Ich schaue auf die Uhr. Nur noch drei Stunden. Die Entscheidung ist endgültig. Es gibt kein Zurück mehr, auch wenn ich lieber fliehen würde.
In der Küche zähle ich ein letztes Mal durch. Fünfundzwanzig Packungen Haferflocken, zehn Dosen Proteinpulver, zwei Kilo Walnüsse und dreißig Multivitamintabletten. Dazu noch eine Kiste mit sechs Flaschen trockenem Weißwein und für den Fall, dass alle Stricken reißen sollten, eine Flasche Wodka.
Ich ziehe den schwarzen Kampfanzug an, nehme die Axt, die ich heute Morgen extra im Baumarkt gekauft habe, und schleiche aus dem Haus. Niemand aus der Nachbarschaft darf erfahren, was ich im nächsten Monat vorhabe. Geräuschlos spurte ich um das Gebäude herum in den Hof. Schnell die Sache durchziehen, bevor mich jemand entdeckt! Ich hole mit der Axt weit aus und hacke auf die an der Außenwand verlaufende Telefonleitung. Einmal, zweimal, dreimal. Funken sprühen, eine tiefe Kerbe ist im Putz. Erledigt. Ich ziehe mich zurück.
Wieder im Haus angekommen, schließe ich die Tür zum Keller auf. Ein Hauch von Gasgeruch weht mir beim ersten Atemzug entgegen. Danach riecht es nur noch feucht und muffig. Also doch, ich habe mich letzte Woche nicht getäuscht. Die Gasleitung scheint durchzurosten und bereits ein kleines Leck zu haben. Das muss aber bis Dezember warten, ich werde heute Abend keinen Handwerker mehr erreichen.
Vor dem Schaltkasten mit den antiken Schraubsicherungen angekommen, zögere ich nicht, sondern drehe sie heraus, eine nach der anderen. Die Eins für das Wohnzimmer, die Zwei für die Küche, die Drei für den E-Herd, die Vier für das Schlafzimmer. Die Fünf lasse ich drin. Das ist die für das Arbeitszimmer. Bei der Sechs bin ich unsicher. Soll ich wirklich auch den Warmwasserboiler abschalten? Ich überlege kurz und schraube auch die Sechs heraus. Wenn meine Figuren eine kalte Dusche bekommen sollen, dann muss auch ich kalt duschen.
Ich gehe zurück in die Wohnung, friemel die SIM-Karte aus dem Mobiltelefon und spüle sie das Klo runter. Damit dürften alle Verbindungen zur Außenwelt gekappt sein. Sehr gut.
Direkt neben der Eingangstür gibt es eine kleine Abstellkammer. Die habe ich für ihn vorgesehen. Ich gehe hinein und winke ihn mit dem Zeigefinger zu mir. „Komm mal hier rein, hier steht ein Teller mit Keksen für dich.“ Als er drin ist, husche ich hinter seinem Rücken heraus, knalle die Tür zu und drehe den Schlüssel um. Ich höre ein Wimmern, aber diesmal werde ich keine Gnade kennen. „Ich habe dir dreißig Dosen Katzenfutter, eine Handvoll Kerzen und ein paar gute Bücher hingelegt“, ruf ich dem inneren Kritiker durch die Tür zu. Dann überlasse ich ihn seinem Schicksal.
Ich kippe den Trockenmörtel aus der Packung in den Eimer und rühre ihn mit Wasser zu einer cremigen Masse. Anschließend ziehe ich vorsichtig das Bücherregal aus dem Wohnzimmer in den Flur. „Tut mir leid“, sage ich. „Ihr habt mir viel gegeben, aber jetzt brauche ich euch für eine noch größere Aufgabe.“ Ich öffne die Wohnungstür, verteile zwei drei Kellen des Mörtels gleichmäßig auf der Türschwelle und maure eine erste Schicht Bücher. Dann wieder Mörtel, eine zweite Schicht Bücher, eine Dritte, immer weiter, so wie ich es in dem Youtube Video über das Mauern gelernt habe. Mit der Wasserwaage prüfe ich regelmäßig die Lage der wachsenden Büchermauer und korrigiere bei Bedarf nach, bis am Ende die Tür ordentlich und sauber mit Büchern zugemauert ist. Ich fühle mich wie ein Profi. Vielleicht hätte ich doch lieber im Handwerk arbeiten sollen, dann hätte ich einen richtigen Beruf.
Ich schaue auf die Uhr. Noch knapp 20 Minuten. Ich wundere mich kurz, dass keine Böller zu hören sind, aber dann fällt es mir wieder ein. Nicht das neue Jahr steht bevor, sondern der NaNoWriMo. Würde ein neues Jahr bevorstehen, wäre es leichter, dann könnte ich meine guten Vorsätze morgen schon wieder vergessen. Aber hier muss ich sie 30 Tage durchhalten. So viel Disziplin hatte ich nicht mal an der Uni.
Werde ich es wirklich schaffen? Ich, denke an das, was ich die letzten Stunden getan habe, spüre, wie mir Schweiß auf Finger und Stirn fließt. Scheiße, Scheiße, Scheiße. Werde ich jetzt verrückt? „NEIN“, schreie ich in Richtung der Abstellkammer, in der innere Kritiker wohl schon in sein erstes Buch vertieft ist und sich mit dem Katzenfutter anfreundet. Wahrscheinlich interessiert er sich gar nicht mehr für mich und unsere gemeinsame Zeit war nur eine Illusion. So wie immer im Leben.
Ich reiße mich zusammen, komme wieder zu mir, gehe zum Kühlschrank und hole die Sektflasche, die noch ein wenig Restkälte hat. Wieder schaue ich auf die Uhr. Noch eine Minute. Ich gehe in mein Arbeitszimmer, dimme das Licht und setze mich an meinen Tisch. Noch zwanzig Sekunden. Noch zehn, neun, acht, sieben, sechs, fünf, vier, drei, zwei, eins. Ich lasse den Korken knallen, gieße ein Glas ein und proste mir selbst zu.
Dann starte ich Papyrus und lege ein neues Projekt an. Vor mir ist eine leere weiße Seite. Eine weiße Fläche, die größte vorstellbare Herausforderung, steht mir gegenüber. Hätte ich das doch nur gelassen.
Mir kommt eine geniale Idee. So kann ich es schaffen. Ich öffne den Webbrowser, rufe ChatGPT auf und gebe ein: „Lieber ChatGPT, schreibe mir eine Geschichte mit 50 000 Wörtern. Egal was, Hauptsache 50 000 Wörter.“ Nichts passiert. Oh nein, denke ich. Ich habe die Internetzugänge zerstört. Ich muss es wirklich selbst machen.
Ich trinke einen großzügigen Schluck Sekt und atme tief durch. Hundert Milliarden Gehirnzellen stehen bereit wie eine römische Legion und warten auf den Marschbefehl. Warum sollen die das nicht schaffen, die haben doch auch die Sauftouren während der Schulzeit ausgehalten. Ich lege los und schreibe die erste Zeile.
Super! Gut geschrieben, man fühlt richtig mit.
Noch 8 Stunden, bis du die Internetverbindung kappst? Dann ist ja noch Zeit, dir „Viel Erfolg!“ zuzurufen.
So toll zu lesen Klasse. Wenn heute schon morgen wäre denke ich du hast das Tagesziel knapp verfehlt
Ja, so ungefähr stelle ich mir das vor. Würde bei mir ähnlich sein. Aber Internet kappen? Musst du das nicht dauernd online belegen, was du schreibst?
Na No Wri Mo? Jedes scheint ja zu wissen, was das heißt. Ich fühle mich gerade nur „dumm“. „Natürlicher Normaler Writer Montag“?
Hi Thorvald. Hier ist es kurz erklärt
Tausend Dank… Mist… 7 Tage vom November sind schon weg.
Nächstes Jahr hat auch wieder einen November^^
Och, ob 1.667 Wörter oder 2.174 Wörter pro Tag, das macht doch kaum einen Unterschied.
(schaff ich beides nicht…)
Sehr cool und bildlich geschrieben, musste sehr schmunzeln und lachen
Nein nein nein, so leicht kann man sich da nicht rausreden…
50 000 / 30 * 23 = 38.333
Mit 38 000 Wörtern kann man am 08. November also noch einsteigen.
Ist da eigentlich von einer ganzen Geschichte die Rede, oder kann man auch 30 Kurzgeschichten schreiben? Mit den Kurzgeschichten würde ich es vielleicht sogar schaffen.
Danke an alle anderen für das Feedback und die Likes.
Warum nicht? Eine Sammlung von Kurzgeschichten oder kurzen Erzählungen ergibt doch auch ein Buch (Anthologie). Ich habe in meinen Regalen mehr als 100 Bücher stehen, die mehrere einzelne Geschichten enthalten. Egal ob von verschiedenen Autoren („Märchen aus aller Welt“, „Die schönsten Pferdegeschichten“) oder von einem einzigen Autor (zum Beispiel Agatha Christies „Arbeiten des Herkules“).
Mag sein … nur meine Novemberzeitplanung lässt diese Aktion nicht mehr zu.