Hier noch eine Kurzgeschichte - passend zur kommenden Weihnachtszeit, die ich auch schon vor vielen Jahren geschrieben habe. Sie beruht tatsächlich auf einem wahren Erlebnis
Eine wahre Geschichte (… in einer Winternacht)
‚Es geschah in einer kalten Winternacht‘ - so oder so ähnlich lauten die ersten Worte unzähliger Märchen und Sagen aus der Weihnachtszeit, und so könnte auch diese Geschichte über eine merkwürdige Begegnung beginnen. Doch ich habe sie tatsächlich erlebt, und sie war so bemerkenswert, dass ich sie noch oft erzählen und ebenso sicher niemals vergessen werde.
Sie ereignete sich in einer Dezembernacht - vor nahezu fünfzehn Jahren. Damals lebte ich in Köln und studierte Betriebswirtschaft an der dortigen Fachhochschule. Um mein kärgliches Einkommen aufzubessern, arbeitete ich nachts als Rezeptionist in einem kleinen Hotel in direkter Nachbarschaft zum Hauptbahnhof. In warmen Sommernächten war der Bahnhofsvorplatz durchgehend belebt und mein Job häufig mit Ärger in Form von verirrten Betrunkenen verbunden, die in der Hotelbar einen letzten Absacker trinken oder ihren Rausch in einem der Sessel ausschlafen wollten. In dieser kalten Wintersnacht aber hatte ich mich auf ruhige und einsame Stunden ohne besondere Vorkommnisse eingestellt.
Es muss gegen halb zehn gewesen sein, als ich das Hotel betrat. Meine Kollegin vom Spätdienst teilte mir noch die wichtigsten Informationen mit, bevor sie mir die Rezeption überlies und sich verabschiedete. In den letzten Wochen des Jahres kamen nur wenige Gäste, lediglich fünf Zimmer waren belegt. Ich verriegelte die Hoteltür und genoss die eingetretene Stille, die ein Grund dafür war, dass ich mir diese Arbeit ausgesucht hatte. Ich nahm mir eine Tasse Kaffee und eine Schüssel mit Erdnüssen und setzte mich in die kleine Hotelbar. Freudig dachte ich daran, dass ich mir später den Film „Ist das Leben nicht schön“ mit James Stewart auf dem Fernseher in der Lobby ansehen würde, so wie ich es jedes Jahr in der Weihnachtszeit tat.
Hinter meinem Spiegelbild in der großflächigen Fensterscheibe beobachtete ich, wie die Schneeflocken Straßen und Autos weiß zu färben begannen und allmählich regten sich erste weihnachtliche Gefühle in mir. Während ich dasaß und meinen Gedanken nachhing, bemerkte ich eine Gestalt, die sich durch den immer dichter fallenden Schnee auf mich zu bewegte und erkannte bald die alte Frau, die seit einiger Zeit ihre Nächte auf den Abluftgittern vor dem Hotel verbrachte. Ich beobachtete, wie sie ihre große, rote Tasche neben den Rost ganz in der Nähe meines Fensters stellte, und als sie ihren Mantel enger um ihren dürren Körper schlug, blickte sie für einen Moment zu mir herüber. Ich hatte nie zuvor ihr Gesicht gesehen und nur an den langen silbrigen Haaren und ihrer Figur erkannt, dass sie recht betagt sein musste. Trotz ihres Alters, ich schätzte sie auf Mitte sechzig, hatte sie ebenmäßige, beinahe adelig wirkende Züge mit hohen Wangenknochen, schmalen, scharfen Lippen und fein gezeichnete, perfekt verlaufende Augenbrauen über klaren, grünbraunen Augen. Ihre leicht dunkle Haut und ihr sorgfältig gekämmtes Haar, das unter der Kapuze hervor lugte, wirkten gepflegt und sauber. Für einen Moment lang schien es mir, als husche ein wissendes Lächeln über ihr Gesicht, doch dann wandte sie sich ab und ließ sich auf dem Gitter nieder, ihre Tasche dicht an sich gepresst. Ich beobachtete sie eine Weile und mir wurde bewusst, dass sie in jüngeren Jahren eine Schönheit gewesen sein musste. Ich fragte mich, was ihr widerfahren war, sie hierher, auf dieses Abluftgitter vor meinem Fenster geführt hatte.
Gedanken an das bevorstehende Weihnachtsfest hatten mich die alte Frau auf dem Gitter vergessen lassen, und ich begann, mich um die Nachtverarbeitung des Computers zu kümmern. Es war vielleicht eine halbe Stunde vergangen, die Arbeit hatte ich gerade beendet und wollte mir einen Kaffee zubereiten, als ich die aufgeregten Rufe vor dem Hotel hörte. Ich ließ die Tasse stehen und lief zum Fenster. Ein schmuddeliger, junger Mann hatte sich schwankend vor der alten Dame auf dem Gitter aufgebaut und redete, hitzig gestikulierend, auf sie ein. Sie schrie und schlug mit beiden Armen nach ihm. Ich verstand, dass er ihr anzügliche Angebote machte und beobachtete erschrocken, wie er einen zerknüllten Zwanzigmarkschein aus seiner Hosentasche fummelte und der Frau vor die Nase hielt. Ihr Kreischen wurde schriller, sie begann, heftiger nach ihm zu schlagen. Der offenbar nach Gesellschaft Suchende gab nicht auf und versuchte sie zu packen. Ich rannte zur Hoteltür, schloss sie auf und sprang auf den Gehweg. »Lass sie in Ruhe!«, rief ich in seine Richtung. »Ich habe die Polizei gerufen. Die sind gleich hier!« Der Mann hielt inne, zögerte. Im ersten Moment befürchtete ich, er wolle sich nicht so einfach geschlagen geben, aber meine Worte zeigten schließlich Wirkung und er trollte sich. Die Frau sah jetzt zu mir herüber, und ich tat etwas, das mich selbst überraschte: Ich ging zu ihr und bat sie auf einen Kaffee ins Hotel. Sie sah mich verwundert an, akzeptierte jedoch die Einladung und folgte mir in die Hotelbar. Dort bat ich sie, Platz zu nehmen und während ich zwei frische Tassen zubereitete, beobachtete ich sie aus den Augenwinkeln. Fast bewegungslos, ihren Blick ins Leere gerichtet, saß sie auf dem Sessel, die Tasche mit ihren Habseligkeiten auf dem Schoß umklammert. Mit den dampfenden Bechern setzte ich mich ihr gegenüber und schob ihr einen über den Tisch zu.
„Danke“, sagte sie mit einer unerwartet tiefen, dennoch femininen Stimme. Sie umgriff ihre Tasse mit beiden Händen und hielt sie eine Weile fest. „Die Wärme tut gut!“ Sie hatte nicht aufgesehen, während sie sprach.
„Ja, das glaube ich“. Es waren die einzigen Worte, die mir in diesem Moment einfielen. Ich beobachtete, wie sie ihren Kaffee trank und wieder bewunderte ich ihre edlen Züge, die gepflegte Haut, ihre schlanken, eleganten Finger. Wie war das möglich, wo sie doch offenbar obdachlos war? Ich hatte nicht bemerkt, dass sie mich jetzt musterte und ihre Stimme riss mich aus meinen Gedanken. „Worüber grübeln Sie? Wie jemand wie ich auf die Straße gerät?“.
„Nein, ich …“
„Das ist in Ordnung. Ich würde mich das an Ihrer Stelle auch fragen“, antwortete sie schmunzelnd.
Ihre Sprache passte zu ihrer Erscheinung; gepflegt, klar und ruhig, völlig frei von regionalen Ausdrucksformen. Wieder war ich sprachlos, wusste keine Antwort, aber sie befreite mich aus dieser Bedrängnis und begann zu erzählen; von einer Familienfehde, einem Streit mit den Eltern, die angeblich sehr reich gewesen waren, dem endgültigen Zerwürfnis, und schließlich ihr Tod und die Erbschaft. Dann folgte ein endloser Zwist der Geschwister und ein ebenso nicht enden wollender Gerichtsprozess. Irgendwann, so erklärte sie, würde sie eine Menge Geld und zahlreiche Häuser besitzen.
So klar und präzise ihre Aussprache war, so verworren und unglaubwürdig klang ihre Geschichte, doch ich verlor kein Wort des Zweifels und hörte ihr staunend zu. Später unterhielten wir uns über Politik, die Gesellschaft und die Menschheit im Allgemeinen und tranken etliche Tassen Kaffee zusammen, bis sie gegen halb sechs am folgenden Morgen ihre Tasche nahm, sich freundlich bedankte und das Hotel verließ.
Lange Zeit habe ich über ihre seltsame Geschichte nachgedacht, die mich ahnen ließ, dass vieles nur ihrer Phantasie entsprungen war. Noch genau drei Wochen nach unserem Treffen in der Hotelbar sah ich sie in den Nächten auf dem Abluftgitter sitzen, und jedes Mal winkte sie mir mit einem Lächeln zu, aber weitere Einladungen in die Hotelbar lehnte sie dankend ab. Die Becher mit heißem Kaffee, die ich ihr stets hinausbrachte, nahm sie jedoch gerne an.
Dann, nach der dritten Woche, kam sie nicht mehr. Immer wieder habe ich nach ihr Ausschau gehalten, aber sie blieb verschwunden. Hatte ihr Geschichte letzten Endes doch der Wahrheit entsprochen und sie lebt heute in einem ihrer vielen Häuser? Ich wünsche es mir von Herzen, erfahren, wer sich wirklich war, werde ich wohl niemals.
Marco Pfeiffer, irgenwannd vor vielen Jahren …