Lieber Stephan,
ich glaube nicht, daß sehr viele Benutzer von Papyrus an den programmierten Voreinstellungen herumschrauben werden, was den Lesbarkeitsindex (LbI) betrifft. Andererseits: Was zählt hier schon ein Glaube?
Wenn ich mir das zugrundeliegende Konzept für LbI anschaue, dann liegt die Konzentration v.a. auf Wort-, Satz- und Silbenzahlen – aber daß man in bestimmten Fällen schon allein damit furchtbar in die Irre gehen kann, dürfte evident sein, selbst dann, wenn man nicht an Alle meine Entlein denkt …
Mir fällt spontan ein Kriterium ein, das wahrscheinlich wesentlich die Lesbarkeit beeinflußt: Wer je Latein gelernt hat – z.B. anbei der Lektüre des notorisch verschachtelnden Cicero --, wird wissen, daß es für Les- und Verstehbarkeit z.B. nicht unbedeutend ist, wie es sich mit der Distanz von Subjekt(en) und zugehörigen Prädikaten(en) im Hauptsatz verhält. Das ist schon mal an sich ein relevantes Kriterium. Es erlangt allerdings v.a. dann besondere Wichtigkeit, wenn sich noch (ein) Nebensätze(satz) in der syntaktischen Figuration befinden/t. Denn dann wird auch das Problem der Grammatik-Kompetenz akut, besonders, wenn Hauptsätze Unterbrechungen durch Nebensätze bzw. bestimmte andere Partikel erfahren.
Bei Cicero etwa passiert es nicht selten – andere lat. Autoren ließen sich ebenfalls anführen --, daß ein oder zwei, manchmal (Herrje, wie man dabei ins Schwitzen kam als Schüler!) auch drei Nebensätze den Hauptsatz unterbrechen und das HS-Subjekt von seinem Prädikat somit über dreißig oder gar vierzig Wörter distanziert wird (mal abgesehen davon, ob überhaupt die richtige Zuordnung des Prädikats fürs HS-Subjekt erfolgt). – In solchen Fällen gibt es dann natürlich zwangsläufig Lesbarkeits- und Verständnisprobleme. Ein Latein-Papyrus würde den Text mehr oder weniger komplett rotglühend unterlegen …
Aber von solchen Extrema einmal abgesehen: Die richtige Zuordnung der einzelnen Satzglieder, auch in einfacheren Sätzen als jenen bestimmter lat. Autoren (oder bspw. manchmal auch bei Musil, Thomas Mann und anderen), ist natürlich ein tatsächlich entscheidendes Kriterium dafür, ob ein Satz gut verstehbar ist oder nicht; jedenfalls ist dieses Kriterium sicher wichtiger als rein statistische – also quantitative – Befunde.
Anders herum: Das Qualitative – etwa Kompetenz-Levels semantischer wie auch grammatikalischer Art – können doch nicht im Ernst ausgeblendet werden, wenn das Thema ‚Lesbarkeit‘ aufs Tapet gebracht wird. – Nun ist es aber der Fall, daß qualitative Kriterien nahezu keine Rolle spielen (heutzutage können schon viele Menschen nicht mehr Satzglieder richtig zuordnen, sobald das syntaktische S-P-O-Niveau überschritten wird!), wie die dokumentierten Methoden der Ermittlung des LbI ja auch zeigen. Insinuiert ist dabei, anhand der quantitativen Kriterien würden zumindest „indirekt“ einige qualitative einbezogen. – Das mag sein oder auch nicht (wie aber sollte das „bewiesen“ oder wenigstens handfest gemacht werden?). Auf jeden Fall haben wir es mit LbI hinsichtlich solcher Erwägungen mit einem v.a. quantitativ „gepolten“ Instrument zu tun.
Daß es trotzdem Hilfestellung geben kann, habe ich an diesem oder oder jenem eigenen Text schon gesehen (es ergab sich manches Mal, daß ich lange Sätze aufgeteilt habe und dadurch auch für mich selbst etwas besseres „rauskam“ als vorher). Nur ist damit natürlich keineswegs „des Rätsels Lösung“ erreicht. Nicht wirklich! Denn bei Lese- und Verstehensprozessen greift wahnwitzig viel ineinander, sowohl Quantitatives als auch Qualitatives. Letzteres vermögen Algorithmen bisher eher wenig zu berücksichtigen. Und deshalb kann ein ermittelter LbI-Wert ein Kriterium der Beurteilung sein, wovon es allerdings** immer mehrere** gibt, die der Mensch dann halt auch noch mit einbeziehen muß, wenn er ein Urteil darüber, wie ein Text „tickt“, fällen möchte.
Zum ganzen Themenkomplex habe ich im Netz eine wiss. Arbeit gefunden, die im Resultat zu einem – für hiesige Zusammenhänge – geradezu vernichtenden Urteil kommt, nämlich dem, daß Lesbarkeitsanalysen für Belletristik keinen Wert haben.
Die Autorin der Untersuchung hat drei verschiedene Lesbarkeitsindex-Ermittlungsansätze (es gibt deren ja mehrere und nicht nur Flesch, der wohl am bekanntesten ist) auf je zwei belletristische Werke, eines aus der Hochliteratur und eines aus dem U-Sektor, angewandt, um zu ermitteln, ob sich bei den drei unterschiedlichen quantitativen und computergestützten Analysen eine Korrelation ergibt. Das Ergebnis ist ernüchternd: Es gibt keine solche …
Im Klartext heißt das: Je unterschiedliche Ansätze erbringen unterschiedliche Ergebnisse, was ja, sollte der LbI eine Relevanz für Belletristik [sic!] haben, eigentlich ausgeschlossen sein müßte. Ist es aber (leider) nicht! Die Autorin hat sich allein auf lit. Werke kapriziert und stellt es anderen Untersuchungen dieser (Korrelations-Ermittlungs-)Methode anheim, ob sich das negative Ergebnis auch auf nicht-belletristische Bereiche des Lesens erstrecken würde oder da eine gewisse Korrelation bei den Ergebnissen der diversen Untersuchungsmethoden zu verzeichnen wäre.
Gleichwohl: Mir sagt meine inzwischen gewonnene Erfahrung [sic] mit dem Papyrus-LbI, daß die *Rigorisität *dieses Urteils zumindest *aus der Sicht eines Autors *[korrigiert nach Fehlerhinweis von @AndreasE ] *-- * somit eben keines/r Wissenschaftlers/in – nicht unbedingt akzeptiert werden muß, weil es ja auch den Faktor eines subjektiven Ertrages einer LbI gibt, wie ich ihn selbst schon erlebt habe. Andererseits sollte niemand glauben – auch das zeigt diese Untersuchung auf der anderen Seite der Medaille --, die LbI wäre irgendein Wundermittel, mit dem man zuverlässig zum … ähm … „Bestseller-Autor“ werden könnte. Ohne diverse mentale Kompetenzen, „Instinkt“ und v.a. auch ein „ästhetisches Gefühl“, ist alles nichts in der Schreiberei! Und sei die technische Aufrüstung noch so gigantisch. – Mir scheint: Wer imstande ist, diese beiden Seiten an der Sache vernünftig auszutarieren, kann zu guten Ergebnissen kommen.
Hier der Link zur Studie (bzw. zum Report darüber in dt. Sprache), die zu lesen für Autoren wohl sehr empfehlenswert ist (gehostet ist sie auf dem** Digitala Vetenskapliga Arkivet** [DiVA portal is a finding tool and an institutional repository for research publications and student theses written at 49 universities and research institutions]):
https://www.diva-portal.org/smash/get/diva2:1372668/FULLTEXT01.pdf
Viele Grüße von Palinurus