Schreibchallenge aus Schreibideen-Generator-Wörtern: Marathonlauf / Heftgerät / Anerkannt / Lukrieren (einnehmen, als Gewinn erzielen) / Castor Fiber (Biber) / Gottesfurcht / Das sei mal dahingestellt.
Das war bisher die schwerste Kurzgeschichte, die Wörter fand ich persönlich ziemlich unglücklich zusammengewürfelt. Bin mir nicht sicher, ob wirkliche eine runde Geschichte dabei rausgekommen ist, die nicht zu abstrus wirkt…
Marathon
Jims große Karriere-Liebes-Schummeltour
Stickig war es. Es roch nach frischem Schweiß und alter Sporttasche. Kaum auszuhalten. Jim lehnte müde an der Wand. Olle Poster von nackten Mädels, die sich auf unterschiedlichen Fahrrädern räkelten, wellten sich im schwülen Flurklima. Ein abartig süßer Schwall trieb in sein Gesicht, als ob jemand Gummibärchen aufkochen würde. Widerlich, Jim musste würgen. Das muntere Getuschel in der Warteschlange registrierte er kaum.
Immer wieder drehte er gedankenverloren das Handy in den Händen. Es blieb stumm. So lange kein Anruf mehr von ihr. Sein Blick glitt stumpf über die Gesichter der Kollegen und die aufreizend abgelichteten Körper. Landete wieder auf dem Display in seiner Hand. Es blieb nach wie vor dunkel. So sehr er auch dieses Arbeitsklima mit all seinen Bedingungen hier mochte, nackten Tatsachen nicht abgeneigt war … was würde er dafür geben, den Schnappschuss von Tilly’s Gesicht in seinen Händen aufleuchten zu sehen.
Diesmal hatte er es übertrieben. Mal wieder den Vogel abgeschossen und sich aus ihrem Leben endgültig rauskatapultiert.
„Wie kann man so unfassbar blöd sein?!“, erinnerte sich Jim an ihren letzten Streit, Tilly war total ausgetickt.
„Wieso denn? Was geht’s dich überhaupt an?“, motzte er zurück. „Das ist ganz allein meine Sache, was ich mit meinem Körper mache!“
Die beiden Tattoos auf seinen Waden waren fast abgeheilt. Links hatte er sich mit einem feurigen Hintergrund ein leicht geschwungenes „F“ und rechts ein „T“ stechen lassen. In Solidarität zu den englischen Kurier-Kollegen schrien sie jedem förmlich ins Gesicht und standen für „Fuck“ und „Taxis“.
Jim war dran. Die süße Telefonistin, ein pralles Vorzeigeweibchen, wie er bisher immer fand, reichte ihm mit einem gesäuselten Lächeln seine heutigen Aufträge mit der dazugehörigen Lieferliste.
„Na, Jimmi Koketti, kriegste das überhaupt alles unter?“
„Ist das alles, was du hast?“ Absichtlich zweideutig ließ er das Mädel schroff abblitzen. Nach ihr stand ihm überhaupt nicht mehr der Sinn. Ob sie die Spitze überhaupt verstanden hatte?
Erstmal nur raus hier. Er schulterte seine Liefertasche. Einen Airbag-Rucksack mit Rolltop. Der letzte ökologisch-biologische Schrei im Taschen-Segment. An Nachhaltigkeit nicht mehr zu überbieten. Anderthalb Kilo upgecycelter Autoschrott, teuer, ölhautschimmernd und – on the top – ausgerechnet in Friesennerzgelb! Unkaputtbar, man konnte ihn weder zerfetzen noch verbrennen. In toller Sicherheitsfarbe – 'eiiin schööönes Gefühl’, wie Tilly fand – damit er nicht übersehen werden konnte.
Na ja, sollte er dennoch unter ein Fahrzeug geraten und womöglich mit ihm abfackeln, würde zumindest seine Lieferung auf jeden Fall überstehen. Man könnte den geschmolzenen Rucksack zum Schluss einfach aufknacken wie ein hartgekochtes Ei.
Wahnsinn, so sehr hatte ihn ihr ganzes Gesummse dazu immer genervt, nun war es ihr letztes Geschenk – und es tat ihm weh.
Es war Zeit, der Berufsverkehr brandete bereits durch die Straßen. Er schwang sich auf sein Rad und strömte mitten hinein ins Großstadtleben. Bis in die letzte Körperzelle durchtrainiert, trieb er sich mit Höchstgeschwindigkeit voran.
Dabei driftete er immer wieder in alte Geschichten ab, unkonzentriert vernachlässigte er seine als Fahrradkurier erworbene, notwendige Abgebrühtheit und Vorsicht vor den anderen Kraftfahrern. Also den Lenkradbeißern, Chefdynamikern, Knallmaxen, Bewegungswundern und Parkhausblinkern. Und den Taxifahrern.
„Heeyh, du Schmalspur-Heini!“
Ein erboster, hochroter Kopf mit dicken Backen schrie ihn aus seinen traurigen Tagträumen. Jim hatte den Seitenspiegel seiner beigen Personenkutsche fast abgerissen.
Willkommen in der Realität - zurück in die Gottesfurcht vor den übrigen Verkehrsteilnehmern.
Wo sind sie, die Beunruhigten und Zerbrochenen? Auf geht’s ins tägliche Mobbing auf dem heißen Asphalt!
Gott, wie er den Job liebte! Er kannte mittlerweile alle wichtigen von Frankfurts 3.400 Straßen, kein geschissener Taxifahrer könnte da mithalten. Damit fühlte er sich unabhängig und frei. Auch bei Regen und mit Sand in der Arschritze. Er war alles, was er sein wollte: einer der letzten rauen Cowboys in seinem Mainhattan.
Tilly rannte er damals bei einer als besonders eilig markierten Anlieferungen über den Haufen. Sie führte ihr eigenes Unternehmen als Kommunikations- und Grafikdesignerin. Passte so was von überhaupt nicht in sein Raster. Aber von da ab war es um ihn geschehen.
Schön war Tilly in seinem herkömmlichen Sinne nicht. Nicht das typische Weibchen, auf das er vorher abgefahren war. Sondern sehr natürlich und eher etwas spröde. Er verstand nie wirklich, was sie an ihm fand. Blieb ihr treu und begnügte sich mit optischen Angeboten.
Das Unglückliche an Menschen ihres Kalibers ist, dass das Auffüllen eines Heftgerätes mit Tacker-Munition sehr wahrscheinlich nicht die höchste Herausforderung des Tages darstellt. Wer seine berufliche Welt durch einen lukrierenden Geschäftsalltag strukturiert, hat unzweifelhaft gewisse Erwartungshaltungen und Forderungen.
Jim absolvierte, seinen Eltern zuliebe, seine Studiengänge in Recht und Wirtschaft mit Bestnoten. Während er die meiste Zeit in Hörsälen und Büros verbrachte, erlebte seine Familie eine Tragödie: Sein Vater verunglückte tödlich bei einem Straßenbahnunfall, kurz darauf starb sein jüngerer Bruder innerhalb weniger Wochen an Leukämie, und seine Mutter nahm sich das Leben. Diese schweren Verluste brachten Jim an seine Grenzen; er konnte die Enge und den Druck in den Räumen kaum noch ertragen. Erst nach seinem Studienabschluss fand er wieder zu sich selbst, als er ein Sabbatical-Jahr einlegte und mit dem Fahrrad große Reisen unternahm. Dabei spürte er sein Leben wieder intensiver.
Von Tilly wurde natürlich sein Abschluss mit Hochachtung anerkannt. Seither hatte er allerdings keinen „richtigen“ Beruf mehr ergriffen. Nur Hilfsjobs, um möglichst keine Verantwortung zu haben und festzusitzen. Der Kurierjob war der erste Job, den er quasi „durchzog“. In eine dieser großen und bekannteren Firmen mit gepflegterem Image, die der Ökobilanz wegen mit Lastenfahrrädern zulieferten, wollte er partout nicht wechseln.
Er musste schnell bleiben, wollte das Cowboy-Image behalten. Manchmal überkam Tilly das Gefühl, und dann sagte es ihm auch ins Gesicht: Er halte an seinem Kurierjob fest aus reiner Lust am Scheitern…
Jim strömte wie ein biegsames kleines Fischlein durch das Kapillargeflecht dieser Großstadt. Er mochte alles harte, glatte. Kanten und Ecken. Alles, was sich spiegelte, umspielt vom Himmel mit seinen Wolken und der Sonne.
Ähnlich einem Skilift glitt man mit den Aufzügen der Hochhäuser binnen Minuten aus den verspiegelten Büroschluchten heraus. Bewegte sich in Zeitraffer durch die Höhenlinien der Stadt. Sah wie durch eine Lupe in ihr Inneres: spähte in Fenster, blickte über Terrassen und Balkone und ging dann weiter.
Mittlerweile erreichte Jim seinen letzten Kunden. Die Bauart des Japan Centers im Bankenviertel erinnerte an die Form einer japanischen Steinlaterne. Das Hochhaus war eines seiner Lieblingsgebäude, auch wenn die terracottafarbene Natursteinfassade weder glänzte noch spiegelte.
Das letzte Büro für heute. Irgendwie roch es hier nach verbranntem Papier. Höchst unangenehm.
Nachdem er die Unterlagen abgeben konnte, fuhr er in das 25. Obergeschoss. Das Restaurant dort diente als Kantine und wurde von einem Catering-Unternehmen betrieben. Lustlos und abgespannt stocherte er im Essen herum. Belauschte unabsichtlich das Gespräch der direkten Tischnachbarn:
„Hast du dir die Stellenausschreibung mal angesehen?“
„Ne, nich’ wirklich. Wat sucht der Dicke denn?“
„Na – also echt, was wohl? Du kannst vielleicht blöde Fragen stellen …“
„Ich darf doch bitten!“
„Tja, was vergibt eine Unternehmensberatung – einen Job als Consultant, oder?“
„Iss nicht wahr … sach bloß … so eine Überraschung…“
„Bei dir werd ich manchmal echt einfach nur müde!“
„Und wat ist jetzt genau der Punkt?“
„Na zum Einen der neue Claim zum Firmenlogo: ‚Von den Besten die Netten!‘ Und ‚bester Berater für Preismanagement und Vertrieb!‘ Das ist doch peinlich…“
Schulterzucken.
„Aber wirklich abartig sind die neuen internen Auswahlkriterien.“
„Wo hast du die denn schon wieder her?“
„Von dem neuen Schoßhüpfer aus seinem Vorzimmer.“
„Jaaah… und?“
„Marathonläufer werden bevorzugt eingestellt!“
„Häähhh??“
„Bei der Personalentscheidung sehen die das eben als Zusatzqualifikation.“
Kopfschütteln.
„Strahlkraft, Durchhaltevermögen, Kampfgeist und so ein Mist halt.“
Räuspern.
„Marathonläufer beißen sich durch. Das verbindet sie und die Führungskräfte. Das ist sogar Gehalts- und Karrierestufen übergreifend und diese Verbindungen werden im Allgemeinen wohl gerne genutzt.“
Schnaufen.
„Gewinnen eigentlich auch Frauen beim Marathon?“
Mit leeren Gesichtern blickten beide auf ihre opulenten Armbanduhren, standen mit quietschenden Schuhen auf und verschwanden.
Jim schluckte den letzten Bissen herunter, dann machte es Klick. Der Marathonlauf! Nächste oder übernächste Woche. Seit Wochen ging er durch die Medien. Irgendwas flimmerte doch seither auch immer noch gleichzeitig über die Glotze. Was von dem, was Tilly immer so echauffierte, keine Ahnung, irgendwas vom Naturschutz wahrscheinlich oder so …
Neue Spannkraft floss durch Jims Muskeln. Das war sein Ding! In Sachen Fitness konnte er jederzeit mithalten. Er musste nur die Umstellung vom Strampeln in der Luft aufs Laufen mit Bodenkontakt trainieren. Das mit der Schwerkraft war schließlich eine ganz andere Sache. Würde die Zeit reichen? Ansonsten … das Gewimmel war mit Sicherheit so groß, es würde nicht auffallen, wenn er mal in anderen Gassen verschwindet und abkürzt … da kannte er sich aus wie kein anderer! Und dann könnte er sich bewerben, die Grundqualifikation besaß er. Außerdem würde er bei Tilly punkten. Vielleicht gab sie ihm dann eine letzte Chance.
Die Zeit bis zum Start verlief zäh. Jede freie Minute war Jim gelaufen, hatte trainiert, seinen Körper zu einem Geschoss ausdefiniert.
Der Marathonlauf war ein Event der Superlative! Gefühlt eine Million Zuschauer, Musikkapellen, Rockbands und Trommlergruppen, Clowns und Artisten. Mehrere Kamerateams tummelten sich im Start- und Zielbereich.
Es war recht nasskalt und Jim besorgte sich einen Finisher-Poncho, die es eigentlich erst nach dem Zieleinlauf gab. Die waren professionell, regen- und winddicht, so wie es sie in New York oder Boston gab. Außerdem mehrfach verwendbar oder sie konnten nach dem Rennen locker bei eBay versilbert werden.
Während er zum Start lief und seine Teilnehmernummer auf seinem Trikot zurechtrückte, passierte er eines der lautstarken Kamerateams. Der farbenfrohe Moderator erinnerte gekünstelt an alte Hippie-Zeiten und brüllte was von angekündigten Demos während des Laufs - wo hoffentlich Naturschutz und Sport nicht unangenehm aufeinanderprallen. Bla bla bla…
Von der Trikotnummer hingen Fäden heraus. Jim riss sie einfach kurzerhand ab. Bekam noch Gesprächsfetzen des bunten Mikrofonschwingers mit, über einen Castor fiber, den Burgherren mit der Kelle, der immer mehr die Innenstadt erobert, als sich dann auch alle Kamerateams aus der Startzone entfernten.
Es war soweit. Jetzt ging es zur Sache. Der Startschuss fiel. Jim rannte einen Großteil der Strecke im vorderen Bereich der Teilnehmer mit und es lief gut. Er erinnerte sich an ein altes Zitat, dessen Urheber er nicht kannte: Zwischen den Wolkenkratzern des Wirtschaftswunders bläst ein warmer und staubiger Wind, der nach Aas, Geschlecht und Kloake riecht. Es stimmte leider und er wunderte sich, dass ihm das bei seinen Kurierfahrten nicht längst aufgefallen war. Was man alles wahrnimmt, wenn man nicht einfach daran vorbeirauscht…
Dann traten tatsächlich die Demos auf den Plan, besser gesagt in die Strecke und störten den Ablauf. Sorgten zunehmend für Verwirrung. Bei einem der Gemüsemärkte, die seitlich der Hauptstrecke lagen und auf dessen Holztischen sich Maiskolben, Tomaten, Grünkohl und Lavendelbüschel stapelten, roch es nach Basilikum und Ahornsirup. Hier war deren Sitzblockade am ungünstigsten und so schlug er sich in die Seitengassen, schummelte der Strecke zwar nur wenige Kilometer ab, aber dafür waren sie friedlich.
Vor ihm fuhr ein Fahrradkurier, den er keinem Unternehmen zuordnen konnte. Aus einer Hausecke heraus trottete ein kleines Tier direkt in dessen Fahrbahn. Eine Katze? Oder eine monströse Ratte? Der Fahrer hörte auf zu treppeln, streckte das Bein aus und trat dem Tier ins Hinterteil. Es überschlug sich, rollte ein Stück weiter und blieb an einer schmutzigen Hauswand bewusstlos liegen. Der Radler sauste einfach weiter.
Fassungslos verlangsamte Jim sein Lauftempo, kam vor dem Fellbündel zum Stehen. Das war ja ein Biber! Was sollte er jetzt machen? So wie es aussah, blutete das Tier nicht und atmete regelmäßig. War aber sprichwörtlich weggetreten. Dunkel erinnerte sich Jim an die Wortfetzen von dem Hippie, dass die Biber immer mehr in die Städte drückten.
Er konnte ihn nicht einfach liegen lassen. Niemand war da, also nahm er ihn vorsichtig auf und wickelte ihn in den Poncho wie in eine Hängematte vor seinem Bauch. Dann rannte er weiter, schließlich unbemerkt zurück auf den Rest der ursprünglichen Route.
Mobilisierte seine letzten Kraftreserven. Konnte sich durchsetzen und kam als Erster, mit einer Armlänge Vorsprung vor einer Frau durchs Ziel. Unter flatternden Wimpeln, Bier- und Bratwürstchengeruch, riesigem Beifall und Getose kam Jim langsam zum Stehen.
Sofort war ein Kameramann bei ihm, der knallige Hippie stürzte sich geradezu auf ihn und überschüttete ihn mit einem Redeschwall. Jim rollte vor laufender Kamera und erschrockenen Ausrufen den Poncho auseinander und legte den immer noch ohnmächtigen Biber frei. Erklärte kurz, wo er ihn gefunden hatte und dass er ihn ja nicht liegen lassen konnte.
Der Moderator erzählte in die Kamera von einem anderen Biber, der auch während des Laufs eingefangen und wegtransportiert wurde. Vermutlich ein Liebespärchen auf Städtetour oder sowas in der Art und so weiter… Irgendjemand nahm ihm den Biber ab und der wurde weiter versorgt.
Während Jim verzweifelt versuchte, etwas zum Trinken zu ergattern, zog ihn ein Organisator des Laufs zur Seite. Informierte ihn kurzerhand, das er disqualifiziert war. Er trug keine Trikotnummer…
Die losen Fäden, die er abgerissen hatte. So unfassbar blöd! Seine Nummer hatte sich unter der Rettung vollends abgelöst und war auf der restlichen Strecke irgendwo verloren gegangen … sei’s drum, eigentlich hatte er ja eh geschummelt…
Beide gingen zu der Läuferin und erklärtem vor laufenden Kameras, dass sie die wirkliche Siegerin des Marathonlaufes sei, beglückwünschten sie herzlich und aufrichtig.
Jim war hundemüde und gleichzeitig total beseelt. Ob er sich die Stelle als Consultant in der namhaftesten Unternehmungsberatung der Umgebung ergattern würde, das sei mal dahingestellt.
Aber den Lauf durchgezogen, ein kleines Wesen gerettet, auch ein bisschen gewonnen und schlussendlich doch der Gerechtigkeit genüge getan zu haben, erfüllte ihn mit Stolz, wie er ihn bisher gar nicht kannte.
Beim Umziehen trat eine Frau unbemerkt von hinten an ihn heran. Mit Tränen in leuchtenden Augen beobachtete sie, wie nacheinander seine Waden in den Hosenbeinen verschwanden – bewunderte dabei deren Cover-Up-Tattoos:
„Forever“ und „Tilly“.