Mogusch

Kapitel 1 Akademie der dienenden Künste
1
Reuben Federspitz drehte gedankenschwer seine Runden, nein, nicht in der freien Natur, wo vielerlei Ablenkung sein intensives Nachsinnen stören könnte. Er zog sein Studierzimmer vor, hier fanden seine Füße den Weg von selbst, vorbei an seinem überladenen Schreibtisch, seiner Bibliothek, die aus allen Nähten platzte und seiner Vitrine mit magischen Exponaten. Nur kurz blieb sein Blick an seiner neuesten Errungenschaft hängen. Er fragte sich, ob ihn dieser Stein dem Rätsel des Purpurgebirges näher bringen würde? Dann nahm er seinen Rundgang wieder auf.
Seine Brille hatte er auf die Stirne hochgeschoben, seine visuelle Wahrnehmung war momentan nicht gefragt, vielmehr brauchte er freie Bahn, um sich in den Nasenrücken zu kneifen. Von dieser Angewohnheit machte er immer Gebrauch, wenn er in Gefahr lief, sich in seinen Gedankengängen zu verlieren oder gar in einen Trancezustand abzugleiten. Das war der Nachteil seiner großen Geistesgaben. Sein Vorstellungsvermögen und Ideenreichtum waren riesig. Er ertappte sich immer wieder dabei, dass er ausufernden Eingebungen und Einfällen nachging, statt sich aufs Wesentliche oder Naheliegende zu konzentrieren. Deshalb war ihm dieser Griff ins Blut übergegangen, sein quasi automagischer Weckruf rettete ihn davor, die Bodenhaftung zu verlieren und in andere Welten zu entfliehen.
Gerade jetzt konnte er es sich nicht leisten, sich in Details zu verlieren, die Verantwortung lastete schwer auf seinen Schultern. Längst hatten ihn die Schattenseiten des Dekanats eingeholt. Es war bei weitem nicht so einfach, seinen Fachbereich innerhalb der Akademie zu leiten, wie er sich das anfänglich vorgestellt hatte. Magie war ein Studienfach, das vielerlei Begehren weckte. So musste er sich mit Studenten herumschlagen, die möglichst schnell Zaubersprüche erlernen wollten, um ihre Mitwelt ins Staunen zu bringen, wenn nicht gar in Angst und Schrecken zu versetzen. Eine seiner undankbaren Aufgaben war deshalb, die Streu vom Weizen zu trennen und die förderungswürdigen Anwärter herauszusuchen. Leider mischten sich in dieses Auswahlverfahren immer wieder Kollegen ein, die Geldgebern der Akademie gefällig sein wollten. Derartige Konzessionen waren gang und gäbe, die Gönner waren nicht restlos uneigennützig, ganz im Gegenteil, sie versprachen sich vielmehr einen Rückfluss ihrer Investitionen. Zu diesem Zweck regten sie Studienrichtungen an oder gaben sie vor. Sie nahmen Resultate für sich in Anspruch und versuchten, die besten Studienabgänger in ihre Dienste zu stellen. Dass die Akademie sich auf diese fragwürdigen Praktiken einließ, war ihm ein Dorn im Auge. Zu seinem Leidwesen hatte Reuben erst mit der Zeit realisiert, was alles die private Finanzierung der Akademie mit sich brachte. Für den Dekan bekam so die Bezeichnung „Akademie der dienenden Künste“ eine unheilvolle Bedeutung.
Jedenfalls verhieß die Bewerbung von Nestor, die er in den Händen hielt, nichts Gutes. Dessen Vater Cäsar Trampell war zu Reichtum und Macht gekommen, seinem Sohn ließ er alles durchgehen, und sei er noch so flegelhaft und fies. Ausgerechnet diesem Rowdy, der keine Hemmungen hatte, andere Leute nach Lust und Laune zu piesacken, sollte er Magie beibringen. Dabei war es ihm doch ein grosses Anliegen, einen unheilvollen Gebrauch von magischen Künsten auszuschließen.
Als er seine Bedenken beim Studienrat anbringen wollte, hatten diese abgewunken. „Mach dir keinen Kopf, Einfluss ausüben gehört nun mal zum System. Unsere Gönner dürfen einen Gefallen erwarteten, wenn sie die Akademie mit namhaften Beträgen unterstützen. Wir verfügen nur über beschränkte finanzielle Ressourcen, wenn wir weiterhin erfolgreich sein wollen, müssen wir in den sauren Apfel beißen und ihn durchwinken.“
Reuben war über solche Machenschaften verärgert und fürchtete um den Ruf der Fakultät. Seine Sorgen setzten sich in einen Bewegungsdrang um. „Autsch!“ Reuben war unversehens gegen den Besucherstuhl geprallt. Wieso steht der auf einmal mitten in meinem Weg? Hat da Carlo seine Pfoten im Spiel? Jedenfalls lag er unverschämt hingefläzt auf dem Stuhl und gab sich den Anstrich, als ob er kein Wässerchen trüben könnte. Mental gab ihm Reuben zu verstehen: „Du bist mir ein schöner Spaßvogel, glaub nur nicht, dass ich dich nicht durchschaut habe. Was soll das, du solltest doch mir zu Hilfe kommen und nicht mich malträtieren.“
Maliziös öffnete Carlo ein Auge. „Wer wagt da, mich in meinem Schönheitsschlaf zu stören. Kannst du nicht aufpassen, wo du hinstolperst!“
„Von wegen stolpern, du hast dieses Hindernis gerade eben hingezaubert. Hinfort mit dir!“
„Stell dich nicht so an, du hattest einen Boxenstopp bitternötig, sonst drehst du ewig im Studierzimmer deine Runden, ohne zu einem Ziel zu kommen, weder gedanklich noch räumlich. Als ich dir riet, du solltest dich mal gehen lassen, meinte ich nicht, dass du im Kreis laufen und Gedanken wälzen sollst. Schau dir nur deinen Teppich an, er nimmt deine Wanderungen nicht gut auf, im Bereich deiner Umlaufbahn ist er richtig fadenscheinig und abgewetzt.“
„Du hast gut reden, im Prinzip hast du mir alles eingebrockt, ohne dich müsste ich mich nicht mit diesen Scherereien herumschlagen.“
Carlo nahm ihm seinen Unmut nicht übel, als Mogusch hatte er einen direkten Draht zu Reubens Unterbewusstsein und war vollauf im Bild, wie sehr Reuben ihn und alles, was die Verbindung mit einem Magiewesen mit sich brachte, schätzte.
Reuben hingegen dachte darüber nach, wie und wo er mit Carlo zusammengefunden hatte. Lag es an seinem Interesse an der Magie? Die Rätsel, die diese universelle Kraft umgaben, hatten ihn schon immer fasziniert und seinen Intellekt herausgefordert. Schon in seiner Studienzeit beschäftigte ihn die Frage, wie Neues oder Kreatives entsteht. Stimmt die banale Aussage, dass von nichts nichts kommt, oder lag im Nichtseienden vielmehr eine Zone der Unschärfe, die ein Potential der Möglichkeiten birgt? Wie konnte aus rein geistiger Suche etwas bahnbrechend Neues in die Welt gebracht werden, könnte es etwa sein, fragte er sich, dass Gedanken andere Dimensionen erschlossen. Eines führte zum anderen, irgendwann kam er zu einem Analogieschluss und fragte sich, ob es sich mit der Magie nicht genauso verhielt und diese ebenfalls aus dem Unergründlichen schöpfte. Dann zerbrach er sich den Kopf darüber, ob Magie ein Eigenleben hat oder ob erst der Gebrauch sie zum Leben erweckt wird. Er verfolgte alles, was sich über die Natur dieser Phänomene finden ließ. Dass die Forschungsergebnisse zu diesem Thema meist unter Verschluss gehalten wurden, schreckte ihn nicht ab, sondern stachelte seinen Wissensdurst nur noch mehr an. Kein Wunder also, dass er sich in seiner Doktorarbeit mit dieser ebenso faszinierenden wie mystischen Materie beschäftigte. Im Nachhinein fragte er sich, ob es nicht eine ihm innewohnende magische Entsprechung war, die ihn zu diesem Rätsel anregte und auf die Suche nach einem tieferen Verständnis drängte. Seine Dissertation wurde in Fachkreisen hoch gelobt und er wurde ermutigt, eine akademische Laufbahn einzuschlagen. Dabei wurde ihm auf den Weg mitgegeben, dass man für eine Forschungskarriere sich mit Vorteil vorerst auf Wanderschaft mache.
Ihm war das entgegengekommen, er wollte etwas von der Welt sehen und vor allem unterwegs in Bibliotheken nach Hinweisen auf Magie suchen. Unterwegs wurden ihm Schauergeschichten über das Purpurgebirge zugetragen. Es sei ein geheimnisumwitterter Ort, wo Monster ihr Unwesen treiben und ungeahnte Schätze gehoben werden konnten. Ein unwiderstehlicher Drang packte ihn, diesem Gerücht auf den Grund zu gehen. Zunächst führte ihn sein Weg entlang der Wälder, da er einen überblickbaren Aufstieg ins Gebirge suchte. Plötzlich horchte er auf, klang da nicht ein klägliches Maunzen hinter einem Baum? Vorsichtig näherte er sich der Geräuschquelle. War es ein verirrtes Kätzchen, das sich vor ihm aus einer Schlingpflanze zu befreien versuchte? Kaum hatte es ihn erblickt, ertönte eine vorwurfsvolle Stimme in seinem Kopf. „Wieso kommst du erst jetzt, ich warte schon lange auf dich. Aus Langeweile habe ich ein wenig herumgeschnuppert, das Ergebnis hast du vor dir.“ Reuben war verblüfft von dieser völlig unerwarteten Ansprache. Doch damit nicht genug, als er zögerte und dem Kätzchen nicht sofort zu Hilfe eilte, ertönte die empörte Stimme: „Was guckst du so blöd, hol mich da raus“! Was sich leider nicht als gar nicht so einfach erwies. Nicht nur, dass die fleischfressende Pflanze ihre Beute nicht preisgab. Angesichts des größeren Happens, der sich in ihre Reichweite wagte, hatte sie erst recht Appetit bekommen. Weitere Tentakel schlängelten sich nun auf ihn zu. Jetzt entspann sich ein grotesker Kampf, der beinahe einem Tanz glich. Reuben sprang auf und ab, um den Fangarmen zu entgehen. Gleichzeitig bückte er sich, um das Kätzchen zu packen. Als er die Schlinge um das Kätzchen zerriss, wurden seine Füße umschlungen. Als er sich losreißen wollte, stürzte er. Doch das Unglück war sein Glück, denn beim Fallen gab es einen so heftigen Ruck, dass sich die Tentakel von ihm lösten. Er sprang auf und wieder zurück. Schon war es aus der Gefahrenzone.
Ein zufriedenes Kätzlein leckte ihm die Hände, die schon vom Verdauungssaft der Pflanze gerötet waren. „Na, was hältst du von uns? Wir sind doch ein wehrhaftes Gespann“, schnurrte sie ihm zu.
Reuben kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Träume ich oder erlebe ich das wirklich? Um sich zu vergewissern, kniff er sich kräftig in den Nasenrücken. „Jetzt bin ich aber beleidigt“, kam sofort die Antwort auf seine unausgesprochene Frage, „wenn du nicht an mich glaubst, nehme ich das persönlich.“
Reuben setzte seine Brille wieder auf, die er beim Sturz verloren hatte. Alsdann musterte er dieses vorlaute Wesen. Jetzt ging ihm ein Licht auf. Das Kätzchen musste ein Mogusch sein. Deshalb konnten sie sich verständigen.
Über Mogusche hatte er in seinem Studium einiges mitbekommen. Aber weil sie so selten waren, hatte er sich mit diesem Phänomen nicht weiter befasst. Jetzt war er gezwungen, das nachzuholen. Aber nicht hier, vom Purpurgebirge hatte er die Nase voll. Seine Suche nach einer Übernachtungsgelegenheit führte ihn in die Stadt am Spiegelsee. Diese Stadt lag am Fuße des Purpurgebirges, eingebettet zwischen See, Fluss, lichten Wäldern und der landwirtschaftlich fruchtbaren Ebene. Der Fluss bildete zugleich die Grenze zum Nachbarland. Der Fund wertvoller Mineralien im Gebirge und der Grenzverkehr hatten den Grenzort bekannt gemacht. Der eigentliche Aufschwung kam, als die Bewohner entdeckten, dass die hiesigen Bäume wertvolles Holz von unvergleichlicher Maserung lieferten. Die gekonnte Verarbeitung dieser Rohstoffe machte den Ort berühmt. Möbel und Edelsteine aus dieser Gegend waren begehrt, der Handel damit und der Grenzverkehr über den Fluss brachten der Stadt einen erstaunlichen Wohlstand. Zahlreiche Residenzen zeugen vom Reichtum der Bürger. Die Stadt war zumindest in ihren Anfängen weltoffen. Mit der Zeit genügte den Noblen der Stadt ihr Ansehen nicht mehr, der Ruf nach einer Universität wurde laut. Deshalb entstand hier dank privater Initiative die Akademie der dienenden Künste. Fernab von der Landeshauptstadt war es nicht einfach, Lehrkräfte und Studenten zu gewinnen. Als Besonderheit wurde deshalb der Unterricht in magischen Künsten aufgenommen.
Als sich Reuben in der Stadt nach einer Unterkunft umsah, stieß er auf einen Aushang der Akademie. Sie suchte Lehrkräfte, die in magischen Künsten bewandert waren. Er fragte sich, ob er sich das zumuten durfte. Sein Mogusch war belustigt: „Wer wäre denn geeigneter als du, du hast doch mich!“
Nun konnte Reuben seine Forschungen über die Mogusche nicht länger aufschieben. In seiner Unterkunft studierte er ein Werk über diese Magiewesen. Das Buch hatte er sich aus der Bibliothek der Akademie geliehen. Der Zugang zur Büchersammlung wurde ihm gewährt, als er sein Interesse an der ausgeschriebenen Lehrstelle bekundete.
Was dieses Werk zu Tage förderte, war nahezu verstörend. Die Herkunft der Mogusche war bis dato ungeklärt. Verbindungen mit Menschen waren sehr selten, über das Zusammengehen existierten nur wenige Informationen. Es schien, als ob diese magischen Wesen ihre Gefährten nicht frei wählten, sondern von einer unterschwelligen Anziehungskraft geleitet wurden. Man vermutete, dass der menschliche Part über eine überragende magische Begabung verfügen musste.
Er vertiefte sich weiter in das Werk. Mogusche seien bekannt dafür, sich auf Lebenszeit an ihren Partner zu binden. Und was Lebenszeit für ihre Gefährten hieß, ginge weit über ein gewöhnliches Menschenalter hinaus. Entscheidend für die Lebensdauer des menschlichen Partners sei, dass sein Interesse und Verständnis für die Zusammenhänge von Welt, Kosmos und Geist nicht erlosch und er sich immer wieder neuen Fragen stelle. Solange diese Neugier nicht versiege und sich keine tödliche Langeweile einstelle, sei die Chance hoch, dass sich das Lebensalter des Bindungspartners über einen langen Zeitraum erstrecke.
Weiter hieß es, dass sich die Magiewesen meistens in einer Form manifestierten, die zur Eigenart des auserwählten „Mündels“ passte. Sie seien aber nicht an ihre einmal gewählte Form gebunden. Und dann kam Reuben zu der Stelle, die ihn naturgemäß am meisten interessierte. Diese Mogusche würden ihre „Gefährten“ sowohl in geistiger als auch körperlicher Hinsicht unterstützen und deren magisches Potential enorm verstärken.
Mogusche würden Ihre Kräfte mit Bedacht einsetzen, hieß es weiter. Für sie gelte der Grundsatz, je weniger Magie auf die Welt einwirke, desto geringer würden die Verwerfungen, die Auswirkungen auf die Zukunft hätten. Beim Kräfteeinsatz achte ein Mogusch zudem darauf, dass die Folgen wie von Menschhand verursacht aussahen. Trotzdem seien sie ganz und gar nicht harmlos und äußerst wehrhaft, wenn es die Umstände gebieten.
Reuben war mehr als bewegt gewesen, dass ihn ein Mogusch erwählt hatte. Seine Mutmaßung, dass dies seine Zukunft in ganz andere Bahnen lenken würde, hatte sich bald bewahrheitet. Es fing damit an, dass er sich der Herausforderung stellte und sich für die Lehrstelle bewarb. Als das Direktorium realisierte, dass ihm eines der raren Magiewesen zur Seite stand, wurde er umgehend zum Inhaber des Magielehrstuhls berufen. Für die Akademie war es ein Gewinn, dass sie Reuben Federspitz engagierte. Für Reuben war die gezielte Entwicklung der magischen Fähigkeiten bei seinen Studenten umso mehr ein Gebot, als er in seinen Jugendjahren eine Unterstützung in dieser Hinsicht vermisste. Seine Vorlesungen waren legendär. Viele Studienabgänger verdankten ihm ihre umfassende Bildung und namentlich die Ausbildung ihres magischen Potentials. So kam es, dass sich unter seiner Ägide sein Lehrfach zum Hauptmagnet der Akademie mauserte. Der Schaffensfreude und dem Erfolg von Reuben Federspitz wurde sich die Universitätsleitung inne, deshalb wurde ihm später der Dekantitel angetragen. Und genau daran hatte er nun zu beißen. Je länger je mehr war es ihm ein Gräuel, welche Forderungen an ihn herangetragen wurden. Er, der sich für eine individuelle Förderung der Studierenden einsetzte, konnte nicht hinnehmen, wenn Anliegen von Schirmherren eine Sonderstellung genossen, während die grundlegende Wissensvermittlung an die Studenten in den Hintergrund treten mussten. Doch das war nur die eine Seite der Medaille, inzwischen war er sich innegeworden, dass den Studierenden noch ganz andere Gefahren drohte.
In jüngster Zeit war ruchbar geworden, dass der Lichtbringerorden es auf magiebegabte Kinder abgesehen hatte. Eltern klagten immer öfters, dass sie sich mit Agenten dieses Ordens konfrontiert sahen. Selbst magiebegabt, waren diese Agenten geschult, talentierte Kinder ausfindig zu machen und die Eltern dazu zu verleiten, ihre Kinder dem Ordensinternat anzuvertrauen. Kinder oder Jugendliche, die in dieses Internat eintraten, wurden den Eltern entfremdet, im Interesse des Ordens geschult und für ihre undurchschaubaren Zwecke vereinnahmt. Ein Ausscheiden aus diesem Orden sehr schwer zu bewerkstelligen war, wenn man einmal in diesen autoritären Strukturen gefangen war. Weigerte man sich hingegen, wurde man vom Unglück verfolgt.
Umso mehr freute sich Reuben über zwei vielversprechende Studenten, deren Eltern sich nicht einschüchtern und ihre Kinder in der Akademie immatrikulieren ließen.
Der eine, Gerrit, besaß eine ganz besondere Gabe. Er wurde nicht von Pech, sondern sprichwörtlich vom Glück verfolgt. Wie ihm seine Eltern berichteten, deuteten von Anfang an diverse Vorkommnisse auf ungewohnte Fügungen hin. Schon seine Geburt spielte sich auf wundersame Weise ab. Die Mutter war hochschwanger, die Geburtswehen hatten eingesetzt. Deshalb waren die Eltern auf dem Weg zur Heiler-Klinik. Starke Wehen veranlassten sie, die nächste Unterkunft aufzusuchen. Hier kam Gerrit unbeschwert zur Welt, während die Klinik einer Feuersbrunst zum Opfer fiel. Im Kleinkinderalter waren seine Eltern erstaunt, was sich so alles in seiner Reichweite einfand. Schnuller, Essbares und Spielsachen fanden unverhofft den Weg zu ihm. Für Gerrits Eltern stellte sich bald einmal heraus, dass Gerrit nicht nur von Unglücksfällen verschont bliebt, sondern dass denjenigen, die ihm nachstellten oder Übles wollten, Unfälle oder schmerzhafte Verhängnisse zusetzten. Raub- und andere gefährliche Tiere gingen ihm aus dem Weg, sie hatten ihre Lektion gelernt. Mit der Zeit hatte sich Gerrits eine spezielle Gabe herumgesprochen. Kein Wunder, dass der Lichtbringer-Orden auf ihn aufmerksam wurde. Ihre vehemente Weigerung, Gerrit für die Ausbildung in diesem Orden herzugeben, ließ der Orden nicht auf sich sitzen. Seither machte der Orden ihnen das Leben schwer.
Die andere, Lyss, war mit einer außergewöhnlichen Empathiegabe gesegnet. Sie hatte sich an dieser Akademie eingeschrieben, da ihre ebenfalls magiebegabte Patin darauf bestand. Sie hatte schon früh etwas Bedeutsames in Lyss gesehen. Ihr war aufgefallen, dass Lyss als Kleinkind Leute, die auf Besuch kamen, intensiv beobachtete. Waren es die Gesichtszüge, die aus Mimik oder Gestik zum Ausdruck kommenden Gefühle, die sie fesselten? Jedenfalls war sie immer zur Stelle, wenn der Familie gutgesinnte Leute zu Gast waren, umgekehrt verdrückte sie sich klammheimlich, wenn ihre Ahnung ihr dazu riet. So hatte sie auch letzthin ein Besuch eines Mannes mit strengen Gesichtszügen verängstigt. Selbst der Mutter blieb er in unangenehmer Erinnerung, da er gleichzeitig etwas Bedrohliches und Anmaßendes an sich hatte. Er hatte sich nach dem Nachbarhof erkundigt. Obwohl Lyss nicht direkt zugegen war, kam es der Mutter vor, als ob er auch bei ihnen etwas sondierte. Nachdem sie ihm die erheischte Auskunft gegeben hatte, gab es für ihn keinen Grund, sich länger bei ihnen aufzuhalten. Lyss vermittelte er nicht nur ein ungutes Gefühl, gleichzeitig hatte er etwas an sich, dass in ihr eine Resonanz weckte. Wie sich nachträglich herausstellte, war er ein Agent des Lichtbringer-Ordens, der auf dem Weg zu Gerrits Eltern war. Bald darauf sprach sich herum, welche unangenehmen Dinge einem widerfahren konnten, wen man diesem Orden nicht gefügig war. Dies veranlassten Lyss‘ Eltern, den Entscheid über Lyss‘ weitere Ausbildung nicht mehr aufzuschieben und dem Ansinnen der Patin nachzugeben, sie an die Akademie zu schicken. Wie sie Reuben mitteilten, hatte ihnen den Entscheid ungemein erleichtert, dass diese Akademie für die Entwicklung individueller Talente bekannt, ja berühmt war.
„Heh Reuben, kneif dich mal in den Nasenrücken, mich dünkt, du bist wieder einmal weggetreten. Komm schon, du brauchst frische Luft.“
Statt sich zu kneifen, rieb Reuben sich sein angeschlagenes Knie.
„Du willst doch wegen dieses Wehwehchens nicht schlapp machen, komm schon, wir werden gebraucht, auf dem Übungsfeld geht etwas vor sich, das uns interessieren müsste.“
Reuben ließ sich nicht lange bitten, wenn sein Mogusch etwas witterte, hatte es meist mit Magie zu tun. Als er ins Freie trat und sich umsah, fiel sein Blick auf die üblicherweise um diese Zeit stattfindenden Nahkampfübungen. Carlo war bereits unterwegs dorthin. Am Rande des Geschehens hielten sich zwei Zuschauer auf. Es genügte der einen nicht, passiv die Wettkämpfe zu verfolgen. Sie ahmte die Bewegungen nach und Reuben war sofort klar, dass sie ein natürliches Talent für diese Kampftechniken hatte. Ihre Imitationen von Stellungen und Griffen waren perfekt, die Art wie sie sich fallen ließ und blitzschnell wieder in aufrechter Stellung dastand, war einmalig. Doch ihre indirekte Teilnahme hatte die Aufmerksamkeit des Ausbilders erregt. Gerade ging er mit einer grimmigen Miene auf sie zu.
„Heh, ihr beiden Störenfriede, was macht ihr hier, der Zutritt ist nur Studenten gestattet. Weg mit euch.“
Es grenzte beinahe an ein Wunder, fast augenblicklich waren die beiden verschwunden. Wirklich? Carlo jedenfalls ließ sich nicht beirren und rieb sich offensichtlich an etwas Unsichtbarem.
„Na komm schon Reuben, begrüß die beiden endlich, bevor es zu spät ist.“
Reuben schaute genauer hin, zwei Gestalten kamen schattenhaft zum Vorschein. Sie waren gerade im Begriff aufzubrechen. Na sowas, da ist ja ein beachtliches Talent am Wirken, sagte er sich.
„Nicht nur“, gab ihm Carlo zu verstehen, „ein Moguschkollege hat da auch seine Finger im Spiel.“
Von wegen Störenfriede, die beiden mit ihrem Potential und Magiewesen wären eine enorme Bereicherung des diesjährigen Studentenjahrganges. Er musste sie unbedingt dazu bewegen, sich in der Akademie einzuschreiben. Gewinnend ging er auf sie zu. „Es würde mich freuen, eure Bekanntschaft zu machen. Hätten Sie kurz Zeit für mich?“ 2

Jesper war sprachlos, zuerst machte sich diese unverfrorene Katze an ihn heran, dann wurden sie auch noch von einem Typ angesprochen, bei dem es sich vermutlich um einen Dozenten handelt. Wieso konnte dieser sie wahrnehmen, was war nur mit Schleichi los, bisher hatte sie ihn doch immer vor unerwünschten Blicken verbergen können. Immerhin, dieser Dozent kam deutlich freundlicher auf sie zu als der engstirnige Trainer. Und wie wenn der Typ seine Gedanken mitbekommen hätte, nahm er wieder den Gesprächsfaden auf.
„Ich kann sie beruhigen, auch ich habe ein Magiewesen zum Gefährten, der hat mir ihren Mogusch entdeckt. Dürfte ich ihren Mogusch einmal ansehen?“
Jesper stand sprachlos da, Paula stupste ihn und forderte ihn auf: „Sag doch mal etwas!“
„Äh“, doch bevor er sich äußern konnte, schlängelte sich Schleichi aus seiner Jackentasche und ringelte sich um seinen Arm.
„Ja, das macht Sinn,“ fand der Dozent, als er der Blindschleiche ansichtig wurde. „Wenn es ihnen nichts ausmacht, würde ich gerne mit Ihnen ein Gespräch führen, aber nicht hier, in meinem Studierzimmer ist es geruhsamer und privater.“
Obwohl er diese Einladung äußerst freundlich formulierte, hatte sie etwas an sich, dass Jesper eine Ablehnung verunmöglichte. Der Dozent verfügte über eine überwältigende Autorität, die keinen Widerspruch aufkommen ließ. Die Reaktion des Trainers bestätigte ihn in seiner Auffassung, auch der wagte nichts zu erwidern, obwohl er dem Dozenten feindselig hinterherblickte. Es lag auf der Hand, er war erzürnt, weil der Dozent ins Geschehen eingegriffen und seine Anordnung aufgehoben hatte. Jesper schwante, dass dieser diese Einmischung nicht auf sich beruhen lassen würde und es für sie ein Nachspiel haben könnte.
Der Dozent leitete sie an der Mensa und den Studentenunterkünften vorbei zum großen Eingangsportal, die in ein imposantes Foyer führte. Über eine Treppe gelangten sie zu einem Wandelgang, den der Dozent entlangschritt. Jesper achtete sich weder den lauschigen Arkaden noch dem altehrwürdigen Bauwerk. Er war vollauf damit beschäftigt, sich zu orientieren. Er wollte vorbereitet sein und ihren Fluchtweg vor Augen haben. Er war nicht so vertrauensselig wie Paula, die den Dozenten unterwegs mit Fragen bombardierte. Jesper fühlte sich nicht wohl, er fühlte sich beraubt, seiner Freiheit, seiner Geheimnisse, seiner Unsichtbarkeit. Paula hingegen war happy, endlich schenkte ihr jemand von der Akademie Beachtung.
Paulas Begeisterung wunderte Jesper nicht, sie hatte ihm diese Geschichte eingebrockt. Ihr hatte es die Akademie angetan, seit sie auf den zur Universität gehörenden Turm hochgestiegen war. Dieser ragte hoch über die anderen Häuser hinaus und war auch gewöhnlichen Bürgern zugänglich. Ein weiter Rundumblick über die Stadt, den Spiegelsee, das Purpurgebirge und das landwirtschaftlich geprägte Umland belohnte die Anstrengung des Aufstiegs. Wie ihm Paula anvertraut hatte, hatte sie sich nicht in diesem Ausblick verloren, sie hatte das emsige Treiben im geräumigen Innenhof der Akademie wie magnetisch angezogen. Studenten waren da herumgestanden oder hatten in lockeren Gruppen im pflanzenumrankten Arkadenhof gesessen und eifrig diskutiert. Das war der Initialfunke, der Paula aus ihrem Dornröschenschlaf geweckt hatte. Bisher hatte sie sich treiben lassen, nun war ihre Wissbegier geweckt worden. Genau diese Faszination war ihr damals zum Verhängnis geraten und der Grund, weshalb Jesper ihr begegnet war. Unvermittelt zogen sich seine Mundwinkel nach oben, als er sich ihrer ersten Begegnung entsann.
Er war wieder einmal auf Diebestour unterwegs und wurde im vornehmen Stadtviertel Zeuge eines Handgemenges. Solche Tumulte waren für ihn Gold wert, sie waren die ideale Ablenkung, um sich unbemerkt an fremden Taschen zu schaffen machen. Doch diesmal schien das Gerangel nicht viel herzugeben, es war nur eine Rauferei unter Jugendlichen. Eine Bande hatte einen Jungen eingekreist und waren dabei, ihn nieder zu prügeln. Er wehrte sich, so gut es ging, selbst als er von hinten gepackt wurde, gab er nicht auf. Er trat mit dem Fuß auf den Rist des einen Peinigers und kniff den anderen in den Oberschenkel. Aus Schreck ließen sie ihn los. Jesper musste zugeben, er machte seine Sache nicht schlecht. Doch gegen die Übermacht hatte er keine Chance, sie bekamen ihn wieder zu packen und der Anführer holte aus, um ihm eine Faust ins Gesicht zu verpassen. Jesper war klar, das würde unschön. Tja, das Leben war hart, das hatte er zu Genüge selbst erfahren. Schon wollte er sich abwenden, als er ein reißendes Geräusch hört. Das Opfer hatte sich im letzten Moment geduckte und nach vorne geworfen. Dabei zerriss das fadenscheinige Oberkleid und enthüllte, dass es sich um ein Mädchen handelte. Die Bande grölte und wollte ihr erst recht ans Leder. Das darf doch nicht wahr sein, jetzt rückt diese elende Bande auch noch einem Mädchen zu Leibe.
Normalerweise wäre er nicht dazwischengefahren, er hielt sich lieber bedeckt, seine Anwesenheit verriet im Nachhinein nur die Abwesenheit von Geldsäckeln & Co. Doch diesmal hatte sich in Jesper ein Beschützerinstinkt geregt, denkbar war, dass seine magische Gefährtin diesen Impuls in ihm noch verstärkte. Und so hatte er sich in den ungleichen Kampf gestürzt und kräftig ausgeteilt. Selbst seine Vertraute hatte mitgeholfen, um der Bande einen Denkzettel zu verpassen. Ihnen war Hören und Sehen vergangen, als sie auf einmal an der eigenen Haut spürten, wie Schläge sich anfühlten. Einem Angreifer knallte ein Brett an den Kopf, ein anderer jaulte auf, weil ihn etwas gestochen hatte. Ein Dritter wurde zu Fall gebracht, weil irgendetwas seine Füße umschlungen hatte. Und während sie sich nach allen Seiten suchend umsahen, kriegten sie schon wieder eins aufs Dach. Diesen Schlägen aus dem Nichts hatte die Bande nichts entgegenzusetzen, die Mistkerle gaben Fersengeld. Das Girl hingegen hatte komisch aus der Wäsche geguckt, als er aus dem Schatten heraustrat und sie ansprach:
„Na, auf was wartest du, komm schon, hier können wir nicht bleiben!“
So lernte Jesper Paula kennen. Ihm war es damals vorgekommen, als würde er sie als Schwester adoptieren. Zu zweit machten sie von da an die Stadt unsicher. Paula war weiterhin wissbegierig und versuchte, allen Geheimnissen auf die Spur zu kommen. Seit sie die Akademie von weitem betrachtet hatte, lag sie ihm ständig in den Ohren, diese Bauten und Anlagen näher zu inspizieren. Er hatte sich erweichen lassen. Gemeinsam hatten sie den nahe gelegenen Turm erklommen und das rege Treiben unter ihnen interessiert betrachtet. Bald einmal hatte es Paula nicht mehr genügt, außen vor zu bleiben. Sie verzehrte sich danach, in diesen Betrieb einzutauchen und die Bauten von innen zu betrachten. Jesper hingegen hielt nichts von Orten, wo Menschen sich überall aufhielten oder unerwartet auftauchten. Paula hatte alle Register gezogen, um ihm den Besuch schmackhaft zu machen.
„Sei kein Spielverderber, die Studenten sind eh mit ihren Studien beschäftigt. Die Dozenten wiederum kennen nicht alle Studenten und werden uns in Ruhe lassen“.
Jesper ließ sich breitschlagen, er zählte darauf, dass sein Magiewesen, Schleichi, sie so gut wie unsichtbar machen würde. Tatsächlich hatte kein Mensch von Ihnen Notiz genommen, als sie der Akademie eine Visite abstatteten. Doch es blieb nicht bei dem einen Mal, immer wieder drängte Paula Jesper, dort vorbeizuschauen und sein Talent einzusetzen, um auch in die Hörsäle zu kommen. Ihr Verständnis für die gelehrten Fächer hielt sich zwar in Grenzen, dafür war Paula Feuer und Flamme für die Lektionen in Kriegskünsten. Vor allem die im Freien stattfindenden Nahkampfübungen waren ein ungeheurer Anziehungspunkt für sie. Gelernt wurde eine Technik, welche die Angriffsenergie des Gegners ins Leere laufen ließ oder diese sogar gegen ihn selbst wendete. Statt roher Gewalt war Geschicklichkeit und Beweglichkeit gefragt. Paula war von dieser Technik fasziniert.
„Damit könnte ich sogar stärkere Angreifer besiegen“, teilte sie Jesper mit.
Dieser war misstrauisch. „Ist dein Interesse etwa Rachegelüsten geschuldet, willst du es einem speziellen Straßenclan heimzuzahlen?“ Bei ihrer Vorgeschichte wäre das durchaus verständlich.
„Ach was, Kampfkunst liegt mir einfach. Ich möchte sie perfektionieren, nicht nur, um mich gegen Übergriffe zu wappnen. Wenn niemand in der Lage ist, sich gegen Machtmenschen zu wehren, werden diese alles mit ihrer Gewalt überziehen und sich über jedes Recht hinwegsetzen.“
Jesper war sprachlos, mit dieser Argumentation hatte er nicht gerechnet. Aber es erklärte den Eifer, den Paula an den Tag legte.
Sie bewegte ihn immer öfters dazu, mit ihr die besagten Übungen aufzusuchen. Allmählich hatten sie die gebotene Wachsamkeit abgelegt, sie gaben sich immer lockerer im Akademiegelände. Allerdings hatte Jesper Paulas Eifer unterschätzt. Um ja nichts zu verpassen und die Übungen möglichst exakt zu kopieren, hatte sie sich immer näher an die Kämpfer gewagt. Und heute war das einmal zu viel, jetzt hatten sie die Bescherung. Jetzt hatte man sie gefasst und sie schauten einer Überprüfung mit unsicherem Ausgang entgegen.

2 „Gefällt mir“