Da bin ich wieder!
Ich muß gestehen, mich hatte (!) die Kritik etwas aus der Bahn geworfen. Generell bin ich (leider) nicht gut darin, negatives Feedback anzunehmen, und in diesem Fall kenne ich die ursprüngliche erste Szene, die als Beginn nicht geeignet ist, und habe von mir aus nur die Verbesserung gesehen. Ein paar Kritikpunkte haben mich zudem getroffen. Das mußte ich erstmal sacken lassen.
Dennoch danke ich Euch dafür! Denn die Kritik (die ich in vielen Punkten nachvollziehen kann; in anderen nicht) hat dafür gesorgt, daß ich nun einen Anfang habe, mit dem ich zufrieden bin. Und zwar einen komplett neuen Anfang, ohne Nuscheln, mit nur noch einmal Ratten und dafür mehr Szenerie. Dafür gibt’s quasi keine Handlung mehr, fast nur noch Gedanken. Aber: Mich stört das nicht. Eine der besten ersten Seiten, die ich jemals gelesen habe, ist der Auftakt zu Patrick Rothfuss’ “The Name of the Wind”, in der es im Prinizip nur um drei Arten von Stille geht. Handlung: null. Stimmung: 100. (Und nein, ich würde mir nie anmaßen, mich mit einem derartigen Könner zu vergleichen; das Beispiel diente nur der Illustration dessen, daß in meinen Augen der Anfang einer Geschichte komplett auf Action verzichten kann und trotzdem den Leser in den Bann ziehen kann.)
Weil also der Anfang komplett neu ist, gehe ich nicht weiter auf die einzelnen Kritikpunkte ein; eines möchte ich aber sagen: Die umfallenden Krüge an der Stelle mit dem Hufgetrappel waren sehr hilfreich, vielen Dank!
Es ist auch kein Prolog mehr, sondern schlicht die erste Szene meines ersten Kapitels. Voilá, und allen ein schönes Wochenende!
Geisterhaft schwebte der Nebel über den Kanälen der Stadt. Schwaden waberten über das brackige Wasser und verbargen seinen Unrat unter einer weißlich-grauen Decke. Wo kleine Wellen an Stege und Mauern glucksten, tastete der Dunst sich auf festen Boden, folgte den Gassen Morenas um Ecken und Biegungen, stieg mit dem Kopfsteinpflaster auf und ab, drang mit klammen Fingern in Spalten, Ritzen und in die Träume der Schlafenden. Er schluckte das Licht des Mondes und den Klang der Fensterläden, die gegen die Häuser wehten. Mit sich führte er Gerüche und Geschichten: den Odem einer Stadt, die sich nicht im Glanz des Fürsten sonnen konnte; ein Parfum aus den Ausdünstungen der Holzöfen, vor sich hingammelnden Abfällen und den scharfen Aromen der Färber und Gerber. Der Nebel hauchte noch etwas durch Morena: Aberglauben und Alpträume für die meisten; für wenige eine Ahnung dessen, was auf den Befehl eines einzigen Mannes ein ganzes Reich vergessen hatte.
Nicht so die knorrige Gestalt, die geduckt durch die Nacht schlich, sich in den Nebel hüllend wie in einen Umhang. Einen Weg ertastend, der in der milchigen Brühe kaum auszumachen war, glitten gichtgekrümmte Finger die Wände der Häuser entlang, über grob behauene Steine und wurmstichige Holzbohlen.
Der Mann, den alle Welt den alten Barlo nannte, wischte sich mit dem Ärmel über die Stirn. Die Feuchtigkeit war überall: Sie hing in Tropfen an seinen Wimpern, klebte ihm die grauen, strähnigen Haare an den Kopf und durchweichte seinen Mantel. Sie kroch in seine Knochen und ließ sie ächzen wie ein rostiges Scharnier.
Sollte sie seine Glieder foltern. Kein Schmerz würde ihn von seinem Weg abbringen.
Er ließ die Feuchtigkeit gewähren. Gab sich ihr hin, statt sie zu bekämpfen. Trieb mit dem Nebel dahin, dankbar für den dichten Schleier, der ihn vor den Augen der Berittenen verbarg.
Er hielt einen Augenblick inne, horchte. Waren das Pferde? Nein, es fehlte der gleichmäßige Rhythmus von Hufeisen auf Pflastersteinen. Wahrscheinlich bloß Ratten, die auf der Suche nach Essensresten ein paar Tonkrüge umgeworfen hatten. Hoffentlich. So rasch es der Nebel erlaubte, setzte er seinen Weg fort. Er durfte den Häschern des Fürsten nicht in die Hände fallen. Nicht jetzt; nicht, bevor er sein Versprechen erfüllt hatte.
Mit den Fingern klopfte er auf seine Brust, vergewisserte sich, daß er noch da war. Der Brief.
Die letzten Worte eines Menschen, der wußte: Von dort, wo sie ihn hinschleppten, gab es keine Wiederkehr. Hastig hingekritzelt, schief zusammengefaltet, das Siegelwachs mit dem Daumen festgedrückt.
Der Gedanke an Leonardo schmerzte ihn mehr als seine Knochen. Die gemeinsame Liebe zu dem raren Geschenk, das beiden zuteil geworden war, hatte ein Band zwischen ihnen geknüpft, das über bloße Freundschaft hinausging. Mit Leib und Seele hatten sie sich demselben Ziel verschrieben: das Wunder der Gabe zu bewahren.
Ein Band, das bis zu diesem Tag hielt. Doch es hatte nicht ausgereicht, um seinen Herzensbruder aus den Mauern zu befreien, hinter denen er die eigene Seele verbarrikadierte: Seine selbstgewählte Strafe für die Ungeheuerlichkeit, das Verbrechen, mit dem er sie alle dem Untergang geweiht hatte. Ohnmächtig hatte er zusehen müssen, wie das Feuer in den Augen des Freundes erlosch und seine Gabe erstarrte wie Lava nach einem Vulkanausbruch.
Erst viel später war es ihm gelungen, einen winzigen Funken in die verkümmerte Seele zu säen. Jahrelang hatte er ihn behutsam geschürt, froh über das Aufflackern jedes zögerlichen Flämmleins. Bis zu jener Nacht, als die kalte Dunkelheit des Fürsten über ihm zusammengeschlagen war; eine schäumende Woge der Wut.
Leonardo war darin untergegangen, doch seine Glut war nicht erloschen. Sie glomm in seinen Worten. Er spürte die Wärme der Tinte durch das Hemd auf seiner Haut. Wie er sich danach sehnte, das goldene Feuer wieder auflodern zu sehen!
Der alte Barlo atmete durch, sog den Nebel so tief ein, als wolle er eins mit ihm werden. Es war Zeit. Zeit, seinem Freund den letzten Wunsch zu erfüllen: den Brief zu überbringen. Den Zunder, der die Gabe entfachen würde.
Zeit, die Erbin Leonardos an das zu erinnern, was die Welt vergessen hatte.