Von weit her taucht der Sundowner den Bug des Cruiseships auf der aufgewühlten See in außergewöhnliches Orange, hebt den Schriftzug des Giganten hervor, lässt längsseits das Metall glänzen. Es wäre so sinnvoll, darauf zu achten und der freien Zeit ihren Lauf zu lassen. Aber ich habe nur Augen für das abgegriffene Metall an der Reling, an das ich mich festklammere und für die abweisende, schwarze Silhouette, die vor der Abendsonne steht und die orange Scheibe in der Mitte teilt.
Es ist, als würde sich die Gischt unter die alte Lackfarbe stemmen, um sie dann endgültig auszuhebeln und sie vom Ganzen abzusprengen. So, dass es keiner mehr zusammenführen kann. Das, was zusammengehört verfliegt mit dem Wind in Partikeln - zerstoben und unzählbar.
Sie hat ihren Schatten aufgerichtet und er gilt mir.
Gestern noch eine so innige Berührung. Ich hatte mich ganz hingegeben. So nah hatte sie sich angeschmiegt – ja, näher als je zuvor.
Nachtschwarz das Haar im Ostwind in Strähnen um ihr mondähnliches Gesicht. Ich habe zu oft versucht, es in Gedanken anzupassen, weil es mir manchmal zu rund und zu voll erschien. Und die Selbstverständlichkeit, mit der sie die Polster im Profil zur Schau stellt, ist mir hier und da aufgestoßen. Es war nur ein kleines bisschen zu viel des Guten. Nur ein 10 Prozent vielleicht.
Aber es war sie.
Und dann habe ich begonnen, ihre Eigentümlichkeiten zu schätzen und ihre Besonderheiten ganz für mich einzunehmen. Ihre neugierigen Blicke innerhalb von Sekundenfetzen abzuspeichern um die aufflackernde Nuance darin zu wahren und im Moment zu festigen. Ja, ich will alles davon behalten - denn es ist einzigartig. So oft bin ich bei ihr auf Neues gestoßen und dann habe jeden Wunsch nach einem Upgrade losgelassen. So oft hat sie mich neu inspiriert, so oft ließ ich mich auf ein neues Abenteuer mit ihr ein und alle Wege führten zu ihr.
Ich habe begonnen, sie auf ganz eigentümliche, tiefe Weise zu lieben. Wie niemanden zuvor. Denn sie trägt ein spezielles, lunares Leuchten um ihr Gesicht. Proportionen - fast ägyptisch - die wie mit je einer Birnenhälfte die Wangen markant hervorheben und die Nase so winzig erscheinen lassen.
Und sie hat ein kühles Gemüt, das zur Nacht passt und fast ihre Essenz bildet.
Genau so kann ich es ausdrücken - es sind Enigmen um sie herum. So genau kann ich ins Detail gehen - so kann ich es präzisieren. Dann, wenn mich jemand spontan nach ihr fragen würde, wenn ich es herunterbrechen müsste auf ein paar Sätze. Es ist für mich nicht übertrieben, nicht zu weit ausgeholt. Gar nicht! Es ist Schwärmerei. Und ich tue es leidenschaftlich. Und es gab Zeiten, da lehnte sich dieses Nachtgeschöpf an mich und hat mir vertraut.
Ich will nicht, dass sie denkt, dass ich heule. Ich tue es ganz sicher nicht. Es ist nur das Salz, das sich unter meinen Lidern konzentriert.
Ich spüre die raue Beschaffenheit der Reling, klammere mich daran und leite alle Anspannung hinein. Mit einem Mal bildet sie ein abweisendes Gerüst um sich herum und es ist kalt und es lässt mich nicht hindurch.
Sie ist sie so fremd und verändert – innerhalb von Sekunden – dass ich mir sicher bin, dass ich sie verloren habe.
Denn ich weiß: wenn sie eine Entscheidung trifft - in sich - ist das in jedem Fall eine absolute Pattsituation. Wenn sie ihre Meinung ändert, dann geht nichts mehr. Dann steht es in den Sternen und die erreiche ich nicht.
Nein, ich will nicht, dass sie denkt, dass ich heule. Ich tue es ganz sicher nicht. Es ist nur ein Sandkorn, das ich mir an der Küste eingefangen habe. Oder auch zwei oder drei.
„Was hast du getan!“
So hallt es in meinem Kopf, springt von einem Gedankenkonstrukt zum anderen und ich weiß nicht, ob ich es tatsächlich akustisch gehört habe oder ob es der Gewissenskonflikt in mir ist, der mich ganz einnimmt. Ob sie es jetzt gesagt hat oder früher oder gar nicht. Ich kriege es nicht heraus.
Ihr Blick konzentriert sich in der Weite dann trifft er mich kalt, verweilt einige Sekunden mit Eis, dann löst er sich. Sie präsentiert ihre Hüften, setzt sich in Pose, streckt die Brust um mich zu reizen. Die Birnenhälften jetzt vom Schatten einer letzten Wolke hervorgehoben und kontrastiert.
Und ja, ich habe sie betrogen, und ja, sie wusste es die ganze Zeit. Und jetzt schlägt sie strategisch zu.
Ich antworte ihr nicht, ich kann es nicht. Bevor sie Vokale bildet und die Lippen spitzt für kalte Worte habe ich mich in mir selbst verbaut. Ich habe ihr Vertrauen seziert, mir das Beste herausfiletiert. So würde ich es ausdrücken, wenn ich es beichten müsste. Hier im Moment. Wenn es ein Tribunal gäbe, das meine Untreue anprangert und mich auf die Anklagebank setzt. Aber ich bin zu stolz.
Nein, ich will nicht, dass sie denkt, dass heule. Ich tue es ganz sicher nicht. Es ist nur ein Lackpartikel, den ich mir von der Reling ins Auge gerieben habe und die Abendsonne wirft mir einen letzten Lichtkegel ins Sichtfeld.
Sie trägt ein Tuch mit Pailletten um den Hals, gewebt mit Ausläufern, die sich entlang ihrer Hüfte raffen - in Konkurrenz mit dem Sundowner. Löst ihn ab für ein paar Sekunden - um dann doch vorher noch von links einen letzten Schatten zu schenken, damit ich ihren Umriss halten kann, während ich die vertrauten Birnenhälften im Blick habe und in Gedanken nachzeichne und darüber fahre und hier und da verweile.
Und dann tut es mir weh, dass ich sie überhaupt jemals upgraden wollte. Dass ich gekittet, gestrafft und improvisiert hätte. Dass ich materiell so einiges herausgeschnitten hätte - vom Jochbein her - um reduzierte Ebenheit zu schaffen um nachts über eine flachere Linie zu streichen.
Ich schäme mich und ich habe keinen Zugang mehr zu ihr. Ich bin ein Mann, der oberflächlich ist, aber der sich dessen gewahr wird. Es war eine Entscheidung von ihr und sie hält sie aufrecht.
Nein, Ich will nicht, dass sie denkt, dass ich heule. Ich tue es auch nicht. Es sind nur die Tabakbrösel, die mir im Wind in die Augen getrieben wurden. Beidseitig mit einer heftigen Bö - liegt nun auf meiner Zunge bis es im Rachen hängenbleibt, bitter auf den Schleimhäuten.
Sie hält die silberne Kette über die Reling, mit zwei Fingern lässt sie sie hin und her schaukeln und schaut mich direkt an. Sie hat gewartet, Tage, bis sie strategisch und heftig zuschlagen kann. Hat mich umgarnt und ermutigt um dann anzugreifen im richtigen Moment.
Solange habe ich an der Kette herumgetüftelt und ich hatte es ihr nie gesagt. Es war für mich eine heimliche Wiedergutmachung um mein Gewissen zu entlasten. Ein unehrliches Meisterstück. Nicht viel in meinem Leben war so nervenstrapazierend, wie unzählige Ösen zu verknüpfen und miteinander zu verschmelzen. Die Lötpistole und die Stichflamme haben nicht nur einmal meine Finger versengt.
Jetzt hängt mein Werk über dem Abgrund und es baumelt über der Weite.
Sie strapaziert die Zeit, will mich treffen mit Kalkül.
Ich kenne jedes einzelne Element des Colliers. Habe es in den Fingern gedreht, wollte das es glänzt, mein Blick schwindelig von der Lupe. So wichtig ist es mir. Es ist nicht akustisch wahrnehmbar, das Klirren nur in meinem Verstand und die stimmgabelähnliche Vibration vom leichten Metall zittert in der Luft und ich spüre es mit jeder Faser, wenn ich ihre Mondhaftigkeit genauer ansehe und in ihre Richtung strebe. Dann die Windungen meines Verstandes, die mir sagen, es ist besser, sie nicht anzurühren. Mich nicht zu verbrennen. Zu viel meiner Seele darin.
Sie fordert mich heraus. Fixiert mich. Jetzt nur noch ein Zentimeter am ausgestreckten Finger. Sie lässt die Kette immer weiter abrutschen, bis sie ihre glänzenden Nägel erreicht. Ihr Blick hält mich fest und lässt mich nicht los. Jede Sekunde ist Strategie. Der Moment soll betäuben um mich danach umso heftiger zu treffen - pointiert im Faserkern zu stechen und einen Widerhaken in die Membran zu verankern, damit ich es auch wirklich spüre, damit es reißt, wenn sie zieht – und sie zieht tatsächlich!
Ja, es tut mir weh aber ich sage es ihr nicht. Ich will nicht, dass sie denkt, ich würde auch nur eine Träne vergießen. Ich tue es auch nicht.
„Sag mir! Was hast du getan! Sag es mir!“
Jetzt hält nur noch ein blinkender Nagel die Kette und in Millisekunden rutscht es ab. in Richtung Tiefe und dann ist es verschwunden, macht kein Geräusch als es die Wasserlinie trifft.
Das ist der Moment, in dem man verliert.
Alles, was man wollte.
Indem es fällt. Mit einem Mal dahin.
Und ich will nicht, dass sie denkt, dass sich meine Zunge verkrampft hat und ich nicht mehr schlucken kann - und kaum noch Luft bekomme.
Es ist doch nur der Niesanfall, der mich spontan schüttelt. Ich will nicht, dass sie denkt, dass es in mir reißt. Es ist nur die Gischt, die ich eingeatmet habe, und der Schluckauf, der mich packt.
Als sie sich schweigend abwendet ist es für sie erledigt, abgehakt. Überraschend schnell. Ich warte, bis ihr schwarzer Strich in die Dämmerung übergegangen ist, die sie im Zeitraffer einwickelt und in sich aufnimmt, sich mit der Distanz in Schattenflächen auflöst.
Dann gebe ich sie frei in ihre Materie.
Es sitzt. Es hat mich getroffen! Ich habe es verstanden.
Der Abend überzieht das Deck mit Dämmerlicht und dunklen Schwaden.
Ich lehne mich an, presse die ganze Luft heraus. Gerade so, dass meine Zunge sich verkeilt und knödelt und ich kurz richtig Panik bekomme.
Und dann vergeht die Zeit und ich habe kein Gefühl mehr.
Der Mond blass, ganz anders als alle anderen nehme ich ihn wahr. Immerhin habe ich einen Referenzpunkt, denke ich - auch wenn ich nicht darankomme. Aber ich kann ihn sehen. Er hängt in der Nacht und Kühle, die ich kenne.
Die Dunkelheit ist warm und ich befinde mich in einem Zustand, den ich nicht beschreiben kann. Meine Augen hängen am Mond bis ich mich nicht mehr konzentrieren kann, sein Licht ist kalt geworden und rivalisiert mit der tropischen Nachtwärme, kreiert einen Strudel der meinen Kreislauf schwindeln lässt. Mit einem flauen Magen trete ich hinüber und ich übergebe mich im Schwall auf das Deck, starre auf die Pfütze bis ich einschlafe.
Am Morgen fehlt jede Spur von ihr. Nichts in der Kajüte, kein Anzeichen, dass sie jemals da war. Ich frage mich, ob ich geträumt habe. So hat es mich mitgenommen. Ich torkele zum Heck, aber sie ist nicht da. Ich sehe nirgends irgendeinen Hinweis, der ihre Existenz bestätigt.
Am Nachmittag stehe ich an der Reling. Ein Metallhut reflektiert und sticht mich wieder von oben. Irgendeine Art Metall reflektiert besonders gleißend. Aber es lässt meine Augen nicht tränen.
Das Schiff ist leise. Ich plane die nächsten Tage, will vergessen, wie schön es mit ihr war. Noch immer weiß ich nicht, ob alles ein Traum war, ob es mir den Verstand zerrissen hat. Aber nach allem habe ich einen Referenzpunkt von ihr, jeden Abend taucht er auf auch wenn nun Ewigkeiten entfernt, gehalten von der Dunkelheit. Von der Nacht, die ich liebe. Die Nacht, die ich kenne - mit allen Enigmen.