Hallo zusammen. Ich weiß, Weihnachten ist vorbei. Dennoch möchte ich euch diese Geschichte zeigen, die bei meiner Autoren-Gruppe für Diskussionen gesorgt hatte. Vor allem war die Frage: Kann man so was an einer Weihnachtslesung bringen? Der Tenor damals war eher: Nein.
Was denkt ihr?
Freue mich über euer Feedback.
Noch ein Hinweis: Die Geschichte ist nicht selbst erlebt.
Titel: (K)eine Weihnachtsgeschichte
„Hi Ute, na - wie geht‘s wie steht‘s?“
Meine Freundin wartet nicht mal mein „Oh Hallo“ ab, sie sprudelt gleich weiter.
„Also diese Adventszeit, rast ja wieder nur so dahin. Keine Zeit für nix hat man, und dabei soll es doch so besinnlich sein - schon Wahnsinn, immer das Gleiche…“
Ich höre nur ungefähr jedes dritte Wort mit. Querhören; nicht unbedingt nett aber, leider häufig nötig. Vor allem wenn man, Iris am Ohr, auf einer wackeligen Klappleiter steht und mit der nicht enden wollenden Lichterkette am Weihnachtsbaum kämpft.
„Was machst du gerade?“
„Hm, was?“
„Du klingst…, abgelenkt.“
Mist - sie ist auf Zack. „Ach, ich mache bloß ein bisschen Deko, dann noch die Fenster putzen, und…“
„Jaja, das dachte ich mir schon. Du bist im „Alles muss schön sein“ Stress. Schluss damit, du gehst jetzt mit mir auf den Weihnachtsmarkt. Ich gebe dir eine Stunde, um dich fein zu machen, dann hole ich dich ab - keine Widerrede.“
Ich muss zugeben, die Idee mich aus den weihnachtlichen Vorbereitungen zu reißen war gut. Der Trubel, die vielen lockeren, kauflustigen Leute und der Duftmix gebrannte-Mandeln-Glühwein-Bratwurst lullen mich schnell ein. Iris zieht mich von Stand zu Stand. Nach dem ersten Punsch wird unsere Diskussion, ob weiße Porzellanengel mit Kulleraugen nun Kult oder Kitsch sind immer lustiger.
„Was essen wäre nicht schlecht, glaube ich, sonst haut‘s uns bald vom Stängel“, kommentiert Iris unsere Heiterkeitsausbrüche und schielt vielsagend in ihr fast leeres Glas. Eine Riesen-Nürnberger vom Grill und Zimtwaffel mit Sahne puffern den Alkohol und geben neue Kraft für die nächsten Verkaufsbuden.
„Dort hinten sind die UNICEF‘ler; da will ich noch Weihnachtskarten besorgen. Die haben einfach die Schönsten.“
„Klar“, meint Iris grinsend, „und es beruhigt so toll das Gewissen, vor allem an Weihnachten.“
Ich weiß, sie meint es nicht so, ich kenne sie ja, also schüttele ich nur kurz den Kopf, hake sie unter und entgegne honigsüß:“ Na dann pack mal den großen Geldbeutel aus Schwester; für deinen ruhigen Schlaf braucht‘s sicher ein paar Karten mehr.“
Der Stand ist etwas abseits vom großen Rummel, nahe einer Seitengasse, die im Gegensatz zur verschwenderisch hellen Festbeleuchtung des Marktes düster; beinahe unheimlich wirkt.
An einer schwach gelb scheinenden Straßenlampe lehnt eine dunkler Kleiderhaufen.
Während Iris die weihnachtlichen Grüße einzeln oder im Großpack sondiert, huscht mein Blick immer wieder rüber zu dem Bündel. Ich kann sehen, dass es atmet, ein leichtes Husten.
„Da sitzt jemand“, flüstere ich meiner Freundin ins Ohr - keine Ahnung warum ich so wispere.
„Hm - wo?“
„Na da - da drüben.“
„Ach so, den meinst du. Hab ich gesehen. Der hofft bestimmt hier an der mildtätigen Ecke gibt‘s ein bisschen mehr. Was meinst du, Tannenbäumchen oder Engel? Ich finde der Engel hat was,… äh wo willst du denn hin?“
Wieso stehe ich plötzlich vor ihm? Warum starre ich ihn an? Das ist so taktlos, aber ich kann nicht anders. Er scheint es nicht zu bemerken, sein Kopf ist ihm auf die Brust gesunken, er schläft - vielleicht. Die grauen, wirren Haare starren vor Dreck, so wie sein löchriger Parka, der wohl mal grün war. Jetzt hat er die Farbe der Straße - schwärzlich - speckig.
„Was soll denn das? Du hast den Leutchen gerade das Geschäft des Tages vermasselt.“ Iris ist da, sie mustert mich irritiert. Den Mann zu unseren Füßen beachtet sie nicht.
Der dünne Fetzten Pappe, auf dem er kauert, ist vom Schneematsch ganz aufgeweicht.
Ein abgerissenes Stück der Unterlage klemmt halb unter seinem Schuh.
BITTE - DANKE - steht da, in erstaunlich schönen, klaren Buchstaben. In dem Plastikbecher daneben liegen ein paar Cent Münzen.
„…, Gott - jetzt glotz ihn doch nicht so an, ist ja peinlich.“ Iris murmelt irgendwas Genervtes in ihre Handtasche. Sie fischt einen Euro aus dem Portmonee und lässt ihn mit spitzen Fingern in den Becher plumpsen.
Der Mann schaut hoch. Ich sehe sein Gesicht, den struppigen Bart. Seine Augen - sie sind blau. Tief in den Höhlen liegen sie, mit dunklen Ringen darunter - die Lieder verquollen.
Aber das Blau. Es fixiert mich, und ich weiß es sofort: Diese Augen würde ich immer erkennen.
Sie waren damals das Erste, was meine Aufmerksamkeit erregt hatte. Ihr ruhiger, dunkler Ausdruck, der mich runter und gleichzeitig aus der Fassung bringen konnte. Zehnte Klasse, ich mochte immer noch keine Jungs, war ungeküsst.
Dann kam er, lächelte und stellte meine abgeklärte Teenager-Welt auf den Kopf. Ausgerechnet mit mir, der Streberin, ist er rumgezogen. Wir quatschten uns um die Welt, kein Thema war zu heiß.
Das Sommerfest zum Schuljahresende. Sie spielten Queen (I was born to love you). Alle hotteten ab. Plötzlich hatte ich seine Lippen auf meinen, und die Welt war mir scheißegal.
Der erste Kuss - dieser Ausdruck in seinen Augen - als wäre ALLES für IMMER.
Für immer…, hielt bis zu den Ferien. Danach kam er nicht wieder in die Schule. Unbekannt verzogen - hieß es.
Ich war am Boden; aber auf ihn wütend sein - das konnte ich nicht. Er war eben ein Paradiesvogel, keine Chance ihn alleine für mich zu haben.
In meiner Erinnerung segelte er irgendwo im Stillen Ozean oder ging bei einem uralten, indischen Guru in die Lehre.
Nein, das kann nicht sein, das ist er nicht, darf er nicht sein; appelliert die Hoffnung verzweifelt in mir.
„Ich kenne sie - oder?“ Meine Stimme klingt schrill, das Herz schlägt gegen die Stimmbänder.
Der Mann sagt nichts. Aber sein Blick hält mich unnachgiebig fest. „Andi?“, krächze ich heraus; mache einen Schritt zu ihm, will in die Hocke gehen - jetzt kommt Bewegung in meine Freundin.
„Halt - halt - was machst du?“ Energisch zieht sie mich hoch. „Scheint so, als wäre dir der Glühwein nicht bekommen. Los jetzt; er hat seinen Euro.“
Da ich nicht reagiere, hakt sich Iris entschlossen bei mir ein und zerrt mich weiter. Ich lasse es zu. Kein Blick zurück, das wage ich nicht. Aber ich spüre, dass er mir nachschaut, meine Schritte stocken. Der Griff am Arm verstärkt sich - dann sind wir um die Ecke.
Zielsicher lenkt Iris uns in ein Café etwas abseits des Weihnachtsmarktes.
Sie bestellt Milchkaffee und Käsekuchen für sich und das Häufchen Elend ihr gegenüber.
Das ist sehr süß von ihr - Käsekuchen hab ich am Liebsten. Nur nicht heute. Mir ist so übel, dass schon das Kratzen der Gabel auf Iris Teller die Galle meinen Hals hochsteigen lässt.
„Hör zu - das war nicht Andi. Ganz bestimmt nicht. Ich kann mich noch gut an den smarten Typ erinnern, und dieses Wrack da draußen,…“
„Bitte - bitte sprich nicht so von ihm.“ Es klingt matt und meine Freundin schwenkt sofort um.
„Schon gut, ich weiß, du kanntest ihn natürlich viel besser…,“ Sie redet und redet, diesmal höre ich nicht quer. Es rauscht an mir vorbei.
Als ich endlich von der Tasse zu ihr aufblicke stockt sie, ihr Gesicht verzeiht sich ungläubig.
„Nein, nein! Das wirst du nicht tun - du gehst nicht…“
Ein letzter Versuch: „…, gib ihm bloß nicht dein ganzes Geld, der wird es doch nur versaufen…, er ist es eh nicht!“, ruft sie mir nach.
Das ganze Café dreht sich um, außer mir.
Ich renne mitten durch den Weihnachtsmarkt, drängle mich rücksichtslos durch die heiteren Massen. Am liebsten würde ich denen ins Gesicht schreien: „Wie könnt ihr so ekelhaft fröhlich sein, während meine erste Liebe hier neben euch verreckt!“
Was soll zu ihm sagen…, wenn er es ist - wenn nicht?
Die Gedanken rasen, fügen Bilder im Kopf zusammen. Andi - wie er mich anlacht, sein frecher Blick. Andi - vor meinen Füßen, die müden Augen, filziges Haar - und…, er hat gestunken.
Ich bin da, an der Laterne. Er nicht. Niemand ist dort. Hektisch suche ich die Umgebung ab. Nichts. Am UNICEF-Stand gibt es nur ein besorgtes „Tut mit leid“ für mich.
Ein paar Ecken weiter sitzen einige Obdachlose über den Abluftschächten von C&A.
„Andi? Nö - gibt‘s hier nicht. Wie sieht er denn aus?“
Verzweifelt versuche ich ihnen eine Beschreibung zu geben, die nicht automatisch ihr eigenes Spiegelbild zeichnet.
Aber sie kennen ihn nicht. Ich frage noch andere - und noch mehr - mein Gott, wie viele es gibt.
Nach fast zwei Stunden bin ich am Ende meiner Kraft. Im Schneeregen wanke ich nachhause, der Mantel durchnässt, der Geldbeutel leer. War das Mindeste was ich tun konnte. Was sind schon fünfzig Euro? Es hat ja nicht mal für alle gereicht.
ER war nicht dabei, keine Hilfe für Andi - ich habe versagt.
Das heiße Badewasser taut meine Knochen auf und die Tränenkanäle gleich mit. Endlich kann ich es raus heulen, dieses Elend, das ich scheinbar noch nie gesehen habe, dabei war es immer da. Mitleid, Selbstmitleid und Ohnmacht streiten hinter meiner Stirn, jeder will den besten Platz im schlechten Gewissen. Ein fettes Aspirin rettet mich - vorübergehend - für diesen Abend.
Am nächsten Morgen zeihe ich einen Umschlag aus dem Briefkasten.
Es sind UNICEF Karten. Und eine ist schon beschrieben. Noch bevor ich lese, schnürt mir die liebe Geste meiner besorgten Freundin den Hals zu.
„Tut mir leid, dass der Weihnachtsmarkt-Besuch so übel für dich ausgegangen ist. Ruf mich an, wenn du reden willst. H.d.g.d.l. - Iris.
Ps.: Er war es nicht. Ganz bestimmt nicht.“