Schöpferische Wut oder: Ein Wochenende im Grünen

Eine meiner Freundinnen schwankt aktuell zwischen Liebeskummer und Rachegedanken. Sie kam dahinter, dass ihr Mann sie betrügt.
Um ihr dennoch zwischen den Tränen einen Schmunzler zu entlocken, schrieb ich diesen Text für sie:

Bertram suchte im Rückspiegel noch ein letztes Mal Gesicht und Jackenkragen nach verräterischen Spuren ab. Nichts. Alles in Ordnung. Er grinste in Gedanken an das hinter ihm liegende Wochenende und schnalzte genüsslich mit der Zunge, während die Erinnerung ein angenehmes Prickeln in ihm auslöste. Dann ging er zum Kofferraum, holte die Reisetasche, sein Angelzeug und den Fisch heraus und ging fröhlich pfeifend zum Haus. Plötzlich hielt er inne, lief schnell zum Wagen zurück, öffnete nochmals den Kofferraum, riss die Tüte mit dem Fisch auf und warf die beiden toten Barsche in den Eimer. Die Tüte samt Kassenzettel vergrub er in der Mülltonne neben der Garage. So genau würde Lilly schon nicht hinschauen.
„Schatz, ich bin wieder zurück“, rief er aus der Diele ins Haus hinein, während er sich seiner Anglerklamotten entledigte. „Die Ausbeute war nicht besonders groß, aber du kannst uns zwei wunderbare Barsche braten. Am besten, du stellst schon mal den Wein kalt!“
Keine Reaktion.
Bertram horchte in die Stille und schaute dann auf seine Uhr.
Sonntag, 17:00 Uhr. Wo war Lilly? Hatte sie sich hingelegt? Oder war sie vielleicht gar nicht da? Doch wo sollte sie schon sein? Sie wusste ja schließlich, dass er jetzt nach Hause kam. Ach was, wahrscheinlich saß sie in ihrem Zimmer wieder über irgendeinem Buch und vergaß die Welt um sich herum. Sicherheitshalber rief er noch einmal nach ihr, doch als sich wieder nichts rührte, entschloss er sich, erst einmal in die Wanne zu steigen. So konnte er sicher sein, dass Lilly nicht statt des erwarteten Fischgeruchs ein fremdes Parfüm erschnupperte. Seine Frau würde ihm in dieser Zeit schon nicht davon laufen.
Außerdem mochte sie es nicht, mitten in einer spannenden Lektüre gestört zu werden.
Während er die Fische in die Küche brachte und sich ein Bier öffnen wollte, fiel ihm die perfekte Ordnung und Sauberkeit im Raum auf. Das war für seine Frau eher ungewöhnlich. Normalerweise stand immer irgendetwas herum. Lilly behauptete von sich selbst, keine besonders gute Hausfrau zu sein, was nicht stimmte. Sie konnte perfekt kochen und backen, hatte das Haus stimmig eingerichtet und dekoriert, achtete darauf, dass Bad und Gästetoilette immer picobello waren. Nur mit dem Aufräumen und Putzen der anderen Räumlichkeiten hatte sie es nicht so. Da war sie ein wenig - nun ja, nicht direkt schlampig, aber nachlässig, vor allem in der Küche. Doch gerade die zeigte sich heute wie aus dem Ei gepellt. Vielleicht hatte Lilly ja während seiner Abwesenheit Langeweile gehabt und zur Abwechslung mal Hausfrau gespielt. Bertram zuckte mit den Schultern. Ihm sollte es recht sein.
Schwungvoll begab er sich zum Bad, öffnete die Tür und - prallte zurück.
Die Wanne war besetzt. Zwei lebende Karpfen schwammen munter hin und her und glotzten ihn mit blöden Augen an. Vor der Wanne stand ein Campingstuhl. An diesen lehnte sich eine einfache Angel und daneben stand ein Eimer mit drei Flaschen Bier in - wahrscheinlich kaltem - Wasser. Statt der üblichen Fußbodenfliesen sah er zu seinen Füßen nur zentimeterhohen Sand. Das gesamte Badezimmer war mit feinem Sand zugeschüttet. Bertram rieb sich die Augen.
Dann fiel sein Blick auf den Spiegel rechts neben sich. „Petri Heil!“, stand da in Lippenstiftrot. Daneben klebte ein Zettel mit ausgestrecktem Mittelfinger. Was war das für ein saublöder Scherz?!
„Lilly!“ Bertrams Stimme donnerte durch das Haus. „Lillyyyy!“
Keine Reaktion. Also stürzte er Richtung Wohnzimmer, wo er seine Frau über
einem Buch vermutete. Wahrscheinlich lachte sie sich insgeheim ins Fäustchen, dass sie es wieder einmal geschafft hatte, ihn innerhalb von zehn Sekunden auf die Palme zu bringen. Ihre Art von Humor war manchmal wirklich grenzwertig. Doch diesmal ging sie eindeutig zu weit, viel zu weit! Sie würde
diese Sauerei sofort beseitigen. Dafür würde er sorgen. Sofort!
Die Wohnzimmertür ging schwerer auf als sonst. Doch Bertrams Adrenalinspiegel war viel zu hoch, um jetzt solchen Kleinigkeiten seine Aufmerksamkeit zu widmen. Er wollte seine Frau zur Rede stellen, alles andere … Ungläubig schaute er auf das Bild, das sich ihm im Wohnzimmer bot.
Der Teppich war grün. Und nicht nur das: Er lebte. Überall da, wo keine Möbelstücke standen,
sprossen aus dem beigen Teppichboden kleine grüne Pflänzchen. Bertram beugte sich herunter und schaute sich das Ganze näher an. Kresse. Auf seinem offensichtlich gut befeuchteten Wohnzimmerteppich wuchs Kresse und er hatte keine Ahnung, warum. Von seiner Frau war weit und breit keine Spur.
Weshalb hatte sie das getan? Zumindest ging er davon aus, dass sie das getan hatte. Wer sonst sollte einen Grund hierfür haben? Andererseits - welchen Grund sollte sie haben? Wo, verdammt nochmal, steckte sie bloß? Und wie sahen wohl die anderen Räume aus?
Mitten in seine Überlegungen hinein zwitscherte es.
Es zwitscherte?
Er hielt die Luft an und horchte. Tatsächlich, es zwitscherte. Auf Zehenspitzen ging er
dem Geräusch nach. Es kam aus dem Schlafzimmer. Er öffnete vorsichtig die
Tür und sofort sauste etwas an seinem Kopf vorbei. Was war das? Wwwusch! Wieder flog etwas vorbei und streifte sein Ohr. Er drehte sich um und sah einen Vogel durch die Diele flattern. Ein zweiter hockte auf der Hutablage der Garderobe. In der Hoffnung, dass die Vögel möglichst schnell das Weite suchten, stieg Bertram über das im Raum großzügig ausgestreute Vogelfutter, verdrehte angesichts der von unzähligen weißen Klecksen verzierten Tagesdecke auf dem Bett die Augen und öffnete das Fenster.
Jetzt bewegte er sich etwas vorsichtiger durch die Wohnung. Wer weiß, welche Überraschungen noch lauerten. Doch der Blick in sein Arbeitszimmer beruhigte ihn wieder. Alles noch so, wie er es verlassen hatte.
Moment. Nicht ganz so.
Auf seinem Schreibtisch lag ein Umschlag. Er riss ihn auf und heraus fielen ein
Dutzend Fotos: Bertram küsste Veronika. Bertram umarmt Lisa. Silvana kuschelt sich im Bett an Bertram und - oh Gott! - Annekathrin vergräbt ihren Kopf in seinem nackten Schoß. Jedes Foto zeigt ihn in eindeutiger Pose mit jeweils einer anderen Frau. Jetzt kannte er den Grund für diese Aktion hier.
Nachdem er sich vom ersten Schrecken erholt hatte, überlegte er, wie er jetzt am besten reagieren könnte. Sollte er die Flucht nach vorn antreten und sich lauthals über ihr kindisches Verhalten aufregen? Sollte er zerknirscht Bad, Wohnzimmer und Schlafzimmer in Ordnung bringen, darauf warten, dass sie ihn auf seine Seitensprünge ansprach, und ihr dann erklären, dass das alles
nichts mit ihr zu tun hat und ganz sicher nicht wieder vorkommt? Oder sollte er besser jetzt gleich in ihr Zimmer gehen, sich entschuldigen und ihr vielleicht eine Eheberatung vorschlagen?
Da Lilly zu den Frauen gehörte, die Psychologie und Psychotherapien gegenüber sehr aufgeschlossen sind, entschied er sich für Letzteres und trottete gesenkten Hauptes zu ihrem Zimmer in Erwartung einer heftigen Auseinandersetzung. Schuldbewusst klopfte er an. Keine Reaktion.
„Lilly, kann ich hereinkommen?“
Nichts. Nochmaliges Klopfen, diesmal etwas lauter.
„Lilly bitte! Wir müssen reden. Lass mich dir erklären!“
Wieder nichts.
Ob sie schlief? Hatte sie sich vielleicht sogar etwas angetan? Dieser letzte Gedanke ergriff mit solcher Wucht von ihm Besitz, dass er panisch die Tür aufstieß und seiner Frau unter allen Umständen das Leben retten wollte. Doch das Bild, das sich ihm in diesem Raum bot, entsetzte ihn mehr als alles, was sich Lilly zu seiner Begrüßung hatte einfallen lassen. Weder lag sie heulend auf ihrem Bett noch sterbend auf dem Teppich. Sie war gar nicht da. Und mit ihr war auch alles andere aus diesem Raum verschwunden. Keines ihrer Bücher, kein einziges Möbelstück, nicht einmal die Deckenlampe war noch vorhanden. Statt dessen hatte sie ihm eine Botschaft an die Wände gesprüht:
„Du wolltest das Wochenende im Grünen verbringen, beim Zwitschern der Vögel von deiner Arbeit entspannen und beim Angeln Stress abbauen. Sicher bist du nicht dazu gekommen. Ich hab‘s dir deshalb hier gemütlich gemacht.“
Scheiße!

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Wunderbar. Mit dieser Geschichte hast du mir eindeutig den Montag gerettet.

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Ich hätte nur eine Frage dazu: Wie lange war er weg zum (angeblichen) Angeln? Nur das Wochenende? Dann hätte die Zeit nicht gereicht, die Kresse vollständig wachsen zu lassen. Sie braucht zum Keimen ca. 2 Tage und zum Wachsen eine knappe Woche …

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Ja, Pamina, da hast du mich erwischt. Ich hatte bissel gezweifelt, ob das zeitlich hinhauen kann, fand jedoch die Vorstellung witzig und hatte meine Freundin mit ihrem Kummer im Blick, weshalb ich da nicht recherchiert habe. Für eine wirkliche Veröffentlichung würde ich ihn in diesem Fall mit seinen Kumpels in einen einwöchigen Anglerurlaub schicken - jetzt, wo du mich über Kresse aufgeklärt hast. :smile: Danke!

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Du hast deiner Freundin mit dieser tollen Geschichte sicherlich den Kummer etwas nehmen können, zumindest für einen Moment. Schön geschrieben. Hebt sich von der Masse ab. Traurig ist lediglich der Hintergrund der Geschichte.

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