und Warlock mit einem guten Gewissen ihre Zukunft begehen konnten. Dann würden sie sich auf den Weg nach Teneriffa machen und sich alle gemeinsam im Riddler´s treffen. Morgan stand auf und nahm seine Flasche unter den Arm. Dann deutete er auf Warlock´s Krücke"Die gibst du ihm wieder zurück. Dr. Koch liegt mir jetzt schon damit in den Ohren", dann verließ er lachend die Kajüte und stieß beinahe mit Charlotte zusammen. “Na, das geht hier ja zu, wie im Taubenschlag”, sagte er und ließ die Tür offen stehen. Charlotte trat ein, umarmte erst Aliena, dann Warlock. “Ich mache mich jetzt auf den Weg”, sagte sie “Pass gut auf dich auf, ja?”, Aliena küsst sie auf die Wange. Warlock war den Tränen nahe “Ich wünsche dir viel Glück, Charlotte, wir sehen uns bald wieder”. “Magst du meinen Holzknüppel mitnehmen?”, fragte Aliena lachend. Charlotte streckte eine Faust in die Höhe “Ich habe diese hier”, sagte sie, legte die Hand ans Herz, winkte zum Abschied und ging hinaus. Es dämmerte bereits. Murtagh würde sie bei Anbruch der Dunkelheit abholen. Kurz vor Mitternacht würde sie dann an der Kirche warten und endlich ihren geliebten Francis in die Arme nehmen.
Am späten Nachmittag klopfte eine Wache an Timothy’s Amtszimmer. Tim sah von seinen Papieren auf, als der diensthabene Wachmann eintrat. “Was gibt es Mr. Brown?”, frage er. “Es sind fünf Fässer Gurken für sie eingetroffen, Sir”, antwortete Mr. Brown und reichte Tim das Begleitschreiben. Als er las, von wem die Fässer waren, beschleunigte sich sein Puls. “Lassen sie die Fässer in den Keller bringen. Den Kellerschlüssel bringen sie mir”, wieß er Brown an. Dieser wunderte sich, dass Mr.Northwny den Schlüssel verlangte, folgte aber umgehend seinen Befehlen. Eine halbe Stunde später begab sich Tim in den Keller. Als er sich vergewissert hatte, dass niemand in der Nähe war, öffnete er eines der Fässer. Das Gold. Endlich. Sein Herz schlug höher bei diesem Anblick. Er ließ seine Finger durch die Münzen gleiten. Stellte sich vor, was sich ihm für Möglichkeiten boten, mit Hilfe dieses Reichtums. Er nagelte das Fass wieder zu, verschloss die Kellertür und machte sich auf zu Murtagh.
Kaum, dass Murtagh ihn hereingebeten hatte, riss Tim die Tür auf und stürmte aufgeregt hinein. “Was ist los, Tim?”, fragte er überrascht. “Wir haben das Gold, Murtagh”, berichtete Tim begeistert.
“Sehr schön”, freute sich Murtagh und klopfte Tim auf die Schulter.
“Zu ärgerlich, dass wir Fulton schon gehen lassen müssen”, meinte Tim. Murtagh sah ihn ernst an. “Es gibt keinen Grund, ihn länger festzuhalten”, sagte er misstrauisch. “Natürlich nicht. Der Konsul selbst hat ja seine Entlassung veranlasst”, lenkte Tim ein. “Gut”, erwiderte Murtagh erleichtet und fuhr fort, sich anzukleiden. Er schlüpfte in seinen grünen Cut und zupfte das Einstecktuch zurecht. Als er im Spiegel noch einmal den Sitz seiner Halsbinde kontrollierte, traf er auf Tim’s Blick, der ihn grinsend musterte. “Ach ja. Du bist heute Abend ja mit Charlotte verabredet. Murtagh McKinnley auf Freiersfüßen”, scherzte er. Murtag verzog sein Gesicht zu einem schiefen Lächeln. “Schön wär’s. Ich habe sie zu einem Drink eingeladen. Sozusagen als Entschuldigung, für die Unanmehmlichkeiten auf dem Empfang des Konsuls.” “Wie überaus edel von dir”, meinte Tim lachend. Murtagh boxte ihn in die Seite, konnte sich ein Lachen jedoch nicht verkneifen. “Kommst du danach noch auf einen Absacker zu mir rein?” fragte Tim. “Ja, gern”, stimmte Murtagh zu und verabschiedete sich von seinem Freund.
Während sie auf McKinnley wartete, fragte sich Charlotte, ob es eine gute Idee war, sich auf eine Verabredung mit ihm einzulassen. Als sie ihn jedoch entdeckte, waren diese Bedenken vergessen. “Guten Abend, Lady Charlotte. Stets eine Freude, sie zu sehen”, sagte er lächelnd und bot ihr seinen Arm. “Guten Abend”, grüßte Charlotte. Ihr Herz schlug schneller, als sie ihre Hand auf seinen Arm legte. Schweigend führte er sie zu einer Taverne weiter oben in der Stadt. Dort fanden sie in einer Nische einen Platz für zwei Personen. Er bestelle Wein und etwas zu essen. “Ich freue mich, dass sie meine Einladung angenommen haben”, eröffnete er das Gespräch. “Die Freude ist ganz auf meiner Seite”, erwiderte Charlotte. Eine ganze Weile unterhielten sie sich über unverfängliche Dinge. Seine angenehme Gesellschaft ließ Charlotte fast vergessen, dass sein Freund Tim Francis verhaftet hatte. Der Wein kam. Murtagh hob sein Glas und stieß mit Charlotte an. “Slàinte mhath”, sagte er. “Was heißt das?”, fragte Charlotte. “Das ist ein Trinkspruch aus Schottland und heißt Gesundheit, oder gute Gesundheit”, erklärte er. Er trank einen Schluck und sah sie über den Rand des Glases an. Charlotte spürte, dass sie rot wurde. “Ich hoffe, Francis geht es gut?”, fragte sie nervös. Murtagh stellte das Glas ab. “Nun, er wird morgen früh entlassen. Auf Befehl des Konsuls”, sagte er. “Wirklich?”, rief Charlotte vor Freude aus und strahlte. Murtagh nickte. Wieder einmal wünschte er sich, sie für sich zu gewinnen.
Einer der Gäste holte eine Gitarre hervor und stimmte eine fröhliche Melodie an. Langsam stand Charlotte auf. Sie hielt Murtagh die Hand hin und sagte: “Dürfte ich um einen letzten Tanz bitten, Mr. McKinnley?” Murtagh ergriff lächelnd ihre Hand. Charlotte begab sich in seine Hände und ließ sich von ihm führen. Der Wein und der ausgelassende Tanz ließ Charlotte schwindlig werden. Murtagh fing sie auf und als sie in seinen Armen lag, küsste er sie. Hastig löste sich Charlotte von ihm. “Bitte nicht”, sagte sie mit einem traurigen Ausdruck auf ihrem Gesicht. “Dann bringe ich sie jetzt lieber zum Schiff zurück”, sagte Murtagh. Charlotte nickte.
Schweigend machten sie sich auf den Weg zu Hafen. Charlotte drückte ihm zum Abschied die Hand. “Danke für den netten Abend. Sie sind ein wunderbarer Mann, Murtagh. Ich wünsche ihnen alles Gute.” “Das wünsche ich ihnen auch, Charlotte.” Er küsste ihr zum Abschied die Hand und sah ihr ein letztes Mal tief in die Augen. Dann wandter er sich um und kurz darauf war er in der Dunkelheit verschwunden. Charlotte sah ihm nach, dann beeilte sie sich, ihrem Großvater und den anderen die Nachricht von Francis’ Entlassung zu überbringen.
Endlich wurde es ruhig in der Festung. Nachmittags hatte es noch einmal Aufregung gegeben, als offenbar einige Fässer geliefert wurden. Die Männer, die sie abladen sollten, mokierten sich lauthals über die vielen Gurken, und wer die denn alle essen sollte.
Francis tigerte unablässig voller nervöser Energie in seiner Zelle auf und ab und musste sich ein Grinsen verkneifen. Die Zeit wollte heute gar nicht vergehen.
Endlich. Die Glocken der Igreja do Soccoro schlugen zwölfmal.
Francis warf die Kutte über seine Kleider und friemelte den Dietrich in das widerspenstige Schloss. Nach einigen fruchtlosen Versuchen drehte sich das Werkzeug knirschend und knarzend, so dass er immer wieder eine Pause einlegte, um zu lauschen. Alles blieb ruhig.
Nach zwei vollen Umdrehungen war es geschafft. Er drückte vorsichtig die Klinke herunter und öffnete die Tür einen Spalt. Im Flur war niemand zu sehen. Er stieß die Tür vollends auf und konnte sie gerade noch festhalten, bevor sie gegen die Wand prallte.
Plötzlich hörte er jemanden die Treppe herauf kommen. Schnell schlüpfte er wieder in das Zimmer zurück und öffnete die Tür einen Spalt. Es war McKinnley. Er klopfte an Northwny’s Tür. Tim öffnete. “Ah, Murtagh, hattest du einen netten Abend?”, hörte er Tim fragen. Murtagh strich sich mit beiden Händen die Locken zurück. “Na ja”, begann er. Tim unterbrach ihm. “Komm rein. Wir trinken noch einen Whisky. Ich bin neugierig, wie dein Abend mit Charlotte verlaufen ist.” Murtagh trat in den Raum und schloss die Tür hinter sich.
Francis stutze. Charlotte hatte sich noch einmal mit Murtagh getroffen? Er unterdrückte seine aufkeimende Wut und schlich sich nach draußen. Dort wartete er ab, bis die Wache auf dem Wehrgang in eine andere Richtung sah, rannte zum Brunnen und duckte sich dahinter. Dann wartete er endlose Minuten, doch es rührte sich nichts. Langsam wurde er nervös. Padre Alvarez müsste längst hier sein. Ob ihm etwas zugestoßen war?
Jemand kam auf ihn zu. Francis stöhnte auf. Auch das noch. Es war der fette Aufseher. Offensichtlich sturz betrunken. Er taumelte hinter den Brunnen und erleichterte sich geräuschvoll. Francis hielt die Luft an. Der Aufseher schloss seine Hose und wandte sich um. Und entdeckte Francis. “Wieso bis du nich in deinem Zimmer?”, nuschelte er. Er packte Francis am Kragen und zwang ihn zum Haus zurück. Obwohl der Kerl betrunken war, hatte Francis ihm nichts entgegen zu setzen. Kurze Zeit später fand er sich wieder hinter Schloss und Riegel. Als er das Schloss erneut öffnen wollte, stellte er fest, dass er den Dietrich verloren hatte.
Niedergeschlagen setzte er sich auf die harte Pritsche und stützte den Kopf in die Hände.
Aus Northwnys Richtung klang Stimmengemurmel und immer wieder Gelächter. Die aufgeschnappte Bemerkung über Charlotte und McKinnley fiel ihm wieder ein und bohrte sich immer tiefer in sein Herz, seine Gedanken drehten sich im Kreis. So schnell hatte sie ihn vergessen? Das konnte, wollte er nicht glauben. Sie hatte sich mit ihm getroffen, aber das hatte doch bestimmt einen triftigen Grund gehabt. Aber warum hatte Northnwy dann so süffisant geklungen? McKinnley hatte mit einem eher bedrückten ‘na ja’ geantwortet, also …
Die Anspannung des Abends ließ nach und er legte sich erschöpft hin. Die Kutte hatte er zusammengefaltet unter seinen Kopf gelegt.
Auf dem Flur klappte eine Tür und es wurde still.
“Mann, wie sehen Sie denn aus. Ziehen Sie sich gefälligst ordentlich an. Sie sind eine Schande für die ganze Garnison!”, polterte eine laute Stimme früh am nächsten Morgen direkt vor Francis’ Zelle.
“Los, schließen Sie schon auf. Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit.” Timothy Northnwy hatte einen Kater und denkbar schlechte Laune. “Fulton, Sie können gehen. Hier ist der Entlassungsschein.” Sprachs und drehte sich auf dem Absatz um.
Der Aufseher sah Francis misstrauisch an. “Ich hab’ dich doch … was hast du gestern …”, stotterte er und verzog angestrengt das Gesicht.
“Was meinen Sie? Ich war hier, wo sonst”, antwortete Francis geistesgegenwärtig.
Kopfschüttelnd drehte sich der Aufseher um und Francis ging schweigend hinter ihm her.
Als sie im Hof am Brunnen vorbeikamen, blitzte etwas Metallisches im Sonnenlicht kurz auf. Francis scharfe Augen hatten den Gegenstand gleich erkannt, es war der Dietrich, den er gestern hier verloren haben musste. Er stolperte absichtlich auf den unebenen Pflastersteinen und stützte sich mit einer Hand am Boden ab. Laut fluchend rappelte er sich wieder hoch und klaubte dabei unauffällig den Dietrich auf.
Der Aufseher lachte hämisch, schloss das Tor auf und zeigte nach draußen. “Gehen Sie schon.”
Francis ließ sich das nicht zweimal sagen und schritt schnell hindurch. Das schwere Tor fiel krachend hinter ihm ins Schloss.
Unschlüssig sah er sich um, so früh waren noch kaum Menschen zu sehen. Er wandte sich nach rechts, und ging mit schnellen Schritten in Richtung Igreja do Soccoro. Kaum war er um die nächste Ecke gebogen und außer Sichtweite des Forts, sah er Padre Alvarez auf sich zukommen.
“Padre, Gott sei Dank! Ich dachte schon, Ihnen sei etwas zugestoßen, als Sie gestern Nacht nicht erschienen sind. Wo sind die anderen, wo ist Charlotte?” Alvarez sah sich vorsichtig um und zog ihn dann in einen Hofeingang.
“Wir haben gestern erfahren, dass Sie heute freigelassen werden sollen, deshalb bin ich nicht gekommen. Hat man Ihnen das gar nicht mitgeteilt? Typisch. Kommen Sie, ich bringe Sie zu Charlotte. Sie wartet schon auf Sie. Haben Sie die Kutte mitgenommen?” Francis nickte und hielt sie hoch. “Ziehen Sie sie über und folgen Sie mir.”
Alvarez rief einen jungen Novizen zu sich, sprach ihm leise etwas zu und schickte ihn sogleich wieder weg. Wenige Augenblicke später fuhr eine Kutsche vor. Padre Alvarez begleitete Francis bis zur Kutsche und verabschiedete sich „Ich wünsche ihnen alles Gute und Gottes Segen“. Francis stieg ein. Die Kursche war bis auf einen Platz besetzt. Francis nahm den letzten freien Platz ein und das Gespann setzte sich in Bewegung. Francis musterte die Fahrgäste. Es waren allesamt Ordensschwestern, in Tracht gekleidet, mit gefalteten Händen. Ihre Gesichter waren unter den Kopfbedeckungen verborgen. Francis Herz begann wie wild zu schlagen. Er ahnte, er wusste, er fühlte es regelrecht, das Charlotte ihm gegenüber saß.
Charlotte öffnete ihre gefalteten Hände, beide Daumen und Zeigefinger berührten sich und formten ein Herz. Da wusste Francis, das alles gut war. Er lehnte sich zurück und atmete erleichtert auf.