Kurzgeschichte BEGEGNUNG AUF DEM DEICH

Begegnung auf dem Deich

Der Mann kam jeden Tag an den Deich. Bei jedem Wetter. Wenn es kalt war und der Nordwestwind übers Watt pfiff, zog er die Kapuze seiner Windjacke tief ins Gesicht. Wenn eine zögerliche Sonne unverhofft wärmende Strahlen durch die Wolken schickte und das sandige, mit schwärzlichen Algen durchsetzte Nordseewasser die Besucher mit einem leuchtenden Blau überraschte, zog er die Jacke aus, faltete sie sorgfältig zusammen und legte sie neben sich auf die Bank.

Stundenlang saß er da, der Mann, und starrte aufs Wasser hinaus. Seine Augen spiegelten die Weite der See wider. Spaziergänger, die auf dem Deich an ihm vorbeigingen, schien er gar nicht wahrzunehmen.

Es lag etwas Schwermütiges in der Art, wie er den Kopf hielt und die Schultern nach vorne beugte. Als läge eine Last auf ihm.

Nie setzte sich jemand zu ihm. Seine abweisende Haltung signalisierte unmissverständlich, dass er allein sein wollte.

Das Kind kümmerte sich nicht um diese wortlose Bitte. Ungeniert setzte es sich zu dem Mann. Vier oder fünf Jahre war es wohl alt, das Kind. Lebhafte Augen hatte es, und es sah dem Mann neugierig ins Gesicht.

„Hallo!“ Munter und fröhlich klang die Stimme des Kindes. Überhaupt nicht schüchtern oder ängstlich.

„Was machst du hier?“, fragte das Kind.

„Ich sitze hier“, antwortete der Mann abweisend.

„Ja, aber was machst du, wenn du hier sitzt?“

„Ich schaue aufs Meer hinaus“, sagte der Mann.

„Okay“, sagte das Kind, „dann schaue ich jetzt auch aufs Meer hinaus.“

Eine Weile blieb es still. Der Mann und das Kind saßen nebeneinander und blickten aufs Wattenmeer.

„Das Wasser kommt wieder“, sagte das Kind. „Siehst du es? Da hinten!“ Es wies mit seiner auffallend zarten Hand in Richtung Meer.

„Mama sagt, das sind die Gezeiten. Ebbe und Flut. Mal kommt das Wasser, mal geht es. Lustig!“

Der Mann antwortete nicht.

„Es ist schön, dass das Wasser immer wiederkommt. Und bei Ebbe kann man über das Watt laufen.“

„Hm“, machte der Mann

Das Kind musste husten. Höflich hielt es sich die Hand vor den Mund.

„Mama sagt, die Luft hier ist gut für mich. Ich bin nämlich krank. Ich muss immer so viel husten.“

„Aha“, sagte der Mann.

„Ja. Der Doktor sagt, meine Lunge muss kräftiger werden. Damit ich richtig atmen kann, weißt du? Deshalb sind wir hier, Mama und ich.“

„Aha“, wiederholte der Mann.

„Und warum bist du hier? Hast du auch eine kranke Lunge?“ Das Kind war aufgesprungen und hatte sich vor den Mann hingestellt. Der Blick seiner Augen traf sich mit dem des Mannes.

„Nein, ich habe keine kranke Lunge.“

„Was dann?“

Der Mann blickte in das blasse, zarte Gesicht des Kindes.

„Ich bin traurig.“

„Warum bist du traurig?“, fragte das Kind.

„Jemand ist gestorben“, sagte der Mann. Er sah wieder aufs Meer hinaus.

„Ach. Ja, das ist traurig“, antwortete das Kind. „Als meine Oma gestorben ist, war ich auch traurig. Ich habe sogar geweint. Hast du auch geweint?“

„Nein, nicht richtig.“

„Meine Mama hat gesagt, man darf ruhig weinen, wenn man traurig ist. Da ist nichts dabei.“

„Ja, da hat deine Mama sicher Recht.“

Plötzlich ergriff ein heftiger Hustenanfall den schmalen Körper des Kindes. In schrecklichen Stößen versuchte es, seine Lunge und Bronchien von dem zähen Schleim zu befreien. Die bleichen Wangen röteten sich von der Anstrengung, während das Kind beide Hände vor den Mund presste. Hilflos sah der Mann das Leid des Kindes mit an. Offensichtlich wusste er nicht, was er tun sollte.

Eine junge Frau, wohl die Mutter des Kindes, die bisher auf der Nachbarbank in einem Buch gelesen hatte, kam herbeigelaufen.

„Lisa, schnell! Hier ist dein Spray.“ Sie schob dem Kind den gebogenen Hals einer Spraydose in den Mund und drückte zweimal kräftig auf den Auslöser. Langsam legte sich der Hustenreiz und das Kind begann wieder ruhiger ein- und auszuatmen. „Es geht schon wieder, Mama“, beruhigte das Kind seine Mutter.

„Ich hoffe, meine Tochter hat Sie nicht belästigt?“

„Nein, schon gut.“

„Verabschiede dich jetzt, Lisa, wir müssen zurück ins Sanatorium.“

Das Kind streckte dem Mann seine Hand hin. „Bis morgen, trauriger Mann.“

Der Mann nahm die winzige Hand und drückte sie.

„Bis morgen“, sagte er.

Das Kind lächelte ihn an. Dann nahm es die Hand seiner Mutter und ging davon.

Einen Moment lang blickte der Mann ihnen nach. Dann sah er wieder hinaus aufs Meer. Die Flut kam. Zuverlässig. Tröstlich. Das graue Wasser bedeckte schon fast das gesamte Watt. Die Wolken lichteten sich. Durch eine Lücke stahl sich ein Sonnenstrahl. Der Mann blinzelte. Tränen liefen über seine Wangen. Er wischte sie nicht weg, sondern hielt sein Gesicht der Sonne entgegen.

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Eine schöne, traurige Geschichte. Danke dafür.

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Geht ans Herz :heart:

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Das hat was.
Ich kann da sogar ein wenig mitfühlen.
Danke sehr.

:hugs:

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Danke dafür, da ist wirklich Gefühl drin!

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Was für ein starkes Symbol am Ende dieser wundervollen Begegnung, deren Zeuge Du uns hast sein lassen.

Danke dafür!

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Hallo @MargareteHeleneBerna
ich war sofort drin und bin bis zum Schluss gerne geblieben.
Sehr berührend :fairy::dizzy:

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Das ist eine wunderschöne emotionale Geschichte. Vielen lieben Dank

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Hallo ihr Lieben! Danke für das Lesen und Kommentieren meiner Geschichte! Sie scheint euch gefallen zu haben, deshalb traue ich mich jetzt, eine weitere meiner Kurzgeschichten zur Diskussion zu stellen. Sie handelt ebenfalls von einer ungewöhnlichen Begegnung, ist brandneu und greift ein aktuelles Thema auf.

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Hallo!

Ich habe deine Kurzgeschichte gerne gelesen. Sie ist flüssig und angenehm fehlerfrei. Wenn du bei den Inquits (Dialogbegleitungen) sparen würdest, wäre der Text straffer. Unterhalb zwei Beispiele dazu.

„Es geht schon wieder, Mama“, beruhigte das Kind seine Mutter.

Fettmarkiertes kann problemlos entfallen. Es ergibt sich aus dem Dialog.

Netten Gruß, Manuela :slight_smile:

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Danke fürs Lesen und die Korrekturvorschläge. Werde drüber nachdenken.
LG Margarete

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