Liebe Schreibkollegen,
ich habe den Perspektivwechsel in einem Projekt mit einem anderen Schreibstil verknüpft. Der Lesbarkeitsindex ist mäßig bis schlecht. Trotzdem werfe ich mal den Ball aufs Feld, wie es so schön heißt und hoffe auf Feedback. Ich führe hier einige Personen ein. Besonders wichtig sind Lemoine (mein Antagonist) und Vasilliou.
Barstowe Castle, Glenbrae; Schottland, 7. Juli 2025
Lemoine stand am einzigen Fenster seines Zimmers, dass die Ausmaße und den Charme einer Turnhalle besaß, und schaute durch den dichten Regenvorhang hinaus. Im Gegenlicht schimmerte der nachlässig gekieste Platz zwischen dem Nordflügel und dem verfallenen Friedhof wie eine Seenlandschaft. Eine Windböe drückte auf das lose Glas im altersschwachen Rahmen und wehte Jahrhunderte alten Muff aus den Vorhängen. Wüsste er nicht, dass Lord Barstowe unfähig war, sich in andere Menschen einzufühlen, hielte er diese Unterkunft für einen Affront. Doch Barstowes Gabe, stets und ständig den Unmut seiner Mitmenschen zu erregen, fußte nicht auf bewusster Ablehnung oder strategischem Entschluss. Es gehörte schlicht zu ihm, wie schütteres aschblondes Haar und wässrige Augen. Es war bezeichnend für Lemoine, dass ihn ausgerechnet die Zufälligkeit der Beleidigung am stärksten gegen den pinseligen Schnösel einnahm.
Er warf einen Blick auf sein Handy. Kein Netz. Aber immerhin die genaue Uhrzeit. Mit dem Aktenkoffer unter dem Arm verließ er eilig den Raum. Roger Lemoines Sinn für Pünktlichkeit übertrumpfte seine pedantische Auffassung von Ordnung bei Weitem. Ebenso wie diese entsprang sie seinem elementaren Bedürfnis nach Kontrolle. Er musste der Erste sein, seine Position einnehmen, wie eine Spinne, die in ihrem Netz sitzt und auf unachtsame Beute lauert.
In Barstowe Castle, insbesondere seiner Bibliothek herrschte kein Mangel an versteckten Winkeln. Der hochlehnige Sessel vor dem Kamin, mit dem Rücken zum Zimmer, war eine ausgezeichnete Wahl. Dort blieb er unbemerkt, während der pompös gerahmte Spiegel neben der in Öl konservierten Dame des Hauses einen Blick in die Tiefe des Raumes gewährte.
Mit dem letzten Gongschlag des Lords antiker Breguet betrat Ione Vassiliou die Bibliothek. Sie erschien auf die Minute. Dennoch zeigte sie keine Irritation über die leeren Stühle am Tisch, sondern schritt zielstrebig zum Servierwagen, um sich ein Glas Portwein zu genehmigen.
Während die Prima Scientia ihren Drink genoss, weideten sich Lemoines Augen an den fraulichen Kurven, dem schimmernden Haar, den akkurat manikürten Nägeln und ihrer geschmackvollen Garderobe. Ione Vassiliou war nicht nur die einzige Frau in der Geschichte des Concilliums, die je einem Flügel vorstand, sie war auch die jüngste Prima Scientia, die es bisher gegeben hatte. Ihre Karriere am INAF von Triest führte schnurgerade in die Führungsetage. In ihrer Person vereinigten sich makellose Schönheit und messerscharfer Verstand zum Inbegriff der Perfektion. Doch ein Blick in die Fischaugen der Griechin genügte, jedwedes Verlangen in Lemoine zu ersticken. Auf ihn wirkte Vassilious Gegenwart nicht erotischer, als die Barstowes oder des gemieteten Butlers.
Nach ihr betrat Aeberli gefolgt vom Hausherrn den Raum. Der gewohnten, militärisch knappen Begrüßung und der formellen Entschuldigung für seine Verspätung folgte kein Smalltalk. Er suchte den Platz des Praetor Conventus auf, verteilte seine Unterlagen auf dem Tisch und vertiefte sich in das Protokoll der letzten Sitzung, während sich der pinselige Schnösel in Konversation versuchte, die Vassiliou mit leerem Lächeln höflich ertrug.
Obwohl er das akademische Viertel weit über Gebühr strapaziert hatte, betrat der hochgewachsene Primus Pecunae, mit selbstbewusstem Blick, grußlos und ohne Rechtfertigung für seine Verspätung den Raum. Er setzte sich zu Aeberlis Rechten und reklamierte den freien Stuhl neben sich für seine protzige Smythson. Zuletzt verkündete Hughes so formvollendet, wie man es von einem gemieteten Butler erwarten konnte, die Ankunft des Primus Nobilis mit all seinen Namen und Titeln. Don Fernando de la Cruz del Castillo, Marquez de la Luz Dorada y Conde de las Mareas del Sur betrat Lord Barstowes Bibliothek mit einer Grandezza, die dem Mitglied jedes Königshauses zur Ehre gereicht hätte. Doch sein Lächeln war echt und er begrüßte die anderen Teilnehmer mit Höflichkeit. Aeberli komplimentierte den Hausherrn vor die Tür und alle setzten sich. Niemand zeigte sich verwundert, über Lemoines unverhoffte Anwesenheit. Er tauchte aus dem Sessel auf, grüßte kurz und wurde sogleich wieder vergessen.
Ohne Eile nahm er seinen Platz am Kopfende des Konferenztisches vor der altersschwachen Fensterfront ein, den ihm nie jemand streitig machen würde. Denn für die typischen Sommer im schottischen Hochland bildeten die zugigen Fenster in Lemoines Rücken kein Hindernis. Mit der Zeit durchweichte die klamme Luft stets sein Sakko, und an besonders kalten Tagen durchdrang sie ihn gar bis ins Mark. Doch im Gegenlicht verschwamm seine Mimik zu nebligtrübem Einerlei. Dieser Vorteil war ihm die Unannehmlichkeit wert.
Der neue Praetor Conventus eröffnete das dritte Trialogon des Jahres. Mit der Präzision eines Schweizer Uhrwerks und unbeeindruckt von der Verspätung arbeitete sich Aeberli durch das Protokoll. Zufrieden lehnte sich Lemoine im Stuhl zurück. Dass der Custodes Silenti immer der letzte Punkt der Tagesordnung war, gab ihm Gelegenheit, die Primi zu studieren, und dies empfand er mehr als Passion denn als Beruf.
Im Augenblick führte der Niederländer das Wort. Seine Litanei aus Zahlen, Renditen, Wachstumsraten, Liquiditätsreserven, strategischen Allokationen, Tabellen und Kurven komponierten sich zu einer eintönig rauschenden Hintergrundmusik, die Lemoine an White Noise erinnerte. Amüsiert beobachtete er, wie Vassiliou ihr Gähnen unterdrückte und Aeberli die Sanduhr nicht aus den Augen ließ, stets mit einer Hand am Glöckchen.
Ein verirrter Sonnenstrahl fand die einzige Lücke im Schmutz auf der Fensterscheibe und fokussierte seinen Blick auf Don Fernandos Kopf. Das Licht verlieh dem dichten Haar des Primus Nobilis tiefblauen Schimmer, ähnlich dem schillernden Glanz von Schmeißfliegen. Auch der feine schwarze Flaum auf den Handrücken und Fingern, die Beweglichkeit seines zierlichen kleinen Körpers erinnerten an eine schwirrende Fliege mit kratzig behaarten Beinchen. Doch immerhin verfügte der Grande über den Verstand und ausreichend Geschäftssinn, van Leeuwens Ausführungen mit ehrlichem Interesse zu folgen, was Lemoine keineswegs entging.
Kühl, präzise und mit der Geschwindigkeit einer automatischen Waffe ratterte Vassiliou den Bericht des wissenschaftlichen Flügels herunter. Methanmessungen in Lappland, epistemische Integrität, retrospektive Simulation verklumpten in den Ohren des Silentors zu einer weiteren Strophe Fahrstuhlmusik. Seine Gedanken drifteten durch den Raum …
„…und zuletzt ein Hinweis auf genetische Abweichungen in historischen Proben, entdeckt im Rahmen der Immunprofil-Rekonstruktion. Die Daten sind noch unscharf, aber es zeigen sich stabile Marker außerhalb der bekannten Referenzbereiche.“
Ein Satz, der Lemoines abschweifende Gedanken augenblicklich einfing. Vassiliou endete und sah von ihrem iPad auf. Ihre Blicke trafen sich mit der Intensität eines frischverliebten Paares. Auf dem Gesicht der Prima Scientia zeichnete sich Verwirrung über sein offenkundiges Feuer. Rasch fixierte Lemoine einen Punkt in Vassilious Rücken. Er gähnte und ihr Blick wurde zu Asche. Das leise Bedauern seiner vorübergehenden Unaufmerksamkeit verging schnell. Er kannte die Passion des Fischauges für ihre Arbeit. Es dürfte nicht schwer sein, dieses Thema erneut aufzugreifen.
Don Fernando holte den Zeitverlust wieder auf. Der Primus Nobilis schwafelte von Diplomatie, Mainstream und Narrative, als spräche er nur, um überhaupt etwas zu sagen. In Anbetracht seiner erheblichen politischen Macht und Finanzstärke schien dieser Beitrag in Lemoines Augen nahezu ohne Substanz. Doch er traute dem Granden genug Verstand zu, das Concillium mit Phrasen zu verwirren, um unterdessen seine eigenen Ziele zu verfolgen. Das, jedenfalls, wäre seine, des Silentors Strategie.
„Nun zum letzten Punkt der heutigen Tagesordnung.“, sagte Aeberli.
Seine klaren blauen Augen suchten die Reihe ab, bis sie an Lemoines Allerweltsgesicht hängen blieben. Er grüßte kurz, als bemerkte er die Anwesenheit des Mannes am anderen Ende des Tisches erst jetzt.
„Der Bericht des Custodes Silenti“, fuhr er fort und stellte die Sanduhr auf den Kopf.
„Bezug nehmend auf den Beschluss zum Datenleck im Bereich Finanzen und strategische Planung vom 7. April diesen Jahres: Das vereinbarte Scheingeschäft wurde gezielt platziert. Die Zugriffsspuren auf diese Daten überführten eine Mitarbeiterin in Frankfurt. Die Person wurde umgehend entfernt.“
Van Leeuven quittierte Lemoines Ausführungen mit einem zufriedenen Lächeln. Der Silentor schaute fragend in die Runde. Doch es gab weder Fragen noch Anmerkungen.
„Betreffend der geplanten Besetzung Leiter/Leiterin interne Koordination strategischer Projekte: Die Überprüfung der Bewerber ergab keine Einwendungen. Die Personalabteilung des Fachbereichs kann frei entscheiden.“, fuhr er fort.
In seiner Aufzählung diverser automatischer Alarme der Stufe rot, die sich alle unbegründet erwiesen, versteckte er in einem nichtssagenden Strom Alert-IDs jenes von Saint Angelo.
„Event-ID 060200-A?“, vergewisserte sich Aeberli.
Lemoine stoppte.
Der Praetor blinzelte angestrengt über den Rand der Lesebrille, ein vergeblicher Versuch in den unscharfen Zügen seines Gegenüber zu lesen.
„Richtig.“, antwortete der Silentor.
„Gab es da nicht eine Exekution?“, hakte der Schweizer nach.
„Dazu wäre ich noch gekommen.“
„Eine Exekution?“, fragte Vassiliou und scrollte auf ihrem iPad.
„Darüber finde ich nichts.“
Lemoine zuckte die Schultern.
„Inzwischen ist es ohne Belang, wie gesagt, die betreffende Person wurde … beseitigt. Es ist nur ein weiteres Protokoll, dass in der Akte von Stanca verschwindet.“
„Das hörten wir schon einmal.“, warf van Leeuwen ein.
Die Augen des Silentors verhakten sich am träge rieselnden Sand der Uhr.
„Heikle Angelegenheiten neigen gelegentlich zu … Komplikationen.“, räumte er scheinbar zerknirscht ein.
„In diesem Fall sollte, nein darf es keine geben!“, sagte der Primus Pecunae scharf.
„Werfen Sie mir die Versäumnisse meines Vorgängers vor?“, fragte Lemoine mit unschuldigem Augenaufschlag.
Aeberlis glatt rasierte Wangen färbten sich rosig. Er schob die Sanduhr in die Mitte des Tisches. Seine Blicke spielten mit van Leeuwen und dem Silentor Pingpong.
„Warum? Was ist so Besonderes daran?“, erkundigte sich Vassiliou von der Seitenlinie.
„Das Concillium entschied bereits vor fünfzehn Jahren über diese Angelegenheit.“, antwortete die spanische Fliege.
„Welche Angelegenheit? Was ist Stanca?“
Vassiliou blieb hartnäckig.
„Wir entschieden über die endgültige Lösung für ein Problem. Es wurde erledigt. Ich stimme dem Silentor zu, die Sache ad Acta zu legen.“, sagte Don Fernando.
Sie schaute fragend zu Lemoine.
„Es handelt sich um ein uraltes Geheimnis mit einem gewissen Potential. Seine Bewahrer erwiesen sich jedoch als äußerst … widerstandsfähig. Trotz massiver Bemühungen gelang es dem Concillium nicht, in seinen Besitz zu kommen oder seine Bedeutung zu ergründen.“
„Und weiter?“
„Auf Grund der Erfolglosigkeit und der nicht kalkulierbaren Risiken wurde beschlossen, dieses Ziel aufzugeben und alles, wirklich alles unter einer dicken Schicht Schlamm zu begraben.“
„Und Saint Angelo…?“
„War laut ihrer DNA eine Überlebende.“, beendete Lemoine Vassilious Satz.
„Die es nicht geben dürfte!“, sagte van Leeuwen scharf.
„Die dringlichere Frage ist doch, ob es Weitere gibt.“ , meinte Aeberli.
„Richtig. Und aus diesem Grund entschied ich bereits bei der Übernahme meines Postens, alle Recherchedatenbanken für DNA Analysen durch unsere KI überwachen zu lassen. Ich versichere ihnen, es existiert keine Gefahr. Die Bedrohung wurde erkannt und eliminiert.“
Lemoine rutschte auf dem Sitz zur vorderen Kante. Seine Arme stützen sich schwer auf den Tisch. Alle Augen ruhten auf ihm. Er fand Gefallen daran und geriet in Spiellaune.
„Bei mir …“
Er brach ab.
„In den Händen des Custodes Silenti befindet sich das Concillium in Sicherheit.“, verbesserte er sich und lächelte fein.
„Die Maßnahme ist vollständig beendet?“, schob Aeberli nach.
„Ja. Das Untersuchungsergebnis lautet auf Unfalltod ohne Fremdverschulden. Am Samstag wird Saint Angelo beerdigt.“
„Aber was genau war Gegenstand dieses alten Geheimnisses? Warum sterben immer noch Menschen deswegen?“
Vassilious Hartnäckigkeit suchte seines Gleichen.
„Haben Sie nicht zugehört? Wir wissen nichts Genaues!“
Der Niederländer schüttelte seinen Kopf.
„Womöglich ist es an der Zeit, diesen unmöglichen Zustand zu beenden?!“
„Ich finde nicht, dass wir daran rühren sollten.“
Don Fernando stieg zu van Leeuwen in den Ring.
„Oh, aber ich finde, dass wir das unbedingt tun sollten!“, rief die Prima Scientia kämpferisch.
„Es ist möglich, den damaligen Beschluss in das aktuelle Protokoll aufzunehmen und erneut zu diskutieren.“, schlug Aeberli vor.
„Nein!“
„Darüber entscheidet nicht der Primus Pecunae!“, wandte Vassiliou ein.
Sie stimmten ab. Natürlich blieb die Akte Stanca im Archiv und die Toten in ihren Gräbern. Lemoine hatte nichts anderes erwartet. Dennoch erfüllte ihn das Ergebnis in jeder Hinsicht mit Zufriedenheit. Denn die Primi agierten, wie er es vorhersah. Die gemeinsame Blockade der mächtigsten Flügel trieb Vassiliou in seine Arme und das Desinteresse, oder war es Furcht (?) vor der Stanca Akte, erlaubte ihm, in eigener Sache unter dem Radar des Concilliums zu fliegen.
„Wie dumm, unglaublich dumm…“, murmelte die Prima Scientia, nachdem Aeberli das Ergebnis der Abstimmung verkündete.
Sie spürte Lemoines Blick auf ihrem Gesicht. Sobald er Vassilious Aufmerksamkeit hatte, nickte er still. Die Pupillen ihrer Fischaugen verengten sich zu Stecknadeln.
Das letzte Körnchen Sand fiel.