Magnus (Teil 1 v. 2)

Eine abgeschlossene Kurzgeschichte in zwei Teilen - zur gefälligen Betrachtung - mit lieben Gruß in die Runde

Magnus (Teil 1 v. 2)

Das Mobiltelefon schlitterte über die Tischplatte, der Papierkorb flog gegen die Wand, versprühte auf dem Weg dorthin seinen Inhalt, es schneite Locherschnipsel und zerknülltes Papier. Ein deftiger Fluch segelte hinterdrein, bog nach links ab und durch das offene Fenster in die Stille des kleinen Vorgartens. Ein Hund in der Nachbarschaft fühlte sich bemüßigt, das Geschehen mit seiner hohen Terrierstimme zu kommentieren. Seine Kollegen fanden’s lustig und stimmten gleich mit ein. Nachts um zwei ist das überhaupt nicht beliebt, Fensterläden klappten auf, Ordnungsrufe schallten.
Magnus knallte das Fenster zu und kickte den Papierkorb zurück an seinen ungefähren Platz. Er ließ sich aufs Sofa fallen und suchte nach den Zigaretten. Aus der halbgeschlossenen Küchentür schwebte eine kleine Wolke ins Wohnzimmer.
»Himmelarschundzwirn!«
Der altmodische Wasserkessel hauchte soeben den letzten Nebelschwaden in die Luft und drehte sich auf seinem aufgewölbten Boden sacht im Kreis. Magnus warf den Kessel ins Abwaschbecken, jaulte kurz auf, weil er sich die Finger verbrannt hatte, ließ kaltes Wasser über seine Hand und über das Metall rinnen. Sofort zischte und krachte es im Inneren – der Kesselstein war dabei, abzuplatzen. Der Lack vom Griff war schon ab und auf Magnus‘ rechter Hand zeigten sich die ersten Blasen.
Knurrend setzte er sich an den Schreibtisch, besann sich anders, stand wieder auf, stellte einen Topf mit Wasser auf den Herd, schnappte sich die vorbereitete Tasse mit Löskaffee, Milchpulver und Zucker und stand, mit den Fingern ungeduldig an die Wand trommelnd, in der Küche, bis das Wasser heiß war.
Zehn Minuten später saß er wieder am Tisch, rauchte und nippte am Kaffee. Sein dringlichstes Problem blieb weiter ungelöst.
Es hieß »Theorie über die Zusammenführung von sensorischer und kognitiver Synästhesie«. Ein schwerverdauliches Thema. Sein Verleger hatte ihn ausdrücklich gebeten, sich dieses Fachaufsatzes anzunehmen, den ein Bekannter von ihm verfasst hatte.
Fatalerweise hatte Magnus zugesagt, noch ohne Näheres zu wissen.
Die Unterlagen, die er von Mr. James Swartz danach erhalten hatte, strotzten von komplexen Satzkonstruktionen, gewürzt mit jeder Menge Fachtermini. Der Autor hatte seine gesamten Thesen und wissenschaftlichen Erkenntnisse aus seiner geistigen Schatztruhe gekippt und in eher loser Schüttung auf dem Papier ausgebreitet.
Magnus Aufgabe war es, dieses Konglomerat halbvergorener Ideen zu einem populärwissenschaftlichen Text zu kneten. Er hatte bereits einige Erfahrung als ghost writer, aber das überstieg seine Möglichkeiten. Vor allem war der Termin viel zu knapp gesetzt.
So kam es, dass er außer dem bereits abgegebenen Draft und ein paar Vereinfachungen zum ersten Kapitel (Thema »Grundsätzliche Bemerkungen zum Prinzip der ästhetischen Hilfe«) nichts hatte. Das Experiment war gescheitert, der Abgabetermin war übermorgen um acht Uhr morgens, und sein Gehirn so leer wie jetzt der Papierkorb, der nach wie vor auf der Seite lag und vorwurfsvoll zu ihm empor gähnte.
Jede Unordnung verursachte ihm körperliches Unbehagen. Bedauerlicherweise war momentan in seinem Dasein gar nichts mehr in Ordnung.
Begonnen hatte es mit dem dummen Streit nach dem Tod ihres Onkels. Sein jüngerer Bruder wollte unbedingt, dass das vererbte Haus gewinnbringend verkauft wurde, weil er sich selbständig machen wollte. Diese Immobilie war eigentlich nur noch eine Ruine und stand himmelweit weg entfernt in Liezen in Osttirol. Das einzig Wertvolle war der Grund, auf dem die vermaledeite Bude stand.
Seit einem Vierteljahr lag Flo ihm damit in den Ohren. Aber nicht Flo, sondern Magnus sollte einen Makler finden und Magnus sollte das Ganze vorantreiben, denn es war ja Magnus, der als Schriftsteller jede Menge freie Zeit hatte und gute Beziehungen zu allen möglichen Leuten, nicht wahr?

Gestern war die Situation eskaliert. Am Abend hatte Magnus einen Tobsuchtsanfall bekommen und seinen Bruder lautstark die Meinung gesagt. Flo hatte daraufhin die Wohnung verlassen und die Türe zugeknallt, dass das Schlüsselbrett daneben wackelte.
Keine zwei Stunden später war der Strom ausgefallen, und zwar in der gesamten Straße und hatte seinen letzten ungesicherten Text ins Nirwana geschickt. Und um dreiviertelzwei morgens war der Anruf von Regina gekommen, die ihm fröhlich mitteilte, dass sie soeben ein E-Mail erhalten hatte, in dem ihr Auslandsjahr genehmigt worden war, und dass sie morgen schon mal nach Melbourne flog, um ein paar Wohnungen zu besichtigen.
Er hatte ihre Euphorie mit einem verdatterten Schweigen quittiert.
»Magnus? Bist du noch dran? Freust du dich denn gar nicht?«
Mit einiger Mühe hatte er sich zusammengerissen und brummte: »Wär‘ nett gewesen, wenn du mich informiert hättest, dass du dich doch beworben hast.«
»Aber ich hab dich doch zuerst gefragt, ob ich’s überhaupt tun soll.«
»Wann war das bitte?«
»Vor zwei Wochen schon.«
Mist!
»Wann genau?«
»Na, nach dem Konzert. Erinnerst du dich nicht mehr? Du hast noch gesagt, ich soll es jedenfalls versuchen, auch wenn es so kurzfristig ist und überhaupt wär’ es eine tolle Chance. Das waren deine Worte!«
Au weh.
»Verzeih mir bitte, das hab ich komplett vergessen! Ich bin so blöd! Natürlich freu ich mich – entschuldige, es geht mir nur im Moment grad nicht besonders.«
»Muss ich mir Sorgen um dich machen, Großer?«
»Aber nein – nein, nein, ich hab das nur total verschwitzt und …«
»Dir geht es nicht gut.« Das war eine Feststellung.
»Ich komm’ rüber.« Bloß nicht!
»Nein, Gini, nicht notwendig, ich muss nur ein bisserl schlafen und dann wird das schon wieder.«
»Ehrlich?«
»Aber ja, natürlich! Flieg nur. Wieso dir die Uniklinik keine Wohnung stellt, versteh ich zwar nicht, aber such dir was Nettes und schick mir eine Postkarte.«
»Na gut – mach ich! Bleib brav, Großer!«
»Pass auf dich auf, meine Königin!«
Dem üblichen vertrauten Abschied zum Trotz hatte er kein gutes Gefühl gehabt. Verständlich. Sie hüpfte vor Freude und er, Hornochs, der er war, wusste von nichts mehr.
Verärgert über seine Gedankenlosigkeit hatte er das Telefon auf den Tisch geworfen. Selbstverständlich war es über die Glasplatte gerutscht und auf den Boden geknallt. Worauf er mit kindischem Jähzorn den Papierkorb weg gekickt und das Zimmer versaut hatte. Das war das Musterexemplar eines durch und durch bescheuerten Tages.
‚Lerne Ordnung, übe sie, Ordnung spart dir Zeit und Müh’!‘
Ein Schauer lief über seinen Rücken. Wie ferngesteuert ging er in die Knie und begann über den Boden zu robben und den Abfall einzusammeln.
Nachdem er akribisch auch das letzte Konfetti entsorgt hatte, verließ ihn von einem Moment zum anderen schlagartig die Kraft und seine Gedanken begannen, gleichzeitig Karussell und Achterbahn zu fahren. Er blieb sitzen, mit geschlossenen Augen, die Arme um die angezogenen Knie geschlungen.
Sein Herz begann zu rasen, seine Kehle verengte sich, sein Magen rebellierte, in den Ohren brauste ein Tornado.
Ein Rückfall. Er versuchte zu schlucken, ohne Erfolg. Er fing an, mit dem Oberkörper zu pendeln – vor und zurück, vor und zurück. Atmen. ‚ein und … aaus‘. Nochmal. ‚eein uund … aaaus‘. Schlucken. Okay. Arme seitlich abstützen. ‚eeein uuund … aaaaus‘. Weiterpendeln. Alles ist gut. Immer ganz langsam ausatmen. Nicht zu hastig einatmen. Alles ist gut.
Endlich ließ er sich langsam zur Seite sinken. Der Bodenbelag roch ganz leicht nach Staub und Zigarettenasche, seine Bartstoppel schabten auf der rauen Oberfläche. Sein Atem normalisierte sich allmählich. Er zwang sich, die Augen zu öffnen. Sein Blickfeld war auf den Bereich zwischen Sofaunterkante und Fußboden beschränkt, eine kleine dämmrige Höhle. Er starrte hinein, sah nichts, dachte nichts, empfand nichts. Die Müdigkeit überwältigte ihn.

Es war schon fast Mittag, als er erwachte, unverändert in der Froschperspektive und anfänglich ein bisschen verblüfft über seine stabile Seitenlage auf dem Spannteppich. Dann aber erinnerte er sich und war erleichtert, die Panikattacke fürs Erste abgewehrt zu haben.
Als er sich aufrappeln wollte, fiel sein Blick unter das Sofa und stolperte, sein Gehirn signalisierte ein optisches Hoppala und verlangte von ihm, er solle nochmals aber diesmal genauer hinsehen.
‚Manchmal,‘, dachte er, nachdem er seiner Eingebung gehorcht hatte, ‚manchmal gibt dir das Universum einen Tipp, wie’s weitergeht. An die Sachen hab ich schon seit Jahren nicht mehr gedacht.‘
Er tauchte unter das Sofa, zog seinen alten Rucksack hervor, kontrollierte den Inhalt, tauchte noch mal, diesmal nach Isomatte und Schlafsack, stand auf, ein wenig ächzend, weil ihm die Knochen nach der Nacht auf dem harten Boden wehtaten, und begann zu packen.
Etwas Obst, ein Säckchen mit ganzen Nüssen, eine Packung Knäckebrot, eine halbe Stange Hartwurst, Instantkaffee, drei Flaschen mit Mineralwasser, Regenschutz, Zigaretten, Feuerzeug, Autoschlüssel, Papiere und das misshandelte Mobiltelefon, das noch immer funktionierte, dem nimmermüden Universum sei Dank. Draußen nieselte es, der Himmel war bis zum Horizont grau. Egal.
Er lief die Treppe hinunter, feuerte alles in den Kofferraum seines Wagens und fuhr los. Der Regen wurde stärker. Er mied die Autobahn, nahm die Bundesstraße Richtung Norden. Der böige Wind wurde zum Sturm, wahre Sturzbäche ergossen sich über die Windschutzscheibe, die Scheibenwischer winkten im Akkord und kamen doch nicht mit den Wassermengen zurecht. Noch mal egal. Wetter machte ihm nichts. Wetter war einfach. Man wurde damit fertig, indem man sich daran anpasste.
Nach zwei Stunden legte sich der Wind, der Regen hörte auf, aber das Wasser lief nur langsam ab.
Immer mehr Sonnenstrahlen durchbrachen die löchrig gewordene Wolkendecke. Die kleinen Gemeindestraßen, die er entlangzuckelte, waren streckenweise überschwemmt. Er mochte das Geräusch, wenn die Reifen sachte durch die Pfützen rauschten, schlich in einer gerade noch akzeptablen Geschwindigkeit dahin und schnupperte begeistert.
Durch das offene Seitenfenster roch es nach Rinde und Frühling, ein wenig kühl und feucht, wie frisch gewaschenes Leinen und schmerzlich nach einem Teil vergangener Kindheit.
Knapp vor der Staatsgrenze stand ein einsames Bauernhaus, der Leublhof. Die Zufahrt war geschottert, unmittelbar vor dem Haus gekiest.
Es knirschte sanft. Auch so ein Geräusch, das er liebte.
Er ließ den Wagen ausrollen, legte den Autositz zurück, streckte sich aus, genoss die Stille, döste vor sich hin und wäre fast eingeschlafen. Doch dann riss ihn das vertraute Spucken, Knattern und Rumpeln eines Traktors, der wie sein Besitzer Alfons Kettinger vulgo Leubl schon etliche Sommer auf dem Buckel hatte, aus dem Dämmerzustand. Er schob den Sitz wieder aufrecht und winkte dem Bauern zu.
Alfons hatte seine antike Rarität abgestellt, war vom Fahrersitz geklettert und verbog jetzt seine beachtliche Länge zu einem rechten Winkel, um ins Wageninnere zu spähen.
»Ja, da schau – der Magnus – grüß Dich Gott …«
»Grüß Dich, Leublbauer!«
»Komm ’rein!«
Der Alte war eine Erholung für Ohren und Augen. Wortkarg, verwittert, keine Platitüden, keine Allüren. Sein Haus ohne Luxus, aber mit allem Notwendigen. Seit er Witwer war, wohnten Hans und Lina bei ihm auf dem Hof, Sohn und Schwiegertochter, beide auch schon an die sechzig, er eher scheu, sie, als ehemalige Wirtstochter, resch und resolut. Magnus kannte die Familie seit seiner Jugend, früher einmal hatte er für kurze Zeit in der Nähe gelebt. Es war so, wie er es erhofft hatte.
Hier war alles im Gleichklang wie eh und je.
Nein, es war kein Problem, wenn er für ein paar Tage im Fieringer Forst sein Zelt aufschlug. Wie früher schon wurde ihm gestattet, das notwendige Brennholz aus dem Wald zu verwenden und pro Tag eine Forelle aus dem Bach zu holen. Vom Bezahlen war wie immer keine Rede.
Irgendwelche Verhaltensregeln waren überflüssig, es war bekannt, dass er nie Unfug trieb, die Tiere in Ruhe ließ, auf das Feuer achtete und seinen Abfall ordentlich entsorgte.
Hans rief den Förster an und sprach ihm auf die Mobil-Box, dass sich im Revier ein zugelassener Besucher aufhalten werde. Lina brachte einen Proviantkorb, der alte Kettinger einen Vogelbeerschnaps. Die Ruhe der Bauersleute war ansteckend. Das war ein guter Beginn und er fühlte, wie er bereits jetzt nach so kurzer Zeit Abstand gewann. Um nicht irgendwann von seinem hysterischen Verleger polizeilich ausgeforscht zu werden, rief Magnus ihn vorsichtshalber an, sagte ihm, er befinde sich in Neumühlbach und sei gesundheitlich ein wenig angeschlagen. Den morgigen Termin erwähnten sie beide nicht. Peter verstieg sich sogar dazu, ihm baldige Besserung zu wünschen. Das war eine ungewöhnlich anständige Aktion von dem alten Sklaventreiber.
Danach fuhr Magnus weiter in den Fieringer Forst. Es war noch früh im Jahr, er musste jedenfalls vor der Dunkelheit bei seinem alten Lager eintreffen, sonst würde es eine ungemütliche Nacht im Auto werden. Bei der Kehre vom Holzschlagplatz stellte er den Wagen ab, belud sich mit seinen Habseligkeiten und zog los.

Obwohl er mehr als fünfzehn Jahre nicht mehr hier im Wald gewesen war, fand er seine Lieblingsstelle auf Anhieb. Die beiden schulterhohen Felsen standen auf einem leichten Hügel Kante an Kante und bildeten einen windgeschützten Winkel. Der Boden in diesem Winkel war einigermaßen trocken geblieben. Trotzdem bedeckte er ihn mit kleineren Zweigen und einer Lage Laub. Darüber kam die Isomatte. Als Dach dienten ein paar längere, dickere Äste, über die er die Zeltplane breitete. Das Ganze beschwerte er mit einigen größeren Steinen, gerade noch rechtzeitig, denn es wurde nun sehr schnell dunkel.
Die Arbeit, das ständige Hin- und Herlaufen, die Schlepperei, die völlige Konzentration auf jeden Handgriff, den er im Augenblick machte, tat ihm körperlich und seelisch gut. Eine Eule rief. Er kuschelte sich in seinen Schlafsack und lauschte in die Nacht.
Buchfinkengezwitscher weckte ihn kurz vor Sonnenaufgang. Er blinzelte verschlafen, rieb sich die Augen, krabbelte aus seinem Unterstand und begann mit dem Bau einer kleinen Feuerstelle.
Hierauf wanderte er ein halbes Stündchen umher, sammelte Zweige zum Unterzünden und holte von einem Holzstapel am Wegrand ein paar kleine Scheite, während die ersten Sonnenstrahlen durch die Bäume blinkten. Auf dem Rückweg ins Lager fand er Giersch und Bärlauch, pflückte von beiden ein paar Handvoll und füllte seine Feldflasche am Bach, der aufgrund des Regens angestiegen war und geräuschvoll über die Steine tobte. Ein leichtes Lüftchen ließ die Blätter rauschen. Die Vögel tirilierten, was das Zeug hielt. Ein Specht zimmerte an seinem Eigenheim.
Wer denkt, im Wald sei es still, war noch in keinem. Selbst vor einem Gewitter, wenn die Vögel schon verstummt waren, raschelte meist noch irgendein Getier eilig durchs Unterholz auf der Suche nach einem halbwegs geschützten Versteck.
Um neun hatte er Kaffee getrunken und einen Apfel gegessen. Jetzt lag er auf dem Rücken und blickte in die Baumwipfel. Dann griff er zu seinem Notizbuch.
‚Meine Fantasie ist kaputt gegangen. Früher konnte ich sie dem Alltag als Abwehr entgegenhalten. Heute dringt die Realität mit ihren Brutalitäten mühelos in mein Inneres und metzelt alles nieder, was einen Funken Hoffnung in sich trägt. Meine Worte haben keine Schwingen mehr. Sie sind aus Blei. Früher konnte ich mir Träume wünschen. Einfache gute Träume. Das ist vorbei. Gute Träume gibt es nicht mehr, die Besten sind die, in denen ich sterbe. Früher floss meine Sprache ungehemmt wie das Wasser aus der Quelle – heute muss ich jede Silbe mühsam aus dem Eisblock meiner Seele meißeln‘.
Er las, was er geschrieben hatte. Dann riss er das Blatt aus dem Buch, stand auf und warf es in die Feuerstelle. Es landete mit der unbeschriebenen Seite nach oben. Er setzte sich auf den Baumstamm, den er am Abend noch herangeschleppt hatte, und sah in die Glut, die an den Rändern des Blatts fraß und und es in Asche verwandelte. Kleine rote Funken arbeiteten sich weiter vor, verzehrten mehr und mehr von dem festen Papier.
Anfänglich verfolgte er den Vorgang eher emotionslos. Dann aber, als sich nur noch ein fingernagelgroßes Stück unberührtes Weiß von dem Grau abhob, schien ihm dies plötzlich ein Symbol für seine ringsum bedrohte Seele und fast hätte er die Hand ausgestreckt, um wenigstens dieses kleine heile, reine, helle Stückchen zu retten. Am Ende unterdrückte er seinen Impuls widerwillig mit zusammengebissenen Zähnen und sah zu, wie alles zu Staub wurde. Geistesabwesend stierte er auf die verkohlten Überreste, bis ein gelbrotbrauner Farbtupfer, ein Stieglitz, an ihm vorbei flatterte, sich auf einem wilden Apfelbaum am Waldrand niederließ, sich kurz aufplusterte, sein Gefieder putzte und wieder glättete. Nach erfolgreicher Körperpflege begann der Vogel ausführlich seine Vorzüge anzupreisen.
Sein Gesang hatte etwas ungemein Beruhigendes. Magnus seufzte tief. Er hätte schon viel früher zurückkommen sollen. Obwohl es natürlich völlig unsinnig war, das Tierchen zu beneiden, tat er es für einen kurzen Augenblick trotzdem. Frei wie ein Vogel.
Na ja. So frei? Vogelfrei? Quatsch.
»… Und künde dich den vögeln frei in den lüften und den tieren in dem wald und den vischen in dem waßer und solt auf keiner straßen noch in keiner mundtat, die keiser oder künig gefreiet haben, nindert fride noch geleit haben«
Wer war schon frei. Auch Vögel hatten ihre Zwänge. Aber einmal angenommen, er wäre ein Tier? Was wäre er dann wohl? Eine Ameise, immer in Aktion, im Getriebe der Gemeinschaft? Sicher nicht. Er mochte keine Menschenmassen und hielt sich von ihnen fern. Einkaufszentren, öffentliche Verkehrsmittel, überfüllte Skipisten – alles verursachte ihm körperliches Unbehagen.
Also mehr ein Einsiedler. Ein Bär vielleicht? Ein gefährlicher Einzelgänger und nur harmlos, sobald er satt war? Ein netter Gedanke, aber leider, nein, auch nicht – jeder Hausganter war gefährlicher als er. Oder war er ein wiederkäuender Hirsch, immer auf dem Sprung, jederzeit fluchtbereit? Vielleicht war er das noch am ehesten. Und wie stand es mit den Rivalen? Er grinste kurz und freudlos, er verabscheute Auseinandersetzungen, war ihnen nach seiner Pubertät weiträumig ausgewichen.
Nun ja – möglicherweise hatte er ja ganz poetisch die Gemütsart einer sanftäugigen Hirschkuh.
Oder vielleicht war er einfach nur ein völlig unanimalisches Lulu, wie man in Wien sagte, ein Weichei, ein Tagträumer, ein Hans-Guck-In-Die-Luft ohne Durchsetzungsvermögen. Letzteres schien ihm sehr wahrscheinlich.
Dem Kritikaster in ihm war nicht entgangen, dass er seit geraumer Zeit nur noch krampfhaft zufällig vorbeilaufende Ideen einfing und diese dann – je nach dem, was er zuletzt gelesen hatte – mit einer seltsamen Widerstandslosigkeit und völlig ohne seiner eigenen ursprünglich so kraftvollen Wortwahl, zu Papier brachte. Und das Ergebnis las sich abwechselnd mal wie Ringelnatz, mal wie Umberto Eco, mal wie ein Schlegelscher Shakespeare-Text, dann wieder wie Kästner, aber nicht mehr wie Magnus Togler. Er litt ganz offensichtlich an stilistischer Echolalie. Seine spirituelle und sprachliche Individualität war verloren.
Im Übrigen war es idiotisch, sich schon wieder mit irgendwelchen Gedankenspielereien zu beschäftigen. Dafür war er nicht in die Einsamkeit gegangen.
Sein Magen knurrte. Erwartungsvoll öffnete er den Deckelkorb mit den Leckereien, die Lina ihm eingepackt hatte. Obst, Brot, Räucherspeck, harte Eier, Käse. Welch ein himmlischer Geruch. Er aß langsam, voller Genuss – seine Vorräte an Wurst und Knäckebrot konnten damit nicht konkurrieren.
Für den Stieglitz hatte sich in der Zwischenzeit ein Rivale gefunden. Jetzt riefen die beiden um die Wette, einer hüben, einer drüben. Insekten summten. Er spähte aus dem Wald hinunter zum Bach.
Eine Rehgeiß trat mit ihrem Kitz zögernd ins Freie. Er erstarrte. Die Tiere bewegten sich langsam zum Wasser, sorgsam sicherte die Ricke nach allen Seiten. Ein Häher flog vorbei, entdeckte ihn und ratschte einen Alarmruf. Die Rehe flüchteten in hohen Sprünge zurück ins Dickicht. Magnus blieb regungslos auf seinem Baumstamm sitzen.
Da. Ein Fuchs schnürte heran. Mäusejagd. Der Häher schwieg. Klar, für arme Mäuse gab es keine Warnung. Sie entkam offensichtlich dennoch und der Fuchs, der enttäuscht den Kopf hob, sah plötzlich Magnus direkt ins Gesicht. Der kniff die Augen noch mehr zusammen. Ein paar Herzschläge lang verharrten beide regungslos, wie in die Landschaft hinein geklebt. Am Ende war es dem Fuchs doch nicht ganz geheuer und er verschwand mit einer eleganten Kehrtwendung im hohen Gras.

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Vielen Dank für diese wunderbare Morgenlektüre zum Kaffee.
Ich mag deine winzigen österreichischen Sprachunterschiede zum hiesigen Deutsch. Erinnert mich an all die vielen schönen Urlaube von Kind an. Und es ist wenig genug, um es nicht lokal zu überfrachten.

„Wer denkt, im Wald sei es still, war noch in keinem.“ Zumindest, wenn denn doch, war er noch nie selbst so still, dass er die vielfältigen Geräusche hätte hören können.

Und ich bin grade unfassbar neidisch auf Magnus, dass er sich einfach so frei in den Wald legen kann.

‚Meine Fantasie ist kaputt…meiner Seele meißeln‘.
Wie gut, dass du es hier gesichert hast. Das sind wunderschöne Worte.

Ok, und jetzt ein wenig Jammern auf hohem Niveau :nerd_face:

  • Vor „Gestern war die Situation eskaliert.“ bitte auch ein Absatz, das macht den Zeitsprung deutlicher
  • Instantkaffee und auch ein Glas Löskaffee?
  • und Lina beim ihm auf
  • haben« Wer… Hier wäre ein Punkt und Zeilenumbruch angenehm

Und jetzt geh ich den 2. Teil lesen.

Servus!
Habe schon korrigiert. Sieht viel besser aus, danke!
Ach ja, bezüglich ‚beim‘:
Ich muss noch mehr darauf achten, dass ich beim Schreiben ‚am Wort‘ bleibe und nicht schon Teile vom nächsten oder übernächsten tippe. Meine Finger sind viel zu langsam für mein Gehirn :-). Gelegentlich ergibt das skurrile Wortschöpfungen. (Keine Ahnung, ob es nur mir so geht.)

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Nein, da bist du in Gesellschaft. Mir geht es sogar oft beim Sprechen so, was noch unangenehmer, weil nicht zu korrigieren :laughing:
Vielleicht sollte er auch das Schreibzeug einpacken, das er später benutzt.

Du hast recht. Ich habe das Schreibzeug nicht erwähnt. Möglicherweise, weil ich selbst nie ohne unterwegs bin - ist wie Schüssel und Geldbörse quasi immer am Mann.

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