Papas brave Tochter

In der Nachkriegszeit in einem kleinen Dorf im Spessart:
Beim Mittagessen galt nach dem Gebet: „Was auf den Tisch kommt, wird gegessen!“ Ungefragt füllte Papa regelmäßig meinen Teller viel zu voll. Aufstehen war erst erlaubt, wenn er leer war. Ich war mollig und aß mit gutem Appetit, allerdings mit Vorliebe nur, was süß schmeckte. Mama war eine Spezialistin beim Zubereiten von Mehlspeisen. Der Duft nach Zimt, Vanille und dem Auflauf aus alten Brotresten mit Apfelstückchen und Mandeln im Backofen des alten Herdes lockte mich schon vor der Essenszeit in die Küche. Doch im Winter stand regelmäßig einmal wöchentlich speckiges Lakefleisch – das in Sauerkraut gedämpft wurde – mit Kartoffelbrei auf dem Tisch. Bereits der Geruch der muffigen Specks – der aus dem Teller vor mir dampfte – und die weißlich graue wabbelige Masse lösten ein unüberwindbares Ekelgefühl in mir aus. Sobald ich das erste Stückchen davon in der Kehle spürte, begann das Würgen, ich konnte es nicht unterdrücken und bekam es einfach nicht runter. Ich schluckte und schluckte, aber der Speck hing wie festgeklebt in meiner Kehle und mir stiegen die Tränen in die Augen.
Es ist kurz vor Weihnachten und ich kuschel mich in die Kuhle der durchgelegenen Matratze meines alten Metallbettes, an dem der vergilbte Lack immer mehr abblättert. Aus den dunklen Flecken, die in unregelmäßigen Formen unter dem Lack zum Vorschein kommen erschaffe ich in meiner Fantasie magische Figuren und träume vor mich hin. Im Religionsunterricht bekamen wir heute einen Beichtzettel, den wir ausfüllen sollen für die erste Beichte vor dem Fest der Ersten Heiligen Kommunion. Ich habe keine Lust, weiter zu grübeln, welche lässliche Sünde oder sogar schwere Sünde ich begangen haben soll und schiebe mit schlechtem Gewissen rasch das Blatt unter die Matratze.
Aus dem Hof schimmert sanftes Licht durch den Vorhang auf mein Bett und erweckt wie durch Zauberhand aus den fleckigen Eisenstäben magischen Figuren und Bilder, die sich mit Geschichten verweben. Ich sehe kleine Enten herausschlüpfen und höre ihr lustiges Geschnatter bis sie flügelschlagend in unseren Schlossteich platschen. Ich sehe Mäuschen, die vergnügt umher hüpfen und piepsend in einer Erdhöhle verschwinden. Winzige Vögelchen werden immer größer, während ich sie beobachte. Plötzlich fliegen sie davon und verwandeln sich am Himmel wundersam in drachenartige Riesenvögel.
Wie von weither höre ich plötzlich Mamas Stimme: „Gabrieeele, komm endlich zum Essen!“
Missmutig raffe ich mich auf und gehe langsam die Treppe hinunter, denn der Geruch aus der Küche schlug sich bereits auf meinen Magen, als ich die Tür öffnete.
Mein kleiner Bruder sitzt neben mir und isst mit gutem Appetit. Ich aber schiebe unter Papas strengem Blick vorsichtig den Speck auf dem Teller zur Seite und esse nur vom Kraut und Kartoffelbrei. Wütend stopft Papa sich mit rotem Gesicht Gabel für Gabel in den Mund und wirft mir drohende Blicke über seine Brille zu. Ich sehe, wie langsam der Zorn in ihm anfängt zu kochen und sein Gesicht rot anläuft. Unsicher schiebe ich wie in Zeitlupe ein wenig Kartoffelbrei mit Sauerkraut auf meine Gabel und esse mit zitternder Hand weiter, bis mir in Erahnung des kommenden Donnerwetters Kraut und Brei von der Gabel zurück in den Teller rutschen und ich wieder von vorn beginne. Irgendwann verliert Papa die Geduld, reißt mir meinen Teller weg, schneidet wutschnaubend den Speck so klein und vermengt ihn mit Brei und Kraut, dass er nicht mehr zu sehen ist und stößt mit einem fauchenden „So, das wird gegessen!“ den Teller zurück auf meinen Platz. Diese unappetitliche Pampe unterscheidet sich nun nicht mehr vom Futter, das Mama unserem Schwein täglich hinstellt. Aber ich will wie immer Papas braves Mädchen sein und schiebe mir widerwillig eine kleine Portion in den Mund. Obwohl ich mir mit der anderen Hand die Nase zuhalte, kann ich den Brechreiz nicht mehr unterdrücken und beginne zu würgen. Mit Tränen in den Augen kämpfe ich dagegen an. Plötzlich muss ich auch noch dringend auf die Toilette und rutsche auf meinem Stuhl hin und her.
„Setz disch rischdisch hiee, du hengsd jo blouß uffde Schnäbbe!“ (Setzt dich richtig hin, du hängst ja bloß auf der Kante.), zischt Mama. Ich seh sie mit flehendem Blick an, doch es hilft nicht, ich darf nicht aufstehen, der Teller ist noch nicht leer. Vielleicht denkt Papa, ich will das Essen ins Klo spucken. Ich schließe die Augen, presse meine Oberschenkel zusammen, damit die Unterhose nicht nass wird und unter Tränen würge ich den Inhalt meines Tellers hinunter. Wutentbrannt schlägt Papa mit der Faust auf den Tisch und steht abrupt auf. Heute verzichtet er auf sein Nickerchen auf dem Chaiselongue und flieht in die Werkstatt. Der Appetit ist ihm vergangen: „Isch winschdä ned, dass de oamol e Zeit äläwe mussd wie miä, wou de noch frou soin wäsd, üwerhaabd äbbes ze ässe ze hewwe!" (Ich wünsch dir nicht, dass du einmal eine Zeit erleben musst wie wir, wo du noch froh sein wirst, überhaupt etwas zu essen zu haben.), schreit er – ohne mich anzuschauen – beim Gehen und knallt die Tür hinter sich zu. Endlich kann ich aufs Klo gehen. Von Mama kommt kein Wort. Auch sie sieht mich nicht an, wie üblich geht sie zum Spülstein und als ich zurückkomme, trockne ich mit hängendem Kopf schweigend ab.
Nach einer quälenden Stille sagt sie: „Isch vestäi aa ned, woasde hosd, des Laggeflaasch schmägd doch sou guud!“ (Ich versteh auch nicht, was du hast, das Lakefleisch schmeckt doch so gut!)

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Hallo Gabrielle!

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Liebe Elisabeth,

vielen Dank für Deine Unterstützung. Eure Einladung zum Beitrag „Seitenwind“ begeistert mich und hat mich sofort aus der Reserve gelockt! Ich freu mich über die vielfältigen und zahlreichen Beiträge!

Viele Grüße
Gabrielle

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Hallo Gabrielle,
deine Geschichte „Papas brave Tochter“ hat mich in meine Kindheit zurückversetzt. Du brachtest mich dazu, mit dem kleinen Mädchen mitzuleiden und mich an Situationen zu erinnern, an die ich jahrzehntelang nicht mehr dachte. Was du beschreibst, gehört zur Kriegs-ENKEL-Problematik (Sabine Bode prägte den Begriff). Seitdem ich hinter die gestiegen bin, konnte ich eine mutige Lebensart entwickeln. Die Problematik impliziert die sogenannte transgenerationale Angstübertragung, die unterbewusst unsere Verhaltensweisen enorm beeinflusst(e). Ich schreibe über Situationen - wie du, die eine ganze Generation tangiert. Die wenigsten allerdings wissen, weshalb sie dieses ewigliche zermürbende Gefühl im Bauch in bestimmten Situationen bis heute haben, weshalb sie oft genial in 2.Reihe funktionieren, aber nicht gern im Rampenlicht stehen. Die Erziehung zur Hörigkeit, zum Perfektionismus, zur leichten Händelbarkeit, um die Eltern ohne viel Nervenaufwand und in der Öffentlichkeit gut angesehen zu machen, prägte Menschen, die in 1. Generation nach dem Krieg geboren wurden. Es ist die Generation der totalen emotionalen Verunsicherung, der Familiengeheimnisse, der Widersprüche, in der Pflicht mit Liebe und Sorge mit Kontrolle verwechselt wurden. Kriegsenkel fühl(t)en sich falsch in der Familie, nicht positiv wahrgenommen, aber bei „Fehlern“ - dem eigenen Willen - gab es von Seiten der Eltern Überreaktionen. Mütter reagierten n der Regel anders als Väter. Sie kommunizierten mit Mimik und Gestik. Wir Kinder hatten gelernt, ihre nonverbalen Botschaften zu verstehen. Väter hauten buchstäblich und metaphorisch auf den Tisch. Dann folgte eine Zeit des bestrafenden Schweigens.

Ich schreibe darüber und habe im kommenden Frühjahr vor, mit weiteren Gleichgesinnten die Sammlung von typischen Kindheitserlebnissen bestenfalls in einem Almanach zusammenzustellen. Wärest du vielleicht interessiert?

Ein paar Nachfragen / Anregungen zu deinem Stil: M. E. ist der 1. Satz nicht notwendig. Zeit und Ort ergeben sich aus der Geschichte. Schon allein der Satz, dass gegessen werden müsse, was auf den Tisch käme, ist zeittypisch - wie Sätze: „Stell dich nicht so an!“ oder „Solange du die Füße unter meinem Tisch hast …“ oder „Du bist undankbar!“

(Eine Mitstreiterin betete allabendlich, dass es 1. keinen Krieg gäbe, 2. das Haus nicht abbrenne, 3. sie sich nicht übergeben müsse.)

Könntest du dir vorstellen, aus der 2. und 3. Zeile eine gefühlsschildernde Beobachtung zu machen? Während des (wortwörtlichen!) Gebets kämpft das Kind bereits mit Würgereiz. Ein blasphemischer Widerspruch. Du provozierst. Atheisten wollen weiterlesen, weil sie fälschlich vermuten, dass das Kind vom Glauben abfiele (technisch: Irreführung des Lesers), Gläubige lesen voller Empörung weiter. Der perfekte Einstieg …
Du brauchst die Einleitung mit den Süßspeisen nicht, denn dein Augenmerk liegt auf dieser einen Situation am Tisch. Zum Abschluss könntest du aber deinen Wunsch nach den Süßspeisen des Sommers z. B. beim Einschlafen bzw. beim Nachtgebet mit einbauen - gekoppelt mit dem Wunsch, dass die Mutter mal endlich dem Vater eine Ansage macht und ihm nicht immer stillschweigend recht gibt, anstatt der Tochter beizustehen.
Statt zu berichten, dass das Mädchen mollig war, könntest du beschreiben. Z.B. könnte es an dem indes viel zu eng gewordenen kratzigen Pullover zuppeln. Oder du könntest im Abschluss im Gebet oder im Kopfkinotraum schreiben, dass sich das Kind wünschte, nicht mehr so angepummelt zu sein, damit es von Gleichaltrigen nicht mehr gehänselt würde.
Der schön geschilderte Märchentraum in der Mitte deiner Geschichte ist so klasse, dass ich dir empfehle, daraus eine separate Geschichte zu machen. Gern schicke ich dir ein Beispiel, sofern du Interesse hast. Von der Platzierung und dem Umfang her neigt hier der Kopfkinofilm zur Themenabweichung.

ODER Variante 2: Du beginnst deine Geschichte mit „Aus dem Hof schimmert sanftes vorweihnachtliches Licht …“ Dann solltest du, da du mit der schönen Fantasie eines Kindes beginnst, das ein bisschen ausweiten. Z.B. könntest du das Mädchen auf einem Drachen reiten lassen. Die Mutter ruft ihm sanft zu, sich ordentlich festzuhalten. ("Gabrielle, das machst du wunderbar. Halte dich nur ordentlich fest. Meine wundervolle Gabrielle, ich bin stolz auf dich. " - „Gabrieeele! Komm endlich zum Essen!“ Mamas Ton klingt scharf … Vermischung von Traum und Wirklichkeit. Ernüchterung)

Klasse ist deine gewählte Erzählzeit und, was mir sehr gefällt, ist die Rede im Dialekt. Auch die wichtigsten Gefühlsbeschreibungen ohne Bericht-Adjektive sind toll. Z. B. „…ich schiebe wie in Zeitlupe … mit zitternder Hand …“ (das impliziert bereits das Wort „unsicher“). Tatsächlich lese ich aus deiner Geschichte die typische Mann-Frau-Rollen-Verteilung, die Erziehung eines Kindes zum blinden Gehorsam, dass die Eltern glaubten, Kinder müssten genau so denken, empfinden, wünschen, wie Erwachsene und dass sie dementsprechend keinen eigenen Willen haben durften, dass Kinder keine eigenen Probleme zu haben hatten, sie für Nahrung, Kleidung und einem Dach über den Kopf dankbar sein mussten (in Wirklichkeit war dass eine elterliche Pflicht, sonst hätte das Jugendamt schon längst eingegriffen und die schöne familiäre Außenfassade wäre dahin gewesen).
Ich hoffe, dir ein paar Anregungen gegeben zu haben, mit denen du etwas anfangen kannst / möchtest. Wie gesagt, ich würde gern mit dir näher zusammenarbeiten, falls du Lust hast.
Hab einen sonnigen Tag
Leah

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Danke, liebe Lea,
für Deine ausführlichen Anmerkungen zu meiner Geschichte! Ich lese sie sicher nochmal mit großer Aufmerksamkeit, denn Deine Vorschläge überzeugen mich! Wie Du erkennst, bin ich ein Kind meiner Generation wie so viele, die sehr mühsam ihren eigenen Weg finden mussten. Darüber schreibe ich in meinem ersten Buch „Liebes Leben“. Einmal prügelte mich Papa so - ich war schon 15 - dass ich hilflos am Boden lag und nur noch schluchzen konnte: „Dann schlag mich doch tot.“ Es blieb nicht ohne Folgen. In meinem vierten Buch „Das Leben ist kurz - brechen wir die Regeln“ schreibe ich über meinen Eigensinn, der mich über die Traumata hinübergerettet hat. Und in „Die Traumtänzerin“, die dieses Jahr veröffentlicht wurde, schreibe ich am Beispiel der Protagonistin Blandina, wie sie zunächst durch die noch nicht bewusste Prägung als Papas Tochter eine Partnerwahl traf, die sie in die NOT-Wende führte.
O ja, natürlich „arbeite“ ich sehr gerne mit dir zusammen! Ich freu mich sehr über Dein Angebot. Schreiben ist mir seit dem Tagebuch-Schreiben in der Kindheit ein Herzensbedürfnis. Ich werde niemals aufhören zu schreiben …
Morgen werde ich sofort beginnen mit dem Umsetzen Deiner Vorschläge! Danke und
liebe Grüße
Gabrielle