1 Wo Träume Gestalt annehmen
Pitt saß vornübergebeugt an seinem Schreibtisch, den Kopf auf die Hände gestützt. Seit Stunden brütete er über diesem Wälzer, blätterte Seiten hin und her, nichts blieb hängen. Was war nur los mit ihm? Er seufzte tief. Alles war so trostlos, selbst der Blick aus dem Fenster. Es regnete leicht, der Himmel war grau, die Fassade gegenüber war grau, seine Stimmung auch, sie entsprach dem Wetter, ein ausgedehntes Tief herrschte vor, alles grau, grau wie grauenhaft. Am liebsten hätte er sich fallen lassen, durch alle Zwischengeschosse hinab bis in den tiefen Keller, um sich dort zu verkriechen und die Welt Welt sein zu lassen. Vor allem die Wirtschaft, die konnte ihm gestohlen bleiben, wie hatte er sich nur für dieses Fach entscheiden können?
Der Klingelton seines Handys unterbrach seine düsteren Gedanken. Auch das noch, seine Mutter erwartete den monatlichen Rapport. Er unterdrückte den Anruf, er würde sich später melden, am Abend oder so. Daran führte kein Weg vorbei, seine finanzielle Unterstützung hing davon ab. Dass er seinen Eltern auf der Tasche lag, war ihm alles andere als angenehm. Sie waren nicht auf Rosen gebettet, sein Vater konnte sich mit seinem Buchhaltergehalt kaum das Reiheneinfamilienhaus leisten, um die Haushaltskasse aufzubessern, arbeitete seine Mutter Teilzeit. Sie hatten sich gefreut, als er sein Abitur mit Bravour bestanden hatte, und waren gerne bereit gewesen, sein Studium zu finanzieren. Dafür zählten sie darauf, dass er etwas aus sich machen würde. Diesen Erwartungen nachzukommen, war beengend. In ihm kam das Gefühl auf, weggesperrt zu sein, in einer Zwangsjacke zu stecken, nicht ausbrechen zu können aus dem Hamsterrad.
Bei der Wahl seines Studienfachs war er unentschlossen. Sein Vater hatte ihn gedrängt, Wirtschaft zu studieren. Das sei nach wie vor der richtige Weg, hatte er ihm eingeschärft. In vielen Unternehmen sei es die notwendige Eintrittskarte für den Aufstieg. In den Broschüren, die er im Sekretariat der Universität bezogen hatte, war hochgestochen von zukünftigen Entscheidungsträgern die Rede, die enormen Einfluss auf das Weltgeschehen nehmen könnten. Das hatte einen gewissen Reiz auf ihn ausgeübt – wer wollte nicht zu diesen Weltenlenkern gehören? In diesen Sphären, so glaubte er, könne man dazu beitragen, die Welt zu einem besseren Ort zu machen.
Doch je länger er in seinem stillen Kämmerlein saß und den Stoff paukte, desto mehr Zweifel kamen in ihm auf. Lag es daran, dass Wirtschaftsgeschichte nicht sein Ding war? Darin wurde das Geschehen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft analysiert, hübsche Theorien geboren und Vorhersagen getroffen, die meist wirkungslos für die Realwirtschaft verpufften. Seit er sich ins Studium vertieft hatte, waren für ihn so hochtrabende Begriffe wie Konjunkturzyklus, Nachfrageelastizität, Ökonometrie, Keynesianismus versus Monetarismus, nichts als leere Worthülsen, nichts, was man greifen oder festhalten konnte. Das Ganze kam ihm vor wie ein Gedankenspiel, mit der Realität hatte das wenig zu tun. Wie sonst war es zu erklären, dass die aktuellen Schwierigkeiten, die Kernprobleme der Märkte, von keinem namhaften Modell vorhergesagt worden waren? Wo blieb die Gretchenfrage nach der Tauglichkeit, wie sie einer wissenschaftlichen Disziplin zugrunde liegen sollte?
Was aber, wenn er sein Studium einer Pseudowissenschaft widmete, die nichts als Augenwischerei und Scharlatanerie war? Er wusste, dass dies ketzerische Gedanken waren, seiner Konzentration nicht förderlich, aber sie gingen ihm nicht aus dem Kopf. Jedenfalls würde er sich am liebsten einen schönen Lenz machen, faulenzend den Tag verbringen, sich treiben lassen, oder noch besser, aus sich heraustreten, seine selbst gemachte Unfreiheit hinter sich lassen und seinen Mann stehen.
Eine Freundin finden, wäre ebenfalls schön, damit plagte er sich seit Langem herum. Doch Frauen waren ihm ein Rätsel, das er immer noch nicht geknackt hatte. Er hatte keinen blassen Schimmer, was in ihnen vorging. Was erwarteten sie, wofür interessierten sie sich? Sicher nicht für schnöde Wirtschaftsthemen. Wo sonst sollte er ansetzen, ihm fiel nichts ein. Deshalb traute er sich nicht, eine Frau anzusprechen, die ihm gefiel. Einzig in den raren Ausgängen in vertrauter Umgebung wagte er es hin und wieder, auf eine Kollegin zuzugehen. Sobald es aber nicht mehr um ihr Studienthema ging, geriert er ins Stottern. Worauf sich die Angesprochene bald von ihm ab- und einem seiner Kollegen zuwendete. Marc, sein Studienfreund, der Wirtschaftsinformatik studierte, hatte keine Probleme mit Frauen. Öfters sah er ihn wieder mit einem neuen Schwarm herumspazieren. Pitt war nicht neidisch auf seine wechselnden Freundinnen, sondern auf seine Flirtkünste.
Pitt ließ seinen Kopf auf die auf dem Tisch verschränkten Arme sinken. Für einen Moment sah er nur schwarz. Wummernde Bässe einer Soundanlage drangen durch Wände und Boden, Urwaldtrommeln gleich, er geriet ins Träumen. Dabei malte er sich alles wunderbar aus. Auf Wildwechseln ging es durch die Savanne, wo riesige Tierherden grasten. Hoch auf dem Elefantenrücken durchs Gebüsch, zu seinen Füßen Löwen, ein Leopard faul auf einem Ast. Oder zu Fuß über Hängebrücken, unter sich ein schäumender Fluss, den Flusspferde und Krokodile unsicher machten. Über sich ein blauer Himmel, in dem Geier und andere Vögel ihre Kreise zogen. Sonnenuntergänge in freier Wildbahn, mit einem Drink in der Hand und einer schönen Frau im Arm. Nachts unheimliche Geräusche: das Schnauben der Nilpferde, Brüllen der Löwen, Kichern der Hyänen – Herzklopfen inklusive.
Jemand rüttelte ihn an der Schulter. »Pitt was ist los mit dir?«
Pitt sah mit verquollenen Augen auf, sein Verstand setzte wieder ein. »Ciao Marc!« Er war froh, ihn zu sehen, Marc gelang es immer, ihn aus seiner trübsinnigen Stimmung zu reißen und aufzuheitern. Doch diesmal würde es ihm schwerfallen, da war sich Pitt sicher.
„Wer hat dich reingelassen?“
»Paul. Er meinte, dass du wieder einmal auf Schneckenhaus machst. Mir scheint, dass du heute nicht den besten Tag hast?«
»Das kann man laut sagen, ich komme nicht voran und liege weit hinter meinem Zeitplan zurück. Allmählich glaube ich, dass ich den Erwartungen nicht genüge.«
»Wie kommst du denn darauf? Du hast bis jetzt dein Studium erfolgreich absolviert und Prüfung um Prüfung mit Bravour bestanden.«
»Das war einmal, doch nun stecke ich fest. Mir fehlt der Glaube an die Lehre, das macht es mir so schwer. Ich will mir gar nicht erst vorstellen, dass ich nach all den Jahren in einer Bank lande, Tag für Tag einem Job nachgehen muss, der mich anekelt. Das wäre so hoffnungslos, da würde ich mit jedem Jahr, das unnütz vergeht, einen Teil von mir verlieren.«
Er verbarg den Kopf wieder in seinen Händen.
»Komm schon, Alter, so dramatisch wird es doch nicht sein!«
Pitt blickte nicht auf, er verharrte in seiner Stellung. »Alt, ja so fühle ich mich, alt und zu nichts zu gebrauchen. Ich komme immer mehr zu dem Schluss, dass ich für ein Studium nicht geeignet bin. Viele ziehen an mir vorbei und werden umworben. Ich dagegen habe nichts zu bieten, bin nur ein Habenichts mit Langzeitstudium.«
»Mach mal halblang. Du stellst dein Licht gewaltig unter den Scheffel, von dir könnte sich mancher, der großspurig und selbstsicher auftritt, eine Scheibe abschneiden.«
Jetzt blickte Pitt zu Marc auf. »Findest du?«
»Klar, du steckst nur in einem inneren Konflikt, der dich lähmt. Es wird Zeit, dass du eine Pause einlegst, vielleicht eine Reise machst, die dir neue Impulse gibt.«
Pitt verwarf die Hände. »Das kann ich mir nicht leisten. Nur um über die Runden zu kommen, muss ich mich in der raren Freizeit mit Gelegenheitsjobs herumschlagen. Es kann doch nicht sein, dass ich das bisschen Geld, das ich auf dem Konto habe, verprasse, während meine Eltern alles zusammenkratzen, um mir das Studium zu ermöglichen. Heute Abend muss ich ihnen wieder einmal beichten, dass ich mein Pensum nicht erfüllt habe. Ich höre schon ihre Vorwürfe.«
Und wieder ließ Pitt den Kopf hängen.
»Kopf hoch, du machst dir nur das Leben schwer, so kann und darf es nicht weitergehen. Es ist höchste Zeit, dass du unter Leute kommst und vor allem, dass du eine freche Biene anlachst, eine, die dich aus deinem Schneckenhaus lockt. Deine Berührungsängste musst du sowieso überwinden, wie willst du sonst später im Beruf weiterkommen, wenn du nicht selbstbewusst auftreten kannst? Wag es, eine Frau anzusprechen, das wäre eine gute Übung für dich. Es kostet dich ja nichts, höchstens ein wenig Schamesröte, wenn du eine Abfuhr kassierst. Das bedeutet nicht das Ende der Welt. Und vielleicht findest du ja auch die Richtige, dann läuft alles wie von selbst.«
»Du hast gut reden. Noch so gerne würde ich die Nächte mit einer Freundin verbringen. Denn alles, was momentan mein Bett mit mir teilt, sind meine Lehrbücher. Leider bin ich viel zu schüchtern, um einfach in ein angesagtes Lokal zu gehen und jemanden anzusprechen. Was habe ich schon zu bieten?«
Jetzt wurde Marc resolut. »Genau das ist dein Problem, du hast nicht die richtige Einstellung. Du musst nicht alles hinterfragen. Du mit deinem Witz und Esprit, der reicht doch für zwei. Außerdem bist du groß, schlank und nicht allzu hässlich. Damit hast du alle Trümpfe auf deiner Seite. Ich glaube, es liegt an mir, dich aus deinem Dornröschenschlaf zu wecken, sonst sitzt du noch ewig untätig herum. Komm, wir gehen jetzt ins nächste Reisebüro, da werden wir schon etwas finden, das deinem Geldbeutel und deinen Wünschen entspricht. Die Semesterferien kommen wie gerufen, da hast du Zeit zur Genüge. Deinen Eltern können wir das auch verkaufen. Dir würde ein Ausbruch aus der Routine guttun und ungeahnte Energien freisetzen. Du hättest diesen Elan für das restliche vor dir liegende Studium bitternötig.«
»Aber bitte keine Ballermannferien in Mallorca, davor graust es mir.«
»Was schwebt dir denn vor?«
Pitt zierte sich ein wenig, dann rückte er damit heraus. »Am liebsten wären mir Abenteuerferien, die mich von meiner inneren Unruhe ablenken.«
»Gute Idee, keine Langeweile, ein bisschen Nervenkitzel, etwas Ferienflirt, und schon bist du wieder der Alte. Wo willst du denn hin?«
»Wovon ich schon lange träume, ist eine Safari in Afrika. Aber für so eine Reise fehlt mir das nötige Kleingeld.«
»Wirf nicht gleich die Flinte ins Korn. Klar, eine Safari in einer kleinen Gruppe oder gar eine Privatsafari musst du vergessen, aber vielleicht finden wir ein günstiges Angebot für eine geführte Rundreise in einer größeren Reisegruppe. Das wäre gar nicht so schlecht, du müsstest dich um nichts kümmern, alles wäre sicher und du hättest abends noch Gesprächspartner, um den Tag Revue passieren zu lassen. Geh mal zur Seite und schalte den Computer ein. Ich schau mal nach den Urlaubsschnäppchen.«
Pitt ließ ihn gewähren, er machte sich keine großen Hoffnungen. Er seufzte nur und schaute bedrückt aus dem Fenster.
Umso überraschter war er, als Marc freudig ausrief: »Ich hab’s, schau dir mal diese vielversprechende Seite an!«
Tatsächlich, unter »Last Minute, schonen Sie ihre Ferienkasse – Traumferien, wohin es auch geht, unbeschwert und unvergesslich!« wurden sie fündig.
Marc sah ihn erwartungsvoll an: »Du machst doch jetzt keinen Rückzieher, oder?«
Pitt fühlte sich nicht wohl in seiner Haut, eigentlich hatte er sich längst damit abgefunden, im alten, mühsamen Trott weiterzupauken und zu hoffen, dass die Prüfungen schon irgendwie über die Bühne gehen würden. Doch Pitt wusste, dass Marc das nicht gelten lassen würde. Sollte er? Der Preis würde seine knappe Kasse zwar über Gebühr strapazieren, aber wenn er bis zur Prüfung auf gewisse Extras verzichtete, würde es gerade noch so gehen.
»Na gut, ich wage es.«
2 Der Coup der Kommissarin
Typisch Chef, dachte Trix, sie durfte mal wieder die Suppe auslöffeln, während Curd eine ruhige Kugel schob! Er sei zu beschäftigt, er habe einen Berg unaufschiebbarer Fälle vor sich, die seiner höchstpersönlichen Aufmerksamkeit bedürften. Ha, der und beschäftigt, Elefantenkacke! Das hatte er doch nur vorgeschoben, weil er sich an diesem brisanten Fall nicht die Finger verbrennen wollte. Logisch, es macht sich nicht gut in der Biografie, wenn man einen Einsatz vermasselt, der im Rampenlicht der Öffentlichkeit steht. Und genau um einen solchen Fall handelte es sich: Wieder einmal waren unbeteiligte Passanten Opfer eines Bandenkrieges geworden. Mitten auf einem öffentlichen Platz waren sie zufällig in die Schusslinie geraten. Das hatte Aufsehen erregt, die Zeitungen hatten das ihre dazu beigetragen und die Empörungsmoral hochgekocht. Vergeltung wurde gefordert, die Verbrecher sollten hinter Schloss und Riegel gebracht werden.
Die Krux war, dass ihr Chef es längst aufgegeben hatte, einen widerwilligen Curd hinzuzuziehen, es brachte nichts, die ihm übertragenen Fälle verliefen meist im Sand. Was blieb ihrem Chef anderes übrig, als ihr den Ball zuzuspielen. Bei ihr konnte er sich darauf verlassen, dass sie nichts anbrennen ließ, ihre Erfolgsquote konnte sich sehen lassen. Deshalb landeten die heiklen Fälle immer bei ihr.
Entschlossen schob sie ihr Kinn vor, sie würde das schon deichseln, davon war sie überzeugt. Sie war am richtigen Ort, hier konnte sie etwas bewegen. Aber sie musste sich etwas einfallen lassen, um dieser Bande beizukommen. Sie wollte sich nicht von aufgebrachten Wutbürgern vor sich hertreiben lassen. Die Bandenmitglieder ausfindig zu machen und zu verhaften, genügte ihr nicht. Das waren nur die kleinen Fische, die nicht in die Feinheiten der Geschäfte eingeweiht waren, aber umso brutaler vorgingen. Sie wunderte das nicht, denn derartige Handlanger wurden meist aus der Gosse rekrutiert. Die nahmen keine Rücksicht auf Verluste, sonst hätten sie nicht so lange überlebt.
Trix konnte das verstehen. Auch sie war durch eine harte Schule gegangen. Als ein Kind von Eltern unterschiedlicher Hautfarbe stand sie zwischen den Fronten. Die Weißen blickten auf sie herab, für die Schwarzen war sie aufgrund fehlender Stammesbindungen eine Außenseiterin. Doch sie hatte sich nicht unterkriegen lassen. Ihr kam zugute, dass sie intelligent genug war und ihre Eltern sich eine Privatschule für sie leisten konnten. Der größte Teil der Kinder hingegen war nicht so privilegiert. Ständig las Trix in den Zeitungen über die Jugendarbeitslosigkeit. Es war eine tickende Zeitbombe in Südafrika: Rund die Hälfte der 18- bis 34-Jährigen war arbeitslos. Ohne Arbeit hatten sie kein Einkommen und mussten sich irgendwie durchschlagen.
Umso schuldiger, fand sie, machten sich die Drahtzieher, wenn sie diese Situation ausnutzten und nicht davor zurückschreckten, brutale und rücksichtslose Ganoven für ihre Zwecke einzusetzen. Zornesfalten zeichneten sich auf ihrer Stirn ab. Sie wollte diesen Hintermännern das Handwerk legen, ihnen einen Schlag versetzen, den sie nicht so schnell verdauen würden.