Nostalgie des Birnenschalen-Gelées
Ich dachte an gar nichts Bestimmtes, als vom Grund der Kiste der lange vergessengeglaubten Kindheitserinnerungen, Düfte und Geschmacksnoten emporstiegen. Zur Zeit des sich nahenden Herbstes brach im Haus meiner Großmutter – welches ja eigentlich das Haus meines Großvaters war – immer jene Geschäftigkeit aus, die mit dem Reifwerden von Obst und Gemüse im Garten einhergeht. So mag ich denn damals die Ernte vom Birnbaum in der Kochstube bewundert haben, die in Körben oder Emailschüsseln zu ihrer weiteren Verarbeitung bereitstand. Frisch vom Baum verströmten die Früchte nur einen - kaum wahrnehmbaren - säuerlichen Geruch, wenn man sich ihnen in ihren Erntekörben näherte. Noch bargen sie die ungeahnten Sinnenfreuden in sich, hielten die erstaunlichsten Geschmacksexplosionen unter ihren intakten Schalen versteckt.
Die Zubereitung dieser Köstlichkeit traf mich jedes Jahr, wie eine unvorhergesehene Überraschung. Weihnachten war dagegen viel leichter schon lange vorher auszumachen. Man wußte, wann es kommen würde. Advent und so – klar. Doch keiner der Erwachsenen hätte jemals im Voraus angekündigt: »In soundsoviel Wochen wird es Birnenschalengelée geben.«
Und so war die Zeit also wieder einmal herangekommen. An einem Vormittag erfüllte dieses Parfum – intensivstes Birnenaroma – das ganze Haus. Wie der Blütennektar die Bienen, so lockte mich dieser hypnotische, sämtliche Zimmer erfüllende Duft, an den Küchenherd. Und die unstillbare Lust auf die beste aller Süßigkeiten, die ich ehemals kannte, wurde in mir übergroß. Jetzt hieß es Geduld haben. Keine leichte Sache für ein zehnjähriges Kind. Wie beim Fall in ein schwarzes Loch schien sich die Zeit ins Unendliche * zu dehnen, bis die ersehnte Gaumenbeglückung endlich genussfertig bereitstand.
Blasen werfend kochten die Birnenschalen mit Gelierzucker versetzt in einem relativ kleinen Kochtöpfchen auf dem Gasherd. Auf feinen Wassertröpfchen reisten die sublimen Geruchspartikel durch die Lüfte im Inneren des Hauses von Zimmer zu Zimmer und teilten jedem, der darin lebte mit, daß ein großartiges kulinarisches Ereignis bevorstand.
Ich weiß nicht mehr, wie oft ich - meine Großmutter fragend: »Ist er jetzt fertig?« – meine Ungeduld besser zu bezähmen, in den Garten und wieder zurücklief. Doch schließlich war die begnadete Köchin mit dem Ergebnis zufrieden und ich kam auf meinen kleinen Beinchen angerannt und konnte mir die ersehnte Köstlichkeit endlich abholen.
Von einem vollmundigen Laib, wie er nur damals von Bäckern bereitet wurde, bekam ich eine Scheibe Brot abgeschnitten, die der länge nach in der Mitte geteilt wurde, nachdem sie mit Butter bestrichen worden war. Aus dem - aus heutiger Sicht – altmodischen Küchenschrank holte die Großmutter ein kleines Glasschälchen, in welches hinein sie mir eine geringe Menge des duftenden und unsagbar wohlschmeckenden Birnenschalen-Gelées goß.
In meiner Erinnerung war diese Konfitüre niemals streichfest. Deshalb wurde sie auch nicht auf die Brotscheibe „geschmiert“, sondern man benutzte das längs halbierte Brotstück, um damit immer nur, die für den nächsten Bissen nötige Menge direkt aus dem Schüsselchen heraus zu löffeln. Bei diesem Geschicklichkeitsspiel mußte man sich beeilen, schnell abzubeißen, bevor wieder alles herunterrann.
Und dann erfüllte also endlich diese königliche Kost den Mund und vermittelte einem ein, Geist und Körper ganz durchdringendes Wohlgefühl. Es war, als könne man in den Herbst selbst hineinbeißen. Das Ergebnis jener Alchimie, die Erde, Sonne, Regen, Luft und Bienen im Verein mit dem Birnbaum hervorgebracht hatten, wurde vom Wissen der Großmutter, zu einem geschmacklichen Juwel veredelt. Pures Glück!
Doch in einer, höchstens zwei Wochen war dieses Paradies wieder vorbei. Denn die zu eingemachten Birnen verarbeiteten Früchte lieferten immer zu wenige Schalen – dachte ich. An Vorratshaltung war also nicht wirklich zu denken. Wie sie gekommen war, diese kurze fröhliche Zeit, war sich auch schon wieder vergangen. Und es blieb einem nichts übrig, als auf das nächste Sommerende zu warten.
Heute schmeckt nichts mehr so! Die Zeit scheint im Flug dahinzueilen. Nur die wenigen Augenblicke, die noch bleiben werden mit jedem Tag kostbarer.
- {Mit gewissen Wörtern, wie hier zum Beispiel »Unendlichkeit« gehe ich privat sehr vorsichtig vor. Normalerweise würde ich diesen Begriff nicht in meinen Schriften verwenden. Da er hier jedoch ein bestimmtes Bild – oder sagen wir lieber, eine gewohnte, nicht zu verifizierende Idee, vermittelt, habe ich mich entschlossen, das Wort dennoch stehen zu lassen.}