Judith Hermann - Daheim

Originaltitel: Daheim
Autorin: Judith Hermann
Herausgeber: S. FISCHER
Sprache: Deutsch
Gebundene Ausgabe: 192 Seiten

Mag sein, dass der neue Roman von Judith Hermann eher Frauen anspricht, wie manche Rezensenten meinen, ist er doch aus der Ich-Perspektive einer Endvierzigerin verfasst, die ihr früheres Leben hinter sich lässt und über die Vergangenheit ebenso wie über ihre emotional bewegte Gegenwart referiert.
Die namenlose Ich-Erzählerin berichtet von ihrer ehemaligen Arbeit in einer Zigarettenfabrik, ihrer geschiedenen Ehe, ihrer Tochter, die seit Jahren irgendwo in der Welt herumreist und meist nur Kompasskoordinaten ihres jeweiligen Standortes übermittelt, von einer verhinderten Schiffsreise nach Singapur, gemeinsam mit einem Zauberkünstler, der mit ihr den Trick der zersägten Jungfrau vorführen wollte, von ihrem Umzug an die Nordsee, einer dortigen Nachbarin, die eine enge Freundin wird und deren Bruder, einem Bauern und Schweinezüchter dessen herb/maskuliner Ausstrahlung sie erliegt.
Nunmehr lebt sie in einem winzigen Häuschen an der Nordsee, gleich hinter dem Deich, und arbeitet in der Dorfkneipe ihres Bruders, der ein seltsames Verhältnis mit einem noch seltsameren 20jährigem Mädchen unterhält, das jünger als seine Nichte ist. Wie überhaupt alle Figuren dieses Romans skurrile, höchst individuelle Wesen sind.
Hermann gehört zu jenen begnadeten Literaten, die in knapper Sprache, mit wenigen Worten, wie einzeln hingeworfene Farbtupfen, lebendige, hochemotionale Bilder schaffen können:

(sic) Arild tanzte auf Socken, die Bierflasche in der Linken, er tanzte wie ein Bär. Er drückte mich in die Ecke des Zimmers und machte seine Gürtelschnalle auf. Seine Handgelenke waren pelzig, ich ging in die Knie, ich konnte mich nicht daran erinnern, jemals auf eine solche Weise angefasst worden zu sein, zu diesen Dingen so aufgefordert worden zu sein. Direkt, beinahe sachlich. (sic)

Die zentralen Themen des Romans heißen Aufbruch und Selbstfindung, Heimat, Geborgenheit. Der gesamte Text verläuft in ruhigem Ton, ohne jede Sensationsgier, Gewalt oder Brutalität, nie erhebt sich die Erzählstimme und entwickelt dennoch einen unwiderstehlichen Sog auf den Leser.
Die Hauptfigur ist permanent auf der Suche nach sich selbst, wie ihre Tochter heimatlos, stets unsicher, ob alles gut ist, so wie es ist oder nicht. Über dem Text schwebt eine gewisse Traurigkeit, ein grauer Erinnerungsnebel, untermalt durch den Blick auf eine weitgehend trostlose, karge, menschenleere Landschaft, die dennoch in faszinierenden Bildern dargebracht wird.
Der Plot ist vorwiegend figurengetrieben, lebt von genauer Profilierung und tiefen Einsichten in die Charaktere, sowie deren teils komplexen Verhältnissen zueinander, untermalt von symbolhaften Bildern und durchaus philosophischen Ansätzen:

(sic) Es gibt nur das, was du gerade erlebst, und jede Erklärung, die du dafür hast, ist ausgedacht und existiert erst, wenn du sie formulierst. Ihr denkt, ihr hättet eine Bibliothek in euch, eine Sammlung, Bilder und Erinnerungen, die euch zu dem machen, was ihr seid. Gründe für das, was ihr mögt und nicht mögt. Aber diese Bibliothek ist eine Erfindung. (sic)

Symbolhaft für seelische Beengtheit, Eingesperrtheit, ebenfalls eines der tragenden Themen der Geschichte, steht die Kiste des Zauberkünstlers, in der die Erzählerin selbst einst probelag, die enge Holzkiste in der die jugendliche Freundin ihres Bruders als Kind immer wieder eingesperrt war, zuletzt die Kastenfalle, die ihr Liebhaber am Dachboden aufstellt, um damit einen Marder zu fangen, der ihre Nachtruhe stört:

(sic) Du fängst selten das, was du fangen willst. Du fängst mitunter etwas ganz anderes. Dann musst du sehen, was du damit machst. (sic)

Ob die Erzählerin im Watt der Nordsee die Erfüllung ihrer Sehnsüchte findet, bleibt ebenso offen, wie die Eingangstür ihres Häuschens, die sie seit langem nicht mehr versperrt.

Judith Hermann debütierte 1998 mit einer Kurzgeschichtensammlung, Sommerhaus, später, das sofort zu einem Bestseller geriet. Ihr bisheriges literarisches Werk wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Hermanns aktueller Roman, Daheim, erschien im März 2021 und wurde für den Preis der Leipziger Buchmesse 2021 nominiert.

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Das klingt lesenswert. Skurrile Persönlichkeiten braucht es für mich, wenn ich mal Unkriminelles lese. Werde mal in der ARD-Audiothek reinhören!

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