Kinderphantasien - happy halloween

Kinderphantasien (geschrieben Dez1992-Jan 1993)

Es ging wieder los. Die entscheidende Weltraumschlacht um die Freiheit des Universums hatte erneut begonnen.
Mark Kramer, zehnjähriger Kampfpilot der Flotte der Konföderation, saß auf seinem Bett, einem mit dreifacher Superlichtgeschwindigkeit beschleunigtem Jagdbomber vom Typ ‚Viper 2000‘ und flog der letzten Begegnung mit dem Imperium entgegen.
Den ganzen Nachmittag hatte er mit seinen Freunden, Swortmaster und Laserman, alias Thomas Meister und Lars Schrader, um Ruhm und Ehre im Dienste ihrer intergallaktischen Majestät Morgana gestanden und für das Überleben der menschlichen Rasse gekämpft. Sie hätten es auch fast geschafft, wenn nicht plötzlich eine höhere Gewalt eingegriffen hätte - das Abendbrot. Notgedrungen mußten sie sich trennen und der Menschheit sich selbst überlassen. Jetzt, nach dem Abendessen und einer kurzen Unterbrechung durch ‚Raumschiff Enterprise‘ und ein paar Zeichentrickfilme konnte die Schlacht weitergehen.
Mark wollte gerade ein paar Protonentorpedos auf das Mutterschiff des Imperiums abfeuern, als seine Mutter das Zimmer betrat.

„Bist du fertig mit Zähneputzen und waschen? Es ist neun Uhr. Licht aus und schlafen!“
„Mutti … Lars darf auch immer bis halb zehn aufbleiben. Wieso ich nicht…?“
Die erwünschte Reaktion blieb aus. Wie immer lautete die Antwort:
„Du bist nicht Lars. Wenn du etwas älter bist, können wir darüber reden. Dein Vater kann dann entscheiden, ob du bis halb zehn aufbleiben darfst oder nicht.“
Seine Mutter gab ihm einen Kuss auf die Wange.
„Gute Nacht mein Schatz. Träum was Süßes.“
„Nacht, Mutti!“

Sie löschte das Licht und verließ das Zimmer, in dem noch vor einigen Augenblicken die größte Weltraumschlacht, die die Galaxis je gesehen hatte, im Gange gewesen war. Mark, Captain Phaser, der Mann, der beim Imperium so gefürchtet war, der Mann, dessen Kopfgeld auf über zwei Millionen Spacedollar angestiegen war, überkam die Angst, wie sie nur ein Zehnjähriger fühlen konnte.
Mark war in diesem Punkt wie jedes andere Kind auf dieser Welt. So viel Tapferkeit seine Phantasie ihm am Tage gab, in der Nacht, in der Dunkelheit wurde es bitterer Ernst. Sein Zimmer, vollgestellt mit Weltraumspielzeug, Legosteinen, Spielzeugautos, seinen Plastikpistolen und Schwertern, wurde des Nachts, wenn die Dunkelheit jeden Winkel des Zimmers ausfüllte und die Angst langsam an sein Bett gekrochen kam, zu einem Kabinett des Bösen.
Alles, was bei Licht so natürlich aussah, so gewöhnlich, enthüllte bei Nacht sei wahres Aussehen. Sein Schreibtisch, auf dem sich Bücher und Malstifte stapelten, wurde zu einem verschwommenen Götzentempel, meilenweit entfernt, allein schemenhaft sichtbar gemacht, durch das fahle Licht des Mondes, der hämisch durch das kleine Giebelfenster starrte. Sein Spielzeug, die Kuscheltiere, wurden zu kleinen gemeinen Kobolden, die alle nur darauf warteten, daß er den Fehler beging, das Bett, die sichere Festung, zu verlassen.
Vor eineinhalb Jahren, als Mark noch acht war, hatte er einmal mit seinem Vater darüber gesprochen. Der hatte ihm daraufhin gezeigt, daß es in dem Zimmer nichts gab, vor dem man sich fürchten müsse. Sie waren zusammen Schritt für Schritt das ganze Zimmer durchgegangen, hatten seinen Kleiderschrank durchstöbert und waren unter das Bett gekrochen. Mark hatte damals zugeben müssen, daß dort in der Tat nichts unheimliches oder geheimnissvolles war, doch später, als er wieder alleine in seinem Bett war, kam ihm der Gedanke, daß sein Vater etwas entscheidendes vergessen hatte.
Sie hatten das Zimmer bei Licht betrachtet! Außerdem waren sie zu zweit gewesen und sein Vater war ein Erwachsener; er konnte nicht ahnen, daß sich die Kobolde nicht blicken ließen und wie gut sich das böse Spielzeug verstellen konnte, denn es ahnte ja, daß sein Vater darauf reinfallen würde. Dennoch, das konnte er seinem Vater ja nicht erzählen. Er würde es nicht verstehen, denn er war ja ein Erwachsener! Außerdem war das alles ja schon sehr lange her. Damals war er ja noch klein und ein Kind.
Er konnte jetzt nicht zu seinen Eltern gehen und ihnen erzählen, daß er Angst vor der Dunkelheit habe, denn er war jetzt zehn und wenn er mit ihnen reden würde, würden sie lachen und ihn wieder wie ein Kind behandeln. Sein Vater würde ihm vielleicht noch einmal sein Zimmer bei Licht zeigen und es nicht einmal bemerken, wenn die Kobolde und das böse Spielzeug sich verstellten und anschließend über ihn lachten. Er würde ihm sagen, daß es ja gar keine Monster gäbe, außer im Kino oder im Fernsehen und natürlich müßte Mark ihm Recht geben, denn erklären könnte er seinem Vater die Wahrheit nicht. Mark fragte sich, ob es in der Kindheit seines Vaters nie Monster gegeben hat. Vielleicht konnte sein Vater die Wahrheit gar nicht wissen, weil er niemals Kobolde gesehen hat! Vielleicht suchten sich die Monster nur bestimmte Personen aus. Aber warum gerade ihn? Er wußte es nicht.

Mark zog sich die Decke bis zum Kinn hoch und achtete besonders sorgfältig darauf, daß seine Beine unter der Decke waren. Bloß ganz sicher sein, daß das Monster unter seinem Bett nicht plötzlich nach seinem Bein greift und ihn herunter zieht!
Bitte lieber Gott, mach, daß sie mir nichts tun! Hilf mir und jag’ sie weg!
Nur diese Nacht noch…
Er kniff ganz fest seine Augen zusammen und merkte, wie sich sein Magen verkrampfte. Er lag ganz still in der Dunkelheit und wagte nicht, sich zu bewegen. Er spürte, wie etwas in seinem Zimmer vorging. Langsam erwachten die Monster und fingen an, sich zu räkeln und auf eine neue Nacht vorzubereiten. Das Monster im Schrank begann zu schlürfen und würde bestimmt bald den Schrank verlassen.
Die Kreatur unter dem Bett wetzte jetzt ganz bestimmt schon die Krallen, um beim ersten Augenblick, wenn er nicht mehr ganz seine Beine mit der Decke bedeckte, seinen Knöchel zu ergreifen und nicht mehr loszulassen. Und dann…

Hör auf, schoß es Mark durch den Kopf. Es gibt keine Monster. Nur Kinder glauben an Monster. Du nicht! Es gibt auf der ganzen Welt keine Monster!
Außer den paar, die in deinem Zimmer sind, meldete sich die Stimme in seinem Kopf.
‚Hör auf. Bloß nicht weiter darüber nachdenken. Mach dich nicht verrückt.‘
Mark versuchte sich zu beruhigen. ‚Es ist nichts ungewöhnliches in deinem Zimmer‘, versuchte er sich einzureden. ‚Hier ist nichts, vor dem man sich fürchten müßte!‘
Außer den Monstern, Mark. Vergiß bloß die Monster nicht, Mark. Vertraue mir, denn ich weiß, wovon ich rede.
Mark wußte, daß die Angst, die mit ihm redete sogar ganz genau wußte, wovon sie sprach. Dennoch versuchte er sie aus seinem Kopf zu verdrängen. Zwecklos.
Mark, whisperte die Angst, warum stehst du nicht auf und machst dir das Licht an?
Bei Licht sieht doch alles so viel vertrauter aus…

Nein, alles bloß das nicht. Der Lichtschalter war direkt neben der Tür, doch die befand sich ca. dreieinhalb Meter schräg links von seinem Bett entfernt. Es hätten ebensogut drei Meilen sein können, denn um die Tür oder den rettenden Lichtschalter zu erreichen, müßte Mark zunächst das Bett verlassen, an dem aufgestellten Berg mit dem bösen Spielzeug vorbei und dann noch, was ihm am meisten Angst machte, am Kleiderschrank vorbei.
Komm schon, Mark. Es sind nur fünf Meter. Für einen flinken Kerl wie dich doch kein Problem. Fünf Meter. Für jemanden, der dem Imperium das Fürchten lehrte…
Komm schon … wir könnten Wetten abschließen, wie weit du kommst…
Nein! Auf gar keinen Fall würde er das Bett verlassen. Um keinen Preis der Welt!

Einige Minuten vergingen, in denen er es nicht wagte, sich zu bewegen. Krampfhaft hielt er sich an seiner Star Wars Bettwäsche fest, so, als sei sie ein sicherer Schild gegen die Angst und ihre Begleiter.
Unendlich weit entfernt hörte er die Geräusche der Großstadt. Obwohl es nur knappe zwei Meilen entfernt war, erschien es ihm, als seien es Töne eines stöhnenden Untiers aus einer fremden Dimension. Mark schaute sich um. Es mußte doch eine Möglichkeit geben das Bett zu verlassen und den Lichtschalter lebend zu erreichen.
Zunächst war da die Kreatur unter dem Bett. Obwohl er sie noch nie gesehen hatte, wußte er, wie Millionen anderer Kinder auch, daß sie groß und schuppig war. Und natürlich hatte sie diese großen Klauen, mit den langen Krallen, die nur dem einen Zweck dienten: Kinder aus ihren Betten zu ziehen, um sie dann langsam zu verspeisen…
Selbst, wenn er es schaffen könnte, an der Kreatur vorbeizukommen - da waren immernoch das böse Spielzeug und das Monster im Schrank. Mark wußte genau, daß, falls er der Kreatur entkommen könnte, die anderen beiden Diener der Angst ein unüberwindbares Hindernis darstellten.
Genau, Mark, meldete sich wie auf Befehl die Angst in seinem Kopf, kannst du dir vorstellen, was mit dir passieren würde. Das Spielzeug könnte dich festhalten, bis du schreist vor Entsetzen. Und dann käme auch langsam das Schrankmonster, um dich mit seinen glitschigen Armen willkommen zu heißen. Es wird dich mit in den Schrank nehmen, doch der ist ja nur sein Tor in eine andere Welt . . . erst dort wirst du dann genüßlich von ihm und seinen Freunden verspeist.
Vielleicht schaffst du es aber doch an ihnen allen vorbeizukommen und den Lichtschalter zu erreichen. Gib zu, es ist eine fäire Chance . . .

Geht weg !!!
Mark fürchtete sich, wie noch nie in seinem jungen Leben und war sich sicher, daß er diese Nacht nicht überleben würde. Sicher, er hatte schon früher Angst vor den unheimlichen Gespielen der Nacht gehabt, doch so schlimm war es noch nie gewesen. Doch das Allerschlimmste war, daß er wußte, daß die Angst und ihre Diener immer mächtiger wurden, je mehr er sich fürchtete. Doch er konnte nichts dagegen tun! Man kann doch nicht einfach aufhören sich zu fürchten!
Mark warf einen Blick auf seinen Donald Duck Wecker. Elf Uhr dreißig! Seit zweieinhalb Stunden lag er also schon wach und zitterte in der Dunkelheit. Ihm kam es vor, als seien es schon zweieinhalb Jahre, und trotz seiner Angst, überkam ihn langsam die Müdigkeit.
Schlaf nicht ein, sagte er zu sich. Wenn du schläftst, bist du wehrlos.
Aber bist du das nicht auch, wenn du wach bist ? Na los, gib es zu . . .

Natürlich, die Angst hatte Recht!
Aber du bist sicher im Bett, sagte er zu sich. Das erschien ihm einleuchtend. Monster können keine Jungen aus ihren Betten holen! Pass bloß auf, daß deine Beine unter der Decke sind, dann kann dir nichts passieren.
Jedes Kind weiß, daß Monster zwar unter Betten seien können, aber niemals Betten berühren können. Ich bin sicher, solange ich im Bett bin.
Aber wärst du nicht noch viel sicherer, wenn du das Licht anhättest? Es sind doch nur fünf Meter. Komm schon. Komm schon.
Nein, schoß es ihm triumphierend durch den Kopf. Ich bin sicher. Sicher, solange ich im Bett bin. Ihr könnt mir nichts tun! Und daran kannst auch du nichts ändern.
Trotz seiner großen Angst fühlte er, daß sein Bett eine Festung gegen das Böse war. Nichts Böses könnte ihm hier widerfahren, solange er in seinem Schutzwall aus Leinen und Federn lag. Und morgen früh, beim ersten Sonnenstrahl, der durch das Fenster tritt, müßten alle bösen Mächte sowieso verschwinden. Dann würde er sich schon etwas einfallen lassen, was die Monster vertrieb!

Er vergrub seinen ganzen Körper sorgfältig in seinem Bettdecke und paßte dabei genauestens auf, daß er bis zur Spitze seines Kinns zugedeckt war. Die Müdigkeit übermannte ihn und kurz bevor er in seinen unruhigen Schlaf fiel, hörte er noch an der Schwelle zu Traumwelt, wie die bösen Wesen in seinem Zimmer wütend umherschlichen, wissend, daß sie niemals die schützende Grenze an seinem Bett durchbrechen könnten.
Dann gab er sich endgültig der Müdigkeit hin und versank in der Dimension des Schlafes.

Mark erwachte.
Er schaute sich um, in der Hoffnung, die erste Orientierungslosigkeit, die einen direkt nach dem Erwachen befällt, loszuwerden. Die Dunkelheit, die das Zimmer beherrschte, wurde nur von dem fahlen Licht einer Straßenlaterne vor dem Haus geschwächt. Der Mond mußte sich hinter einer Wolke verkrochen haben, denn die spärliche Beleuchtung erlaubte es Mark gerade so, die Umrisse seines Zimmers zu erkennen.
Draußen war es still geworden. Das Rauschen des Verkehrs, das vor einigen Stunden noch zu hören war, hatte aufgehört und wurde nun durch das leise Säuseln des Windes ersetzt, der in den Baumkronen spielte und Blätter jagte. Mark warf einen Blick auf die Uhr. Die Anzeige, die von einem grinsenden Donald gehalten wurde zeigte drei Uhr neunundvierzig an.
Es war Mark unheimlich, wieder allein in dieser Dunkelheit zu liegen, nur umgeben von der nächtlichen Stille, die sein Gefühl des Alleinseins nur noch bestärkte. Andererseits war Mark froh, die Traumwelt hinter sich gelassen zu haben, denn er hatte nichts Gutes geträumt. In seinen Träumen verfolgten ihn unzählige Monster, die ihn fangen wollten und er flüchtete vor ihnen in einer düsteren Welt, voller Gänge und geheimer Türen, hinter denen sich furchtbare Kreaturen versteckten. Er war ihnen um Haaresbreite entkommen, und gerade, als sie ihn in eine Sackgasse gejagt hatten und sich ihm Meter um Meter näherten, in einer Situation, in der es praktisch kein Entkommen mehr für ihn gegeben hätte, war er aufgewacht.

Mark spürte den dünnen Schweißfilm auf seiner Haut, der ihm ein unangenehmes, klebriges Gefühl vermittelte. Weitaus unangenehmer jedoch war das Gefühl, das ihm der Druck auf seiner Blase vermittelte.
Nein, dachte er sich. Nicht jetzt!
Der Druck in seinem Unterleib überzeugte ihn jedoch ziemlich schnell davon, daß es genau jetzt hieß. Der Gedanke, jetzt das Bett verlassen zu müssen, um auf die Toilette zu gehen, erzeugte Panik bei ihm. Hatte er in seinen Träumen schon Angst gehabt, so fehlten ihm die Worte, um den jetzigen Zustand zu beschreiben.
Mark richtete sich auf und sah sich um. Es waren gute dreieinhalb Meter bis zur Tür, die es früher oder später zu überwinden hieß.

Hallo Mark, meldete sich die Angst zu Wort, wieder wach?
Nicht echt, zwang Mark sich zu denken. All das hier ist nicht echt. Ebensowenig, wie die Dinger im Fernsehen. Jabba the Hut, Chewbacca, Superman, Tom & Jerry … all das ist nicht echt! Du machst dir was vor! Es gibt keine Monster in deinem Zimmer!
Ach nein, meldete sich die Angst. Wieso versuchst du unsere Existenz zu verleugnen?
Du bist noch zu jung, um erwachsen zu werden. Nur Erwachsene können uns verleugnen - aber doch kein dummes Kind. Du bist jung Mark.

Der Druck auf seiner Blase wurde fast unerträglich, doch verglichen mit dem Gewitter, das nun in seinem Kopf tobte, verlor das Bedürfnis, eine Toilette aufzusuchen, an Bedeutung. Monster, schoß es ihm immer wieder durch den Kopf. Ich habe Monster in meinem Zimmer. Eltern lügen, wenn sie ihren Kindern erklären, es gäbe keine Monster! Oh Gott, mach, daß sie weggehen!
Weißst du, warum wir nur zu Kindern kommen? Kinderfleisch ist noch zart und appetitlich. Nicht von der realen Welt verseucht, es ist noch rein von Hormonen, die den Geschmack verderben. Und weißt du, was das beste an Kindern ist? Man glaubt euch nicht, wenn ihr euren Eltern, jenen erwachsenen Schwachköpfen erzählt, ihr hättet ein Monster in eurem Wandschrank oder unter dem Bett gesehen. Ihr seid doch nur Kinder, für deren alberne Phantasien kein Platz in der sogenannten wahren Welt ist. Weißt du was Mark? Ich l i e b e Kinder…

Marks Eingeweide krampften sich zusammen. Er ahnte, daß, wenn er jetzt nicht das Bett verließ, ein mehr weltliches Unglück geschehen würde, das seine Eltern zu dem Glauben verleiten würde, daß er doch nicht ein so großer Junge war, wie sie bisher dachten. Er haßte den Gedanken, wieder wie ein kleiner Junge behandelt zu werden. Er wollte es nicht, daß seine Mutter diesen besonderen ‚wann wirst du endlich erwachsen‘- Blick aufwarf und ihn mit dieser monoton liebevollen Stimme fragte, wie denn so etwas passieren konnte und, ob er es denn nicht gemerkt hätte.
Er könnte ihr ja doch nicht erklären, was in dieser Nacht in seinem Zimmer vorging, denn Erwachsene begreifen ja doch nicht, das sie manchmal von Dingen nichts wissen, die eben nur Kinder sehen können. Er mußte die Toilette erreichen.
Mark warf einen Blick auf die Strecke, die er zu bewältigen hatte.
Zunächst müßte er das Bett verlassen und sich in die Gefahrenzone begeben.
Er müßte schnell sein, um den langen, scharfen Klauen der Kreatur unter dem Bett zu entgehen. Selbst wenn er das schaffen könnte, müßte er an seinem Spielzeugregal vorbei, ohne, daß ihn das böse Spielzeug erwischt. Und falls er überhaupt so weit kam, war da noch das Hindernis, vor dem er sich am meisten fürchtete.
Der Schrank.
Noch schien er geschlossen zu sein, so genau konnte er es nicht erkennen, denn die Lichtverhältnisse machten es gerade so möglich, die Umrisse zu erkennen. Dennoch war sich Mark sicher, daß seine Mutter den Schrank geschlossen hatte, nachdem sie ihm einen frischen Schlafanzug geholt hatte.
Mark wußte, daß das Schrankmonster bereits darauf wartete, daß er den Wettlauf, der das Ende seines Lebens und die Mahlzeit eines Monsters bedeuten konnte, wagte und vielleicht eine Sekunde zu langsam war.
Falls er überhaupt so weit kam…
Dennoch, falls er es bis dahin schaffte, war es vielleicht nicht mehr als ein halber Meter bis zum Lichtschalter. Er könnte ihn fast mit ausgestrecktem Arm erreichen.
Mark verkrampfte. Er hatte schon oft Angst in der Dunkelheit gehabt, doch so schlimm wie in dieser Nacht, war es noch nie gewesen. Die Dunkelheit schien wie ein Schleier zu sein, der alles Licht, was durch das Giebelfenster drang, filterte und aufsaugte. Der Wind war stärker geworden und jagte jetzt mit einem heulenden Ton durch die Baumkronen, mit denen er seit Beginn dieser unheilvollen Nacht spielte.

Mark machte sich bereit.
Du mußt es schaffen, sagte er sich. All das hier ist nur deine Phantasie. Morgen früh wirst du denken, wie dumm du doch warst, und wie albern es ist in der Dunkelheit Angst zu haben. Und dann wirst du dir eine Taschenlampe besorgen und die direkt neben deinen Donald Duck Wecker auf den Nachttisch stellen. Obwohl es dazu eigentlich keinen Grund gibt, denn das hier ist alles nur deine Phantasie! Nur Phantasie.

Ich l i e b e Kinderphantasien, meldete sich die Angst. Sie verfeinern den Geschmack deines zarten jungen Fleisches…
Der Druck in seiner Magengegend, machte ihm klar, daß er nicht er sehr lange warten konnte und, daß sich sein junges zartes Fleisch lieber jetzt in Bewegung setzte, wenn er es nicht in Kauf nehmen wollte, auf dem Sofa im Wohnzimmer schlafen zu müssen. Mark kniete sich auf sein Bett und versuchte dabei, seine Schließmuskeln nicht zu sehr zu verkrampfen. Er müßte schnell sein. Schneller, als beim Schulsport oder beim Spiel mit seinen Freunden.
Er befreite sich von der Decke und drückte sie ans Bettende. Seine Augen starrten in die Dunkelheit, konnten jedoch nichts besonderes erkennen.
Es i s t nichts dort, rief er sich ins Bewußtsein. Nur all die Dinge, die auch da sind, wenn du das Licht an hast. Absolut nichts zum fürchten oder Angst haben. Und schon gar nichts gefährliches. Diesmal war keine Angst da, die ihm widersprach. Es war, als wäre sie verschwunden, fast so, als sei sie nie dagewesen.
Vorsichtshalber starrte er noch einige Momente in die Dunkelheit, um sich zu vergewissern, daß sich dort tatsächlich nichts bewegte oder versteckte. Alles schien wie immer zu sein, mit dem Unterschied, daß es dunkel war. Allmählich fing Mark an, daran zu glauben, daß dort tatsächlich nichts war.
Dennoch ist es vielleicht besser, sich zu beeilen. Auch wenn nichts dort ist, schaden kann es nicht, es schnell hinter sich zu bringen. Nur für den Fall, daß… nein, aber trotzdem, schnell sein werde ich - unglaublich schnell. Auch wenn es nicht nötig ist. Und es ist ganz sicher nicht nötig.
All das dachte er sich, während er sich bereit machte, das Bett zu verlassen. Mark erhob sich von den Knien und brachte sich in eine hockende Position. Dann sprang er vom Bett.

Er landete ungefähr eineinhalb Meter von seinem Bett entfernt. Mark war für eine Sekunde überrascht, wie sicher er auf seinen Füßen landete, da ihm noch vor wenigen Augenblicken die Knie weich gewesen waren. Dann bemerkte er die wischende Bewegung der Klaue, die nur um wenige Millimeter seinen Fußknöchel verfehlte.
Obwohl seine Augen weit aufgerissen waren vor Schreck, konnte er in der Dunkelheit nur schemenhaft dem langen muskelösen Arm sehen, der unter dem Bett hervorragte. Der Arm war lang und voller Schuppen, die das wenige Licht des Raumes reflektierten und silbern glitzerten. Die Klaue, das eigentliche Greifinstrument war überproportional groß und alle Vorstellungen, die Mark sich je über diese Kreatur gemacht hatte wurden bei weitem übertroffen, als er die langen dornartigen Krallen sah, die für einen Moment aufzublitzen schienen.
Wir sind wieder da, meldete sich kurz die Stimme der Angst in seinem Kopf. Showtime. . .
Mark sah gerade noch, wie eine zweite Klaue unter dem Bett erschien und er wußte sofort, daß die Kreatur die Absicht hatte, ihren Platz unter dem Bett zu verlassen.

Seine Augen richteten sich in Richtung Lichtschalter, der das rettende Ufer für ihn, der nun in seiner Angst ertrank, bedeutete. Dreieinhalb Meter, die es zu überwinden galt, um dem sicheren Tod zu endgehen. In vier oder fünf Schritten könnte er dort sein… wenn nur die Monster nicht dort wären. Hinter sich konnte Mark nun das wütende Schnaufen der Bestie hören, die nun fast ihren Platz unter dem Bett verlassen hatte.
Mark hatte gerade zwei Schritte in Richtung Lichtschalter vollbracht (eigentlich war es mehr ein vorwärtsstolpern), als das böse Spielzeug nach ihm zu greifen begann.
Sein Teddy, den er von seiner Tante Betty geschenkt bekommen hatte und den er noch nie gemocht hatte, starrte ihn mit stechenden, eiskalten Plastikaugen an. Dann fiel er vornüber von dem Regal herunter und klammerte sich an Marks Bein fest. Ein großer roter Plüschfisch folgte seinem Beispiel und fiel zwischen Marks Beine. Bären, Frösche, die Figuren aus der Sesamstraße und Stoffmäuse stürzten sich auf ihm und Mark konnte sich nicht länger auf den Beinen halten. Er stürzte.

Noch im Fall konnte er sehen, wie sich die Schranktür, nur einen Meter von ihm entfernt, einen Spalt öffnete und zwei kalt leuchtende Augen ihm entgegenfunkelten. Mark fiel auf den Boden und fühlte einen stechenden Schmerz, der jedoch nicht von dem Sturz herrührte, sondern von seinem heißgeliebten Krümelmonster, das ihn mit einer Unzahl kleiner scharfer Zähne in die Schulter biß. Er wollte schreien, kein Laut jedoch verließ seinen aufgerissenen Mund, da ihm eine plüschig weiche Stoffmaus seine Mundhöhle verschloß, indem sie hineinkroch. Er war umgeben von den verzerrten Fratzen seiner Kuscheltiere die um ihn herum wüteten. Ein wie von Zauberhand bewegtes Feuerwehrauto, das er einmal zu Weihnachten bekommen hatte, fuhr ihm gegen den Knöchel. Big Bird biß ihm in die Wade und die Stoffmaus in seinem Mund zappelte hektisch, als ob sie noch weiter in ihn hineinkriechen wollte.
Mark versuchte in wilder Panik, das böse Spielzeug abzuschütteln, teilweise gelang es ihm auch. Mit hektischen Bewegungen und Zuckungen, schleuderte er Big Bird und das Krümelmonster gegen den Nachttisch.
Er versuchte, sich aufzurichten, was ihm auch halbwegs gelang, bis ihm ein großer rosa Flamingo ansprang und wieder zu Boden riß.
Sterben, dachte er sich. Du wirst jetzt sterben. Oh Gott, hilf mir. B i t t e !

Er versuchte, sich die letzten zwei Meter bis zur Tür hinzuziehen, jedoch sein schwacher zehnjähriger Körper wurde immer wieder zu Boden gedrückt. Die Monster schienen überall gleichzeitig zu sein.
Die Schranktür öffnete sich mit einem quietschenden Geräusch und Mark sah direkt neben sich das Schrankmonster. Die gelben Augen, die er vorhin sah, hatten sich verändert zu grünlichen, gierig blitzenden Augen. Ansonsten sah es direkt so aus, wie er es sich unzählige Male vorher in seiner Phantasie ausgemalt hatte.
Es hatte eine dunkle braune Farbe, seine Haut schimmerte feucht und glitschig und als es das Maul öffnete, verbarg sich dahinter eine Reihe kleiner, spitzer Zähne. Sie waren nicht außergewöhnlich groß, aber es waren sehr viele. Flüssigkeit tropfte aus dem Maul und fiel zu Boden, als es sich mit schlürfenden Schritten auf Mark zu bewegte.
Mark merkte, wie sich seine Schließmuskel kontrahierten und wieder entspannten. Er machte sich in die Hosen.
Der Schmerz, den er zuvor überall gespürt hatte, war einem tauben Gefühl gewichen, das nun seinen gesamten Körper umfaßte. Als sich das Schrankmonster über ihn beugte, steigerte sich seine Panik noch mehr, obwohl er das nicht für möglich gehalten hätte. Seine Eingeweide verkrampften sich und er merkte, wie seine Hoden sich zusammenzogen und versuchten, sich dorthin zurückzuziehen, woher sie einst gekommen waren.
Als das Schrankmonster ihn ergriff, durchflutete eine letzte Schockwelle seinen Körper und er konnte noch hören, daß die Kreatur unter dem Bett, zufrieden schnaufte, wissend, daß die Beute nicht mehr entkommen könne. Vor seinen Augen wurde es schwarz, und das letzte, was Mark in seinem jungen Leben hörte, war die höhnische Stimme der Angst, die ein allerletztes Mal ihr Wort an ihn richtete.
Showtime, sagte die Angst immer wieder. Showtime und -
Ich liebe Kinderphantasien …

Als Marks Mutter am nächsten Morgen um acht Uhr sein Zimmer betrat, sah sie nur, wie ihr Junge auf dem Boden lag, dreckig von seinen eigenen Exkrementen, regungslos auf dem Bauch liegend. Der Notarzt, den sie sofort alarmierte, konnte jedoch auch nichts weiter tun, als den Tod durch Herzstillstand festzustellen. Den panischen Blick, der in Marks regungslosen Augen festgefrohren war, bemerkten sie nicht. Das Spielzeug saß wieder in dem großen Holzregal. Die winzigen Blutspritzer an Big Birds Schnabel fielen kaum auf.
Was Marks Mutter in der Aufregung trotzdem auffiel, war der Wandschrank.
Er stand einen winzigen Spalt offen…

Anmerkung: Dies ist eine ältere Geschichte von mir (1992). Ich fand es ganz lustig, dass ich neulich Motive davon in einer neueren Horror-Verfilmung gesehen habe. Wie gesagt - hab ich vor 30 Jahren geschrieben. Sie ist stilistisch sicherlich naiv und nicht perfekt - aber sie macht mir heute noch Spaß. Ich hoffe Ihr hattet auch etwas Spaß damit… m.

2 „Gefällt mir“

Ich mag die Geschichte. :slightly_smiling_face: Vor allem die Lebenswelt und Psyche, mit ihren Phantasien und Ängsten eines 10jährigen finde ich gut getroffen.
Für welche Altersgruppe war die Geschichte gedacht?

1 „Gefällt mir“

Vielen Dank für die nette Bewertung der Story. Zielgruppe sind erwachsene Leser, so 16+ Jahre. Für jüngere finde ich das Thema zu heftig. Geschichten für Kinder haben bei mir immer Happy End und da würde ich eher Grusel, anstatt Horror entwickeln.
Danke & liebe Grüße,
M.

Ich habe ebenfalls Storys für Kids (ca 8-12) geschrieben. Deshalb fiel mir dein Post sofort auf. Leider wird die K-J Literatur oft eher belächelt. - Tja, so schnell vergisst man eben.

Sehe ich auch so, dass Horror nichts für Jüngere ist, und sie einfach nur überfordern und ängstigen würde. Grusel nutze ich mit einem Augenzwinkern, um die Sache positiv aufzulösen.
Allerdings gebe ich schon ganz gern dem Leser die Chance, durch eine Achterbahn der Gefühle zu rauschen. Mein Credo: Wenn der Leser mitschreit, mitwütet, mitlacht, mitweint …, die Story am liebsten in die Ecke schmeißen würde - und trotzdem weiterliest, ist es genau das, was ich ihm geben will.
LG Storyteller

1 „Gefällt mir“