Nur was du liest, ist wirklich passiert ...

… oder was du nicht liest und nur durch “Andere” (Charaktere im Buch) erfährst, ist nie passiert und gibt anlass zur Spekulation?

Nach dieser These kurz zur Einleitung, des für mich schwierigen Themas, aber nachdem ich nun schon eine Weile hier im Forum lese, hoffe ich auf einen Blickwinkel Dritter, der mir bisher offenbar verborgen ist:

Ihr kennt das sicherlich auch … irgendeine Szene in einem Buch, jemand wird umgebracht oder vermeintlich umgebracht - man weiß es halt nicht, weil es nicht genau beschrieben ist. Die Charaktere im Buch gehen vom Tod der besagten Person aus und die ganze Handlung wickelt sich um das Ereignis wie das Leichentuch um Jesus Christus. Doch dann, kurz vor dem Ende - BÄNG! - die Figur lebt doch, es war alles nur Täuschung, Deus Ex Machina und alles, was den geneigten Leser zu einem Facepalm durchs Gesicht veranlasst. Schlimmer noch, wenn solche Figuren einige Bücher später auftauchen. Oder wenn der Tod nie ganz aufgeklärt oder bestätigt wird und der Leser bis heute daran rätselt, ob es nun passiert ist oder nicht (vielleicht verbunden mit der Hoffnung, dass besagte Person in einem späteren Buch vielleicht doch noch lebt).

Nun zu meinem “Problem”. Es gibt eine Szene mit der ich mich sehr schwer tue. Es geht um den (endgültigen) Tod von zwei Kindern. Die Geschichte der beiden ist bis zu diesem Punkt auserzählt und die kommen auch in keinster Weise in nachfolgenden Erzählsträngen oder Kapiteln vor. Einzig und allein an denen ist/war wichtig, dass sie dynastisch gesehen, die Erben eines Adelshauses waren, dessen Blutllinie in diesem Kapitel fast vollständig ausgelöscht wird.

Diese spezielle Szene sieht grob skizziert so aus (verzeiht, wenn ich nicht zu sehr ins Detail gehe, aber falls Details erwünscht sind oder benötigt werden, kann ich diese später ergänzen):
Die Burg des besagten Adelshauses wird nach langer Belagerung nun entgültig gestürmt und geschleift. Alle Verhandlungen sind aufgrund von Stolz und nicht erfüllter Hoffnungen auf Entsatz gescheitert. Der Angreifer lässt niemanden am Leben, keinen Mann, keine Frau, keine Kinder, keine Alten, keine Kranken, keine Bediensteten, keine Sklaven - also niemanden. Vor allem aber auch keine adligen Nachkommen, die noch irgendwelche Ansprüche gelten machen könnten. Als die Gegner bereits in das Innere des Bergfrieds vorgedrungen sind und außer einer Hand voll Wachen niemand mehr Widerstand leistet, drückt der letzte lebende Ritter des Hauses der Protagonistin seinen Dolch in die Hand mit den Worten, dass sie weiß was sie nun zu tun hat. Dann schließt er die Tür hinter sich und lässt die Protagonistin mit ihren beiden Kindern allein der Kammer zurück, wo sie sich in eine Nische zurückziehen, wo sich der Aborterker befindet. Der arme Ritter wird grausam vor der Tür dahingemetzelt (die Protagonistin hört es nur, da die Szene aus ihrer Sicht geschildert wird) und anschließend versucht der Gegner in die Kammer einzudringen…

… … … … …
(Das was dann passiert, konnte ich bisher nicht schreiben, weil es mich innerlich zu sehr aufgewühlt hat)
… … … … …

Die Szene geht im Skript dann damit weiter, dass die Gegner in die Kammer eindringen, in der Tür aber verharren, bis deren Anführer (einer der Antagonisten) ebenfalls eintritt. In der Mitte des Raumes steht die Protagonistin mit blutverschmiertem Dolch.

Wie gesagt, das Fortbestehen der Kinder ist für die weitere Geschichte vollkommen ausgeschlossen. Ich winde mich eben um diese Todesszene, die einerseits passt ist bzw. passieren muss, die ich aber andererseits nicht in ihrer ganzen Grausamkeit schildern will und kann.

Ich möchte jedoch dem Leser gegenüber keinen Zweifel daran lassen, was passiert ist und vor allem, dass es passiert ist. Es soll keine Gerüchte oder Mutmaßungen darüber geben, ob die Erben vielleicht überlebt haben könnten und nur gefangen genommen wurden. Ich will keinen losen Handlungsstrang erschaffen, den ich eh nicht auflösen kann - die Kinder sollen auch nicht irgendwann anonym in irgendeinem Kerker des Antagonisten verstorben sein - das würde der kompletten Szene den Biss und die Dramatik nehmen.

Ihr seht ein wenig mein Dilemma … es ist auch nichts, was akut gelöst werden muss, da der Rest der Handlung normal weiter voranschreitet ohne das explizite Ende dieser Szene.

Vielen Dank schon mal im Voraus.

LG aus der Pfalz
Matthias

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Hmmm. Verzeih mir, wenn ich das so simpel abkürze, aber Du hast es doch schon geschrieben?
Vielleicht ist das mehr ein emotionales Problem als ein literarisches (ohne das eine oder das andere kleinzureden).
Oder vielleicht verstehe ich es nicht ganz… wie genau muss das geschrieben sein? Als Leser wäre es mir auch lieber, den Tod von Kindern nicht detailliert geschildert zu bekommen. Muss eine Tötung so genau beschrieben werden - oder reicht es nicht so, wie Du es schon schreibst: “… In der Mitte des Raumes steht die Protagonistin mit blutverschmiertem Dolch”. Und da vielleicht noch ein Satz, dass selbst die brutalen Erstürmer der Burg vom Anblick der toten Kinder schockiert waren. Und aus. Kapitelschluss. Mehr würde ich als Leser nicht brauchen (und ertragen wollen).

Und technisch gesehen (Entschuldigung, furchtbarer Ausdruck, gerade wenn Dich die Szene schon in der Vorstellung aufwühlt): Wenn es um den endgültigen Tod der beiden Kinder geht, im Sinne eines Ohne-jeden-Restzweifel-beim-Leser, dann würde ich eine Bestattung, in welcher Form auch immer anschließen, andeuten, davon erzählen. Oder ein schlichter Blick auf das Grab durch die Augen eines Überlebenden, oder Zeugen…


Weiter Bogen: Ich kann Dich verstehen. Ich hatte jahrelang die Idee für eine bestimmte Geschichte, und darunter war von Anfang an die fixe Vorstellung einer Szene, in welcher der Protagonist etwas getan hat, mit dem ich nicht einverstanden war (es war nicht superböse, aber es passte mir überhaupt nicht in den Kram). Ich habe mich gewunden und gewunden und rationalisiert und argumentiert, aber ich bin nicht darüber hinweggekommen. Irgendwann habe ich begriffen: Es kann sein, dass der Protagonist so etwas in meinem Buch tun könnte, aber das ist nicht das Buch, das ich schreiben will. Ich habe diese Szene also loswerden müssen, mit ihr das ganze Buch (ging nicht anders), und übrig blieb nur mein Protagonist, von dem ich aber jetzt eine genauere Vorstellung hatte, nämlich wo inmitten aller Unberechenbarkeiten doch sein moralischer Kompass war.
Das neue Buch war dann ein für mich besseres als das ursprüngliche. Ich hätte diese eine Szene nicht schreiben können; oder: ich hätte sie zwar schreiben können, aber dann wäre ich mit dem Buch fertig gewesen. Und, das meine ich ernst, ich finde das gut, dass Du so genau auf Dein Gefühl schaust, und wovor es Dich warnt, was Du besser nicht schreiben solltest, oder nicht in dieser Deutlichkeit, oder wie Du mit dem Tod dieser Kinder umgehst, und das kann ja auch durch Stille sein, oder mit viel Trauer, und einem passenden Raum dafür (Kapitelschluss, oder Schluss eines ganzen Aktes, um Dir, den Lesern und den anderen Figuren den nötigen Platz für ein Durchatmen zu geben, und dann für ein Weitergehen nach so einem schrecklichen Ereignis).

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Mhm ja … ich hatte das “Geschehen” in diesen Aborterker verlagert, um mir als Schreiber etwas Zeit zu erkaufen, so dass für die Eindringlinge nicht sofort ersichtlich ist, was passiert ist. Bisher steht die Protagonistin in der Szene nur mit dem blutigen Dolch im Raum. Woher das Blut stammt, ist noch nicht näher definiert (aus besagten Gründen). Ist halt irgendwie doof :frowning:

@Endstille Wissen die Leser, dass die Kinder bei der Protagonistin waren? Wenn ja, dann werden sie auch “wissen”, wessen Blut am Doch klebt.
Nicht jede Untat muss genau beschrieben werden.
In diesem Sinne … gutes Gelingen.

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Wenn Du Deinen Lesern die blutrünstigen Details ersparen willst (was sehr begrüßenswert ist), kannst Du sehr leicht den Weg über die Reaktionen der Beteiligten bzw. indirekte Schilderungen gehen.

Da sie hier nicht aufmuckt und kreischt “Nein, ich kann das nicht!” oder sowas, sondern nur stillschweigend mit dem Kopf nickt, und wir wissen, dass der Ritter sie mit den Kindern alleine lässt, weiß ich doch als Leser, dass sie die Kinder umbringen wird.
Alles andere liegt dann in Deinem Ermessen. Ohne die Mordszene selbst beschreiben zu müssen, kannst Du schildern, wie die Schreie der Kinder im Gewummer der Gegner an die Tür untergehen. Du kannst beschreiben, wie sich die Schergen, nachdem sie die Tür schließlich aufgebrochen haben, mit Abscheu und Ekel abwenden, nachdem sie einen Blick in die Kammer geworfen haben. Dann kann ich mir als Leser gut vorstellen, was sie sehen, ohne dass Du es selber beschreibst. Du kannst auch beschreiben, wie die Mutter da steht, mit Messer und blutigen Händen. Oder wie sie neben den toten Kindern kniet (die vielleicht nur ganz wenig bluten, weil sie sehr zielsicher zugestochen hat) und sie zärtlich streichelt. All das kannst Du schreiben, ohne eklige Details.

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Ja das ist dem Leser bekannt und auch die ausweglose Situation in der sich alle befinden - bei mir gibt es halt kein Deus Ex Machina :kissing:

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Danke … ich sag ja … manchmal braucht man halt die unabhängige Betrachtung eines Außenstehenden :coffee: - bei mir sind all diese Möglichkeiten im Kopf wie blockiert, obwohl es da ist - und auch irgendwo offensichtlich :thumbsup:. Ich hab halt auf Arbeit genug mit sowas zu tun, vielleicht blockiert es deshalb - keine Ahnung :thinking:

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Das kann durchaus sein.
Aber damit hast Du vielleicht eine Antwort auf Deine Eingangsfrage bekommen: Um etwas zu erzählen, was wirklich schwer zuzumuten ist wie z.B. Gewalt gegen Kinder, muss man nicht auf direkte Schilderungen zurückgreifen. Im Prinzip sind indirekte Schilderungen sogar wirkungsvoller, weil dadurch das “Kopfkino” beim Leser mehr Raum hat.
Beispiel - lies mal in den “Buddenbrooks” das Kapitel, in dem der kleine Hanno an Typhus stirbt. Das hat Thomas Mann geschildert, indem er den Krankheitsverlauf von Typhus schlicht und ergreifend aus einem medizinischen Lexikon abgeschrieben hat, und das ohne zu verraten, dass Hanno krank ist - was wir uns aber aus dem Zusammenhang natürlich denken können.
In der nächsten Szene erleben wir dann eine Schilderung (ich glaube seiner Tante Tony), die jemandem erzählt, wie sich Hannos einziger Freund Kai Graf Mölln regelrecht zu ihm durchkämpft und dem todkranken Hanno die Hand küsst.
Auch das beschreibt Thomas Mann nicht direkt, aber wie er es Tony erzählen lässt, das treibt einem mehr Tränen in die Augen als wenn er Hannos Todeskampf in allen Einzelheiten geschildert hätte.

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Um ehrlich zu sein, hatte ich mal eine ähnliche Situation. Mir fehlte noch eine Hinrichtungsszene (die Enthauptung von jemandem, der es nicht mal wirklich verdient hatte). Also auch nix, was man alle Tage schreibt, auch wenn mir das sicher nicht so nah gegangen ist, wie dir die Szene mit den Kindern.
Ich habe die ganz lange liegen lassen…

Eines Tages saß ich dann im ICE und irgendwie war der richtige Zeitpunkt gekommen. Ich hatte mich so lange davor gedrückt, aber plötzlich fühlte ich mich in der Lage dazu. Keine Ahnung, warum. Vielleicht, weil ich von so vielen Leuten umgeben war, das schützt einen ein bisschen davor, so richtig in die Szene abzutauchen.
Ich hab also wie wild in die Tasten gehauen, und war froh, als ich es hinter mir hatte.

(Übrigens saßen mir einige ältere Herren gegenüber, die fragten mich, als ich den Laptop zuklappte, was ich denn schreiben würde. “Bestimmt ein Kinderbuch.” Ähm, nein, nicht ganz. Ich hatte gerade jemandem den Kopf abgeschlagen. :frowning: )

Ansonsten würde ich mich meinen Vorschreibern anschließen. Man muss nicht alles ausschreiben. Würde mir in vielen Serien wünschen, wenn sie solche Szenen wegließen oder nur andeuteten, da ich in der Hinsicht etwas empfindlich bin.

Vielleicht kannst du innerhalb der Story an passender Stelle einen zuverlässigen Gewährsmann auftreten lassen, der noch einmal für alle mit absoluter Gewissheit bestätigt, dass diese Kinder tatsächlich tot sind und nie wieder auftauchen werden?
Ich fühle mit dir - das ist eine ziemliche Zwickmühle. Drück dir die Daumen!

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@Endstille
Ich kann dein Dilemma nicht lösen. Ich will halt auch nicht.Kann dich also verstehen.
Anderes: Hast du eine richtig gute Erklärung, warum die Protagonistin das Ganze überlebt? Ein Invasor, der alles platt macht, aber die Heldin lässt man leben?

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Ich habe nie geschrieben, dass die Protagonistin die Szene überlebt :roll_eyes:

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Gut, Herr Martin! :smiley:

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Ist halt kein Kinderbuch :stuck_out_tongue:

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Dann kann das aber eine Lösung sein. Die Protagonistin sieht ihren nahenden Tod als Erlösung, weil sie nach der Abscheulichkeit ihrer Tat nicht weiterleben wollen würde. Damit bestätigt sie uns den pflichtbewussten Doppelmord aus erster Hand, ohne, dass wir noch Zweifel haben müssten.

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Das klingt nach einer interessanten kopfkinoschonenderen Alternative… mal schauen wie ich das zu Papier bringen kann.

Merci

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