Der Pfarrer hielt eine kurze Standardrede. Es blieb ihm gar nichts anderes übrig, denn über Malotzke gab es nicht viel zu sagen. Er war ein mickriger Kerl mit stets verschmierter Brille und einer Politikerfrisur. Irgendeine Verwandte hatte sich um seine Beerdigung gekümmert, es aber nicht für nötig gehalten, zu seinem Begräbnis zu erscheinen. Überhaupt war niemand da außer mir.
„Sie sollten das nicht tun!"
„Was soll ich nicht machen?"
„Mischen Sie sich nicht ein. Vergessen Sie ihn am besten einfach."
Er sprach in Rätseln, als wir in dem kleinen Café saßen. Erst fand ich es nett, dass der Pfarrer mich zu Kaffee und Kuchen eingeladen hatte. Bis eben war ich jedoch in dem Irrglauben, dieser Kirchenmensch sei berührt von der Tatsache, dass es nur einen einzigen Trauergast gab. Eigentlich hätte ich es besser wissen müssen. Mitgefühl und Kirche passen schon seit den Kreuzzügen des christlichen Abendlandes nicht mehr zueinander.
„Zweifeln Sie nicht! Glauben Sie! Es ist besser, Willi Malotzke zu vergessen."
Wortlos stand ich auf und ging. Ich hatte keine Lust, über etwas zu diskutieren, dessen Bedeutung mir nicht im Geringsten klar war. Zuhause setzte ich mich ratlos in die Küche, Mantel und Schuhe noch an und fummelte an meinem Smartphone herum in der Hoffnung auf eine wunderbare Entdeckung in den Unweiten des mobilen Internets. Ein Wunder blieb aus. Stattdessen hielt das Nachrichtenportal schreckliche Enthüllungen über noch schrecklichere Würdenträger bereit.
So, wie ich war, schlief ich am Küchentisch ein. Es war ein unruhiger Schlaf voller verwirrender Bilder. Tebartz schwebte im Vampirkostüm durch hundert Meter lange Gänge, die mit Geldscheinen und Steuerbescheiden tapeziert waren. Vergoldete Toiletten wirbelten umher. In die Keramik war „T.v.E." eingebrannt. Malotzke tauchte plötzlich auf, gefolgt von einer Handvoll kleiner Jungen. Sie trugen dicke Jacken. Tiefe Falten durchzogen ihre blassen Gesichter. Mit winzigen Händchen versuchten sie, so gut wie möglich die nackte Haut unterhalb der Jacken abzudecken.
Mein Smartphone weckte mich mit dem Soul Asylum-Klassiker „Runaway-Train".
„So tired that I couldn’t even sleep
So many secrets I couldn’t keep
Promised myself I wouldn’t weep
One more promise I couldn’t keep"
Unter fürchterlichen Nackenschmerzen zog ich endlich Mantel und Schuhe aus und machte mir einen Kaffee. Er schmeckte nicht. Ich legte mich auf die Couch, starrte an die Decke. Leider war ich viel zu müde, um einzuschlafen. Der Punkt war überschritten. Es dämmerte ohnehin schon. Kurze Zeit später machte ich mich auf den Weg zum Friedhof. Wenn ich ehrlich bin, wollte ich nachsehen, ob die Beerdigung tatsächlich stattgefunden hatte. Es schien alles so irreal.
Malotzkes Grab war armselig. Mein Kranz lag dort, sonst nichts. Wenn man von einer kleinen, weißen Schachtel absah. Es war noch früh. Daher befand ich mich völlig allein auf dem Areal der Toten. Dennoch blickte ich kurz nach rechts, dann nach links. Ich wollte von niemandem gesehen werden, hatte ich doch vor, mir etwas anzueignen, das mich absolut nichts anging. Ich bückte mich und merkte, dass sich allmählich mein leicht fortgeschrittenes Alter dann doch bemerkbar machte. Vorsichtig schob ich die weiße Schachtel auf. Ein ungleichmäßig geformtes Knöchelchen kam zum Vorschein. An der einen oder anderen Stelle war es leicht vergilbt. Ich war zwar kein Experte, aber mir wurde doch schnell klar, dass es sich nur um eines handeln konnte: einen menschlichen Zahn. Hektisch schob ich die Schachtel wieder zu und steckte sie in meine Manteltasche.
Zuhause angekommen stellte ich sie auf das Küchenregal und mich selbst unter die Dusche. Meine Sachen waren überall auf dem Boden zwischen Küche und Bad verstreut. Ich hatte sie einfach an Ort und Stelle fallen lassen. Der Pfarrer ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Welche Geheimnisse umgeben ihn? Warum soll ich Malotzke vergessen? Was hat das Ganze mit Glauben zu tun? Wieso war niemand außer mir auf der Beerdigung? Und wie kommt ein Zahn auf ein frisches Grab, so platziert, dass ich ihn unweigerlich finden muss? Offene Fragen, keine Antworten. Eine Linderung meiner inneren Unruhe durch die heiße Dusche blieb leider aus.
Am nächsten Tag ging ich wieder zur Ruhestätte der toten Körper. Es war kalt. Ein Duft von süßem Parfüm streifte mich. Ich war nervös, fühlte mich verfolgt, lief schneller. Nur noch zehn Meter bis zu Malotzkes Grab. Aus irgendeinem Grund wähnte ich mich in Sicherheit, sobald ich bei meinem verstorbenen Nachbarn angekommen wäre. Schließlich blieb ich stehen. Das Parfüm war verflogen. Ängstlich sah ich mich um. Eine schwarz gekleidete Gestalt eilte davon. Sie war bereits am Ende des Weges angekommen. Ich rannte los, erreichte sie jedoch nicht mehr. Am Wegrand entdeckte ich einen Stofflappen, den ich unter großer Atemnot aufhob. Ohne ihn näher zu betrachten ließ ich ihn in meiner Manteltasche verschwinden.
Den Briefkasten hatte ich ewig nicht geleert. Diese ganze Werbung ging mir fürchterlich auf den Geist. Wer braucht heute noch so viel Papier? Käseblättchen sind ohnehin das allerletzte, null Information oder während des Druckes bereits veraltet. Beim Aufschließen der Wohnung fiel mir der komplette Zeitungsberg aus der Hand. Ein Papierkügelchen rollte durch den Hausflur. Ich nahm es mit in meine Wohnung. Den restlichen Kram ließ ich im Flur liegen. Malotzke war ja nun nicht mehr da, um sich über Unordnung im Hausflur aufregen zu können. Alle anderen Nachbarn interessierte sowieso nichts. Sie grüßten nicht einmal, machten aber auch nie Ärger.
Da saß ich nun am Küchentisch, ratlos wie nie zuvor und starrte auf meine Fundstücke. Den Zahn ließ ich in der Schachtel. Er widerte mich an. Der Stofflappen, den ich hektisch auf dem Friedhof in meine Manteltasche gestopft hatte, war ein gerippter Kinderslip mit Eingriff. Er muss aus den 1970er Jahren gewesen sein. Und dann war da noch das Papierkügelchen, welches ich mittlerweile vorsichtig auseinandergewickelt hatte. „Happy Weekend" war dort zu lesen. Gleich darunter der winzige Teil einer alten Anzeige: „… nackt im Beichtstuhl. Sollten uns wieder …, W.M."
Ob „W.M." wirklich mein Nachbar war? Was hatte mir der Pfarrer kurz nach der Beerdigung gesagt? Ich solle ihn vergessen und mich nicht einmischen? Ich war fassungslos als sich in meinem Kopf Spuren von Informationen, mein eigenartiger Traum und bloße Ahnungen zu einem erschreckenden Bild zusammen setzten.
Die Friedhofsverwaltung war außerordentlich nett, mir Auskunft darüber zu geben, welches Bestattungsunternehmen Malotzkes Beerdigung durchgeführt hat. Ich machte mich daher umgehend auf den Weg zum Beerdigungsinstitut. Dort erfuhr ich den Namen des Pfarrers mitsamt seiner Adresse.
Unter dem Vorwand, mich entschuldigen zu wollen suchte ich ihn auf.
„Aber Sie waren doch nicht unhöflich. Ich bitte Sie. Es ist ja nur verständlich. Schließlich habe ich Sie nach der Beerdigung irgendwie überfallen."
„Stimmt. Das haben Sie. Möglicherweise nicht nur mich."
Der Pfarrer wurde nervös: „Es war nicht meine Schuld. Er hat damit angefangen."
Beinahe unhörbar leise fragte ich nach: „Wer? W.M.?"
„Ja, ja, ja. Wenn ich es Ihnen doch sage."
„Und der Zahn?"
„Sie wissen davon?" Ich hatte nicht damit gerechnet, den Pfarrer dermaßen in Erstaunen zu versetzen. Zwar wusste ich immer noch nicht, worum es genau geht, aber der Zahn war offenbar ein Volltreffer. Jetzt musste ich alles auf eine Karte setzen: „Ich weiß es und ich habe auch die Unterhose."
Der Pfarrer schrie mich plötzlich an: „Raus, raus, raus! Verschwinden Sie! Ich habe Ihnen gleich gesagt, dass Sie sich nicht einmischen sollen. R A U S!"
Da stand ich. Mitten auf dem Bürgersteig. Ratlos. Ich musste wieder an Tebartz in seinem Vampirkostüm denken, als mir jemand sanft ins Ohr hauchte: „Lust auf ein Bier?" Der Lärm des Verkehrs verklang im Nichts, mein Atem weigerte sich, den Brustkorb zu verlassen. Langsam drehte ich mich um. Es war die Gestalt vom Friedhof. Sie ging los. Ich folgte ihr.
Wir saßen in der kleinen Eckkneipe. „Wer sind Sie und was wollen Sie von mir? Warum verfolgen Sie mich?" Sie schwieg. „Sie waren auf dem Friedhof. Das waren Sie doch. Geben Sie es zu!" Kein Wort von ihr. „Warum führen Sie mich hierher und sagen dann nichts? Reden Sie gefälligst!"
Ihre Stimme war sanft. „Entschuldigen Sie bitte. Ich weiß einfach nicht, wo ich anfangen soll." Sie winkte die Bedienung heran und bestellte sich noch einen Cognac zu ihrem Bier. „Mein Onkel hatte kaum Freunde. Er war streitsüchtig und kontrollierte gern seine Umwelt. Schließlich akzeptierte keiner mehr aus der Familie seine selbstsüchtige Art. Jeder wendete sich ab. Er wurde nicht einmal mehr zu Weihnachten eingeladen. Aber er war kein schlechter Mensch, jedenfalls nicht so einer." Malotzkes Nichte verwirrte mich.
„Und was wollen Sie nun von mir?"
„Ich dachte, Sie wären ein Freund. Weil Sie doch zur Beerdigung gegangen sind."
„Woher wissen Sie das?"
„Ich habe Ihren Kranz gesehen. Da hatte ich angenommen, dass Sie dort waren."
„Schön. Und sonst? Was meinen Sie mit jedenfalls nicht so einer?"
Nach einem weiteren Cognac erzählte Sie mir einfach Unglaubliches. Willi Malotzke habe sich sein eigenes Grab geschaufelt. Daran sei kein Zweifel. Sie habe ihn zwar nicht oft gesehen und kenne ihn daher kaum. Mittlerweile sei sie aber davon überzeugt, dass er zu viel wusste. Nicht nur das. Er sei eben der Typ Mensch gewesen, der sein Wissen gezielt einsetzte. Ich verstand immer weniger, war aber froh, dass ich lediglich hin und wieder mit ihm wegen schmutziger Schuhe im Hausflur aneinandergeraten war.
Endlich kam sie zum Punkt. „Einem Jungen hat er einen wackeligen Zahn herausgerissen. Er hat ihm damit gedroht, andere Zähne, die nicht wackeln, auszuschlagen, wenn er seiner Mutter etwas sagt. Warum ich Ihnen den Slip auf den Weg gelegt habe, können Sie sich ja nun denken. Alles, was er den Kleinen angetan hat, hat er sozusagen im Namen des Herrn gemacht. Er hat das Vertrauen der Kinder missbraucht. Leider nicht nur ihr Vertrauen. Helfen Sie mir, bitte!"
Ich war entsetzt. Anscheinend gibt es wohl nichts mehr auf dieser Welt, das der Gesellschaft heilig ist. „Verstehe ich Sie richtig, dass Ihr Onkel kleine Jungs, na ja, sexuell? Nein! Oder doch?"
„Sie begreifen es immer noch nicht. Es geht um den Pfarrer. Und es liegt schon lange zurück. Mein Onkel hätte nicht in der Vergangenheit wühlen sollen."
Endlich verstand ich. Deshalb war der Pfarrer so aggressiv geworden, als ich ihn auf meine Fundstücke angesprochen hatte. Leider war mir aber immer noch unklar, wobei ich Malotzkes Nichte überhaupt helfen sollte.
„Mir wäre es lieber, das Ganze woanders zu besprechen." Sie hatte Recht. Allerdings wollte ich sie nicht zu mir nach Hause einladen. Zu ihr wollte ich auch nicht. Zumal sie außerordentlich attraktiv und ich sicherlich dreißig Jahre zu alt für sie war. Um einen klaren Kopf zu bewahren war es besser, sich auf neutralen Boden zu begeben. Also schlug ich Malotzkes Wohnung vor. Sie war unheimlich. Das war keine Wohnung, sondern ein Museum. Nichts lag herum. Es gab kein einziges Staubkörnchen. Die Luft war unerträglich trocken. Und trotzdem roch es muffig. Der Geruch passte zu Malotzkes verschmierter Brille. Er war ein widerlicher, kleiner Kerl.
„Ich weiß, dass ihn der Pfarrer umgebracht hat. Mein Onkel hat ihn erpresst." Sie gab mir jede Menge Briefumschläge. „Lesen Sie!" Es war erschreckend. In einem der Umschläge befand sich auch eine Kopie der Anzeige, die ich in meinem Zeitungsstapel als Papierkügelchen gefunden hatte. Malotzkes Nichte bestand darauf, dem Pfarrer das zu geben, was er verdient. Sie bettelte mich geradezu an, in einer gewissen Weise aktiv zu werden, weil sie allein nicht den Mut dazu aufbrachte.
Ihr Onkel hatte einen Vorteil aus seinem Wissen gezogen. Doch wen trifft die größere Schuld? Denjenigen, der sündigt oder denjenigen, der sich eigenmächtig als Richter aufspielt.
Die schwere Erkrankung des selbsternannten Richters ebnete seinem Henker den Weg. Ein Schuss mitten ins Herz hätte nicht wirkungsvoller sein können. Der Entzug von Insulin in Kombination mit einem stickigen Raum und zu viel Weihrauch war absolut perfekt, um einen Diabetiker loszuwerden, der nicht nur seiner Familie den letzten Nerv geraubt hatte. Wer hätte gedacht, dass ihm ausgerechnet ein Beichtstuhl zum Verhängnis geworden war?