Kann mir jemand sagen, wie Psychiatrien in den 70er Jahren genannt wurden? Ich kann mich nicht erinnern, Psychiatrie jedenfalls nicht.
Irrenhaus, Irrenanstalt, Narrenhaus fallen mir da spontan ein, ob das in den 70ern noch politisch korrekt war, weiß ich aber nicht.
Nervenheilanstalt würde mir einfallen.
Irrenanstalt usw. sind Begriffe aus dem 19. Jahrhundert. Später „Nervenheilanstalt“ usw. - in den 70ern war der Begriff psychiatrische Klinik/Abteilung längst etabliert (habe in den 80ern als Student in einer psychiatrischen Uniklinik gearbeitet). Allenfalls im „Volksmund“ halten sich abwertende Bezeichnungen wie Irrenhaus, Klapsmühle usw.
Sollte nicht der volksmündische Begriff sein, sondern der offizielle. Ich bin mir sicher, dass bei uns (mein Protagonist stammt vom Mittelrhein wie ich auch) in den 70ern noch keine psychiatrische Klinik gab. Nervenheilanstalt passt da schon eher.
@donald313
Kennst du dich zufällig mit der Insulinschocktherapie aus? Die hat es in den 80ern ja nicht mehr gegeben, wurde aber erst Ende der 70er ganz abgeschafft. Ich würde gerne wissen, wie das Mitte der 70er war, als das auslief. Wie oft sie da noch angewendet wurde. Grausam, was man Menschen alles angetan hat.
Mein Roman hat Diabetes zum Thema, daher passt das da rein.
Ich meine mich zu erinnern, dass man damals (vornehm ausgedrückt) auch neurologische Klinik gesagt hat
Jo, da klingelt was bei mir - danke! Nervenheilanstalt war wohl eher noch früher.
@Lea: um welchen Diabetes geht es (1 oder 2?) Die Insulinschocktherapie hat man u.a. bei schweren Depressionen praktiziert - so verkehrt war der Gedanke übrigens nicht, auch wenn die Ergebnisse und Nebenwirkungen dazu geführt haben, dass man sich davon verabschiedet hat. Die Elektrokrampftherapie mit ähnlicher Zielsetzung hatte und hat dagegen immer noch ihren Stellenwert, auch wenn sich das für Laien brutal anhört. Betroffene berichten darüber ganz anders (etwa der weltberühmte Pianist Vladimir Horowitz, der ohne EKT nicht mehr hätte auftreten können).
Insulinschocktherapie hat mit Diabetes direkt nichts zu tun. In welchem Zusammenhang steht das bei Dir?
Neurologie und Psychiatrie haben Schnittmengen, sind aber nicht das Gleiche.
Aber der Facharzttitel war (zumindest weiss ich das von Österreich) bis Anfang der 2000er Jahre nicht getrennt („FA für Neurologie und Psychiatrie“ bzw. „Nervenheilkunde“), deshlab könnte das hinkommen mit den neurologischen Kliniken.
@donald313 Es geht weder um 1 noch um 2, sondern allgemein um Diabetes in Verbindung mit Medikamentenversuchen bei Kindern, die bis 1975 nicht explizit verboten waren.
Ja, das ist richtig! Früher gab es den FA für Neurologie und Psychiatrie - heute ist das getrennt.
Uff, das ist starker Tobak, was Du Dir da vorgenommen hast. Hochinteressantes Thema. Unfassbar, was da getan wurde - angefangen schon in der NS-Zeit, in der DDR hat sich da m.W. auch einiges ereignet. Heute werden Versuche offenbar mitunter in Entwicklungsländer „ausgelagert“, da kamen immer mal wieder Fälle ans Licht.
Gerade im Ärzteblatt mal online geschaut und im Archiv gestöbert. Ein Aufsatz aus dem Feuilleton. Wusste gar nicht, dass da früher auch Prosa und Gedichte einen Raum hatten.
Eine Spritze zu früh
Wink, C. A. S.
Dtsch Arztebl 1979; 76(25): A-1726
Deutlich vor meiner Zeit, aber es gibt dort einige Aufsätze zu dem Thema, auch um ein Gefühl zu bekommen für die Nomenklatur.
„Eine Spritze zu früh“
… krass, was das DÄ so alles veröffentlicht hat
Habe gerade nachgelesen bei Wiki. Anscheinend wurde ab 1975 eine Reform durchgesetzt, die die bisherigen „Anstalten“ in psychiatrische Fachkliniken umgewandelt hat.
Ein sehr spannendes Thema, und da du wohl selbst unter den Medizinern unterwegs bist, ist die Geschichte der modernen Medizin für dich sicher näher, als für manch anderen.
Gut, wenn man jemandem vom Fach fragen kann.
Meine Erinnerung ist, dass ich in Ende der Siebziger Jahre (zusammen mit meinen Eltern) einen Onkel im psychiatrischen Krankenhaus in Winnenden besucht habe. Und das hieß auch damals schon so - und nicht - Anstalt.
Ich hätte zwar nicht gedacht, dass man in den 70ern noch offiziell von Anstalten gesprochen hätte - aber das kann natürlich durchaus möglich sein. Das war in der Tag auch deutlich vor meiner Zeit. Es ist fürchterlich, wie psychiatrisch Kranke teilweise bis heute stigmatisiert werden - was man diesen Menschen früher angetan hat, kann man gar nicht ermessen.
Tatsache ist leider auch, dass eine effektive medikamentöse Behandlung vieler psychiatrischer Erkrankungen, ob schwere Depression oder Schizophrenie, lange Zeit kaum möglich war. Besser wurde das das meiner Erinnerung nach erst etwa ab den 80er Jahren, als wirksamere und verträglichere Medikamente auf den Markt kamen.
Allerdings ist das Repertoire an verfügbaren Wirkstoffen auch heute nicht überwältigend und die Nebenwirkungen sind oft erheblich.
Schwere Depressionen wurden z.B. in den 80ern an Universitätskliniken durchaus häufig mit Maßnahmen wie Schlafentzug (Studenten wie ich durften die Patienten dann in der Nacht mit Mensch-ärgere-dich-nicht-Spielen u.a. wach halten) oder im Einzelfall auch der Elektrokrampftherapie (letztere erstaunlich erfolgreich) behandelt.
Die Insulinschocktherapie hatte ihre Wurzeln darin, dass man damit quasi Krampfanfälle erzeugen konnte (eine hohe Insulindosis versetzt das Gehirn, das ja auf Zucker als Nährstoff angewiesen ist, in einen Energiemangelzustand/Energiemangel-„Schock“) - und man hoffte, ähnlich wie man ein flimmerndes Herz mit Elektroschocks wieder zum Schlagen bringen konnte, mit so einem Insulinschock das Gehirn wieder „in Takt“ zu bringen. Anfangs hatte man wohl den Eindruck, das könne tatsächlich effektiv sein - es hat sich aber relativ bald gezeigt, dass die Risiken und Komplikationen viel zu groß sind.
Trennen muss man zwischen wirklich gut gemeinten und hoffnungsvollen Bestrebungen, schwer kranken Patienten mit solchen, wenn vielleicht auch befremdlich wirkenden, Maßnahmen helfen zu können - und teils offenbar wirklich sadistischen Experimenten, wie sie v.a. in der NS-Zeit, aber wohl teilweise auch später noch, von einzelnen „Medizinern“ (Ärzte mag ich solche Leute nicht nennen) aus krankhaftem Ehrgeiz oder anderen Gründen Patienten angetan worden sind.
@donald313
Danke für deinen ausführlichen Bericht (aus eigener Erfahrung als Student und Mediziner).
Wie gesagt, als ich meinen Onkel damals besuchte (ca.1977/78) wurde bereits von psychiatrischem Krankenhaus gesprochen. Und meine Eltern bezeichneten es einfach als „Klinik“.
Umgangssprachlich waren damals sicher andere Begriffe (wie zum Beispiel ‚Anstalt‘) „normal“. Aber das wird heute auch noch nicht anders sein, denke ich.
Darum ist es gut, wenn fachkundige Menschen wie du, hier ihre Erfahrung, und die Sicht auf Therapien und Krankenhäuser beschreiben.
Wertvolle Einsichten und Ansichten, die man als Autor immer braucht, um fundiert faktische Elemente darzustellen.
Wieder mal zeigt sich unsere Community als sehr bereichernd.