Kuckuck

Liebe SchriftstellerkollegInnen,

ihr seid gerade die Einzigen neben meiner viel zu wohlmeinenden Familie, die ich um Kritik bitten kann.

Diese Geschichte hakt irgendwo, doch ich finde keine (Er-)Lösung. Ist es Abgedroschenheit, unlogischer Verlauf, …?

Ich habe eine Idee, hätte aber gerne noch viel mehr von euch.

Ich freue mich sehr über eure Hilfe, falls denn welche kommt!

Liebe Grüße

Kuckuck

Er wurde Kuckuck genannt, nur von Matilda nicht, seiner Mutter, die ihn David rief, mit einem zärtlichen, langen ‚a’.

Für seinen Vater war er ‚der Junge’.

David kam zur Welt, als seine vier Schwestern längst zur Schule gingen. Die Freude über einen Sohn hielt beim Vater an, bis feststand, dass sein Kind nicht wie andere war. Das erste und einzige Wort, das David je sprach, lautete ‚Kuckuck’. Er hatte es zum ersten Mal an seinem vierten Geburtstag in den Garten gekräht, als seine Schwestern mit ihm Versteck spielten. Von nun an versteckte David sich immer und überall. Seine Mutter, seine Schwestern, die Verwandten und Nachbarn taten, als sähen sie ihn nicht, wenn er unter dem Küchentisch hockte oder mit den Händen vor Augen auf dem Bürgersteig stand und »Kuckuck!« rief.

Nur der Vater ignorierte ihn, so gut es eben ging.

David war ein gutmütiger und fröhlicher Junge. Die anderen Kinder in der Straße mochten ihn, und er durfte an ihren Spielen teilnehmen, auch wenn er die Regeln nicht verstand und oft alles durcheinanderbrachte.

Nur Tobias, der größer und auch kräftiger war, konnte David nicht leiden und quälte ihn, sobald niemand hinsah oder nur Kleinere in der Nähe waren. Er schubste und kniff, höhnte und beleidigte. Ab und zu bekam David sogar Tobias’ Faust auf dem Hinterkopf zu spüren, doch er weinte nicht und wehrte sich nie, blieb einfach stehen und sah Tobias ernst in die Augen.

»Du armer Irrer!«, brüllte Tobias dann und rannte davon.

»Kuckuck!«, rief David, froh, seinen Peiniger los zu sein.

Als David acht Jahre alt wurde, kam er zur Schule.

»Es ist eine Schule für ganz besondere Kinder«, sagte seine Mutter und strich ihm über den Kopf.

David bekam eine bunte, unten spitz zulaufende Tüte voller Süßigkeiten, und es gab eine Feier in der Aula.

»Kuckuck«, freute sich David und war stolz.

Sein Vater hatte keine Zeit, an der Feier teilzunehmen und kam auch später nicht, als sie im Garten Fleisch und Kartoffeln grillten. Immer wieder lief David zum Tor, blickte den Weg hinauf und hinunter und rief: »Kuckuck!«

»Der Junge muss in ein Heim«, erklärte der Vater, als er spätabends nach Hause kam.

»Nein, Achim, das muss er ganz bestimmt nicht«, sagte Matilda streng und das Thema wurde nie wieder erwähnt.

Gleich am ersten Schultag lernte David ein Mädchen kennen. Es hieß Anne und besuchte eine andere Klasse, eine, in der die Kinder ein bisschen lesen und schreiben lernten. Das Einzige, das David an Anne störte, war ihr großer Bruder, Tobias.

Dafür liebte er Annes sonnengelbes Haar. Sie band es zu Zöpfen, die lustig über den Ohren baumelten. Ihre Nase war wie mit Sesamkörnchen bestreut, und wenn sie lachte, bewunderte David die Zahnlücke, in der ein großes Stück Schokolade Platz hatte.

»Bald habe ich aber neue Zähne«, beteuerte Anne und ließ David eine erste kleine Spitze mit den Fingern fühlen.

»Kuckuck«, lockte David und blickte neugierig in Annes weit geöffneten Mund.

In den Pausen saßen sie Hand in Hand auf einer Bank, beschützt von den ausladenden Ästen einer alten Kastanie. David durfte von Annes Brot abbeißen. Er schenkte ihr Süßigkeiten, die er zu Hause stibitzt hatte.

An warmen Nachmittagen schlenderten sie zum Fluss, hockten im tiefen Gras am Ufer, schauten den Wellen zu, bis Anne schwindelig wurde. Manchmal spielten sie Verstecken im alten Bootshaus, aber nur, wenn es Anne gut ging und sie nicht, wie so oft, die Orientierung verlor.

Tobias wurde puterrot vor Wut, wenn er die beiden zusammen sah, und piesackte David schlimmer, als je zuvor. Anne versuchte, ihren Freund zu beschützen, doch Tobias stieß sie einfach zur Seite und befahl ihr, hinter der nächsten Biegung auf ihn zu warten. Dann stieß und schlug er David so lange, bis der in den Dreck fiel. Ein Mal war er sogar mit Nasenbluten nach Hause gekommen.

»Wer war das?«, hatte seine Mutter aufgeregt gefragt, aber David verriet niemanden, auch Tobias nicht.

Eines Abends beobachtete David von seinem Fenster aus, dass Tobias zum Fluss hinunterging. Es war schon dunkel, und da Sommer war, musste es sehr spät sein. Tobias trug eine Schaufel, die er sich wie ein Gewehr über die Schulter gelegt hatte. Sein Gesicht wirkte grimmig und entschlossen, als wollte er in einen Krieg ziehen.

Am Nachmittag des nächsten Tages zerrte David seine Freundin an der Hand zum Fluss. »Kuckuck, Kuckuck«, rief er immer wieder aufgeregt.

»Schon gut, David, ich habe ihn doch auch gesehen. Mama hat fürchterlich geschimpft, als sie ihn mitten in der Nacht und voller Dreck in der Küche erwischt hat. Sie war so laut, dass ich aufgewacht bin.«

Sie mussten nicht lange suchen. Direkt hinter dem Bootshaus, versteckt hinter Büschen, hatte Tobias ein Loch ausgehoben. Daneben lag eine alte Holzleiter, der mehrere Sprossen fehlten.

David spähte vorsichtig in die Grube. »Kuckuck?«

»Oh je, da passt ja ein ganzer Mensch rein, ein richtig großer.« Erschrocken sah Anne David an. »Was will er denn damit machen?«

»Das werdet ihr gleich sehen, ihr verblödeten Rotzlöffel!« Tobias stand, auf die Schaufel gestützt, direkt hinter ihnen und grinste.

»Bitte tu uns nichts!« Anne weinte.

Der Schlag, den Tobias ihr verpasste, hinterließ rote Striemen auf ihrer blassen Wange. »Mach, dass du nach Hause kommst.« Das sagte er ganz ruhig und es klang so böse, dass Anne sich umdrehte und loslief.

»Komm David, nun komm doch!«

Aber David bewegte sich nicht. Er stand am Rand der Grube und sah Tobias ruhig ins Gesicht, als Anne hinter der nächsten Biegung verschwand.

Tobias hatte kleine Schaumflocken in den Mundwinkeln. Seine Stirn war nass von Schweiß und in seinen Augen konnte David geplatzte Äderchen erkennen.

Plötzlich hob Tobias die Schaufel über den Kopf und stürmte auf David zu. Eine Sekunde, bevor Tobias ihn erreichte, trat er zur Seite. Tobias schwankte. Die Schaufel in seinen Händen war schwer und sein Körper bog sich unter der Last einem Halm gleich, der dem Sturm trotzen muss. Seine Augen wurden groß und rund wie die eines Makakiäffchens und David konnte die Angst sehen, bevor Tobias über den Rand der Grube rutschte und in die Tiefe fiel, ohne einen Laut von sich zu geben.

David kniete sich in den Dreck und betastete den nassen, schweren Boden. Es hatt sicher mehrere Tage gebraucht, das Loch aus dem Lehmboden zu heben.

»Hilf mir raus, du armer Irrer!«, brüllte der Junge unter ihm und David sah, wie sich seine Finger in die nasse Erde krallten. Doch alles, was er damit erreichte, war das Abrutschen einiger dicker Matschbrocken.

»Kuckuck.« David winkte, dann spazierte er nach Hause.

Am nächsten Morgen kam Anne nicht zur Schule. David holte sie nachmittags von Zuhause ab und sie schlenderten zum Bootshaus. Das Loch war zu gut einem Drittel wieder zugeschaufelt worden.

»Tobias ist die ganze Nacht nicht nach Hause gekommen«, sagte Anne nachdenklich und sah ihren Freund an. »Heute Morgen ist er dann endlich aufgetaucht. Meine Mutter ist fast verrückt geworden. Sie hat ihn geschlagen und geküsst und wieder geschlagen.«

David nickte.

»Und weißt du, wie er ausgesehen hat?«

Wieder nickte er. Natürlich wusste er das.

Noch vor der Schule war er zur Grube gelaufen. Als die Lehrer, gerade vom Wecker aus dem Schlaf gerissen, aus den Betten torkelten, ihren ersten Kaffee tranken oder unter der Dusche standen, hatte Tobias mit vollgepinkelter Hose und verschmiert vom lehmigen Boden die Grube zugeschaufelt, während David ihn dabei beobachtete.

Hin und wieder hatte Annes Bruder sich zu ihm umgedreht und David konnte seine Angst spüren. Es war eine andere, als die vom Tag davor, eine die ihn, das wusste er, von nun an vor Tobias schützen würde.

»Du Irrer«, hatte er nur ein einziges Mal gemurmelt, um dann schnell und stumm weiter zu arbeiten.

»Hast du etwas damit zu tun?« Anne stupste ihren Freund an, doch der lächelte nur, legte den Kopf schief, deutete auf ihren Mund und fragte: »Kuckuck?«

Anne lachte und zeigte ihre Zahnlücke. Vorsichtig tastete David über ihren Oberkiefer.

Da waren sie endlich, die scharfen Spitzen ihrer neuen Zähne. David drehte den Kopf noch ein Stück und sah weiße Hügel aus dem rosigen Zahnfleisch sprießen.

Aw: Kuckuck

Hallo Sylvia,

das finde ich recht gut. Du bleibst konsequent bei den Geschehnissen im Äußeren, was der Geschichte gut tut. Jeder kann sich die inneren Regungen der Beteiligten selbst vorstellen: die besondere Liebe der Mutter, die narzisstische Kränkung des Vaters nach vier Töchtern einen solchen Sohn zu bekommen (auch die Behinderung wird ja nicht ausgesprochen und sondern klug relativiert!)und ihn lieber abschieben will. All dies wird im Spiegel der Geschehnisse dargestellt.

Dann dieser Tobias, der die Schwachen braucht und Glückliche beneidet, auch diesen Typus kennen wir.

Diese Szene an der Grube: geplatzte Äderchen?

Das Makakiäffchen würde ich vielleicht rauslassen. Wie gefiele Dir: Seine Stirn war nass von Schweiß und seinen Augen weiteten sich, schienen etwas hervorzutreten, als Tobias plötzlich mit über den Kopf erbobener Schaufel auf David lostürmte. In diesem Bruchteil einer Sekunde trat dieser nur zur Seite. …

Auch die Erkenntnisprozesse in der Grube bleiben unausgesprochen, werden aber in Handlung dargestellt. Das finde ich ganz prima. Tobis war verändert, aber ist es Angst? Sollte es Angst bleiben, die David vor Tobias schütz? Vielleicht könnte man das auch ungesagt lassen. Vielleicht: David konnte spüren, dass Tobias ein anderer war, als am Tage zuvor und dass er in Zukunft vor ihm geschützt sein würde.

Und dann die Rückkehr zur Zahnlücke - einfach wunderbar. :smiley:

Aw: Kuckuck

Hallo McVail,

ich danke dir für deinen Kommentar und werde gleich nachbessern, denn das, was du anmerkst, leuchtet mir ein.

Viele Grüße

Sylvia