Die Sonne schien friedlich auf sie hinab. Sie saß allein im Sandkasten, beschäftigte sich mit ihren Förmchen und träumte von Sandburgen am Meer, inmitten der Stadt. Ihre Mutter sah ihr vom Fenster der Mehrfamilienhauses zu. Auch sie träumte von Ebbe und Flut, davon, wie ihre kleine Katrin das erste Mal kreischend in der Brandung stünde. Daraus würde nichts werden, denn düstere Wolken versuchten gerade in diesem Moment alle Friedlichkeit und jeden Traum zu verdrängen.
Unbemerkt näherte er sich. Er sah ihr zu. Sie machte Muster in den Sand, die gleich wieder in sich zusammenfielen. Mit einem Lächeln im Gesicht kam er näher.
Katrins Mutter gab sich ihrem Abwasch hin. Teller und Besteck mutierten in ihrer Fantasie zu Meeresbewohnern. Die durchsichtigen Gläser wurden zu Quallen. Das Spülwasser schwappte über den Beckenrand. Katrins Förmchen lagen einsam und verlassen herum. Sie war mit dem Fremden mitgegangen.
«Was machen wir?»
«Ich zeig’ Dir was.»
«Was denn?»
«Etwas ganz Tolles.»
Das Mädchen wurde misstrauisch. Sie zögerte weiterzugehen.
«Komm schon. Es ist gleich da vorne.»
«Sag’ doch! Was denn?» Katrin wurde ungeduldig.
Er durfte keinen Fehler machen. Nie wieder. Hektisch sah er sich um. «Da. Da drüben. Da setzen wir uns, o. k.?»
«Zeig’ mir endlich was!»
Sanft nahm er Katrin an die Hand. Er ging mit ihr zu dem gigantisch anmutenden Rhododendrenstrauch. Widerwillig setzte sie sich auf die Bank daneben. Mit großen Augen starrte sie den fremden Mann an. Aus seiner Hosentasche holte er ein Stofftaschentuch. Er lächelte, wollte sie umarmen, sie fest an sich drücken. Er liebte sie. Die Andere hatte ihm keine Chance gegeben. Gerne hätte er ihr bewiesen, dass er keineswegs der Taugenichts war, für den sie ihn gehalten hatte.
Das Mädchen zupfte ihn am Arm. Sie sah zu ihm auf. Er konnte sich nicht beherrschen, wollte es nicht zulassen, aber die Erinnerungen an glücklichere Tage ließen sich nicht mehr zurückhalten. Deutlich sah er ihre langen, brünetten Haare im Wind wehen. Er hörte ihr herzliches Lachen, fühlte ihre Unbeschwertheit. Dann blickte er auf Katrin hinab, die immer noch erwartungsvoll auf sein Taschentuch sah.
«Halt’ das mal.» Er drückte dem Mädchen das Tuch in die Hand. Er hatte ihr zeigen wollen wie, man mit wenigen Handgriffen ein niedliches Mäuschen aus einem einfachen Stofftuch machen kann. Stattdessen legte er seine Arme um ihren Hals. Er drückte zu. Nur ein kleines bisschen. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Er drückte ein wenig fester zu. Ihr Hals war angenehm warm. Alles an ihr war angenehm. Sie wollte schreien. Es ging nicht. Schon lange hatte er sich nicht mehr so wohl gefühlt. Gleich würde sie auf immer und ewig ihm gehören. Keine Macht der Welt würde ihm diesen Moment nehmen. Er sah in den Himmel. Er stellte sich vor, wie sie zusammen am Strand wären. Ihren Hals hielt er dabei ganz fest. Er ließ von ihr ab. Zu sehr liebte er sie.
Panisch rannte Katrin davon. «Warte!», rief er ihr nach. «So warte doch! Ich tue Dir nichts, ganz bestimmt nicht. Warte!» Das Mädchen rang nach Luft. Sie sah sich um. Er war dicht hinter ihr. Er blieb stehen.
Entsetzen. Panik auch bei ihm. Flüchtige Erinnerungen: Sand, Förmchen, ihr Hals. Blanke Realität: ein Quietschen, ein Knall.
Mit einem Male wurde er vom Täter zum Zeugen. Ungeachtet der vielen Menschen, die ihn umgaben, beugte er sich zu seiner geliebten Tochter hinunter. Der Fahrer des Unglückswagens saß regungslos hinterm Steuer.
Den Abwasch hatte sie erledigt. Mit einem Lutscher in der Hand ging sie hinunter, um Katrin eine Freude zu machen. Die Förmchen lagen verlassen im Sand. Sie sah sich suchend um. Er ihr entgegen, ihre kleine Tochter auf dem Arm. Der Kopf knickte mit jedem Schritt, den er machte, nach hinten weg. Blut tropfte aus ihren Ohren.
«Du Schwein! Du elendes Schwein! Du Drecksau!» Ein Mistkerl, ein Taugenichts, ein Zerstörer. Sie brach zusammen. Er weinte bitterlich. Seine Tränen fielen der toten Katrin ins Gesicht. Vor kurzem noch mittendrin, stand er nunmehr so weit abseits, wie man eben nur stehen kann. Den letzten Fehler in seinem Leben hatte ein anderer für ihn übernommen.