Liebe Schreibfreunde,
heute jährt sich der Tag, an dem sich für uns vor sechsunddreißig Jahren alles veränderte. Hab schon überlegt, mal mehr über die Zeit zu schreiben, na mal sehen. Was mich interessieren würde, wie war das bei Euch? Und natürlich gerne Kritik zum Geschreibsel. Vielen Dank.
Ähnlichkeiten von Namen und Handlungen der aufgeführten Personen im genannten Unternehmen sind zufällig und frei erfunden.
Jene Tage im November
Liebe Jungs,
prägt uns die Heimat? Berge, so hoch, dass die schneebedeckten Gipfel in den Wolken verschwinden? Das wildschäumende Meer? Der duftend grüne Wald, gelbe Rapsfelder? Ihr seid im Harz geboren, umgeben von Mischwäldern, Schluchten, ruppigen Felsen, klaren, kalten Seen, verträumt, märchenhaft. Ihr fragt, warum wir damals weggezogen sind, fragt, wie das war damals. Wenn ich darüber nachdenke, bin ich erstaunt, dass ich mich an viele Details erinnere, als wäre es erst gestern gewesen.
Mittwoch, 08.11.1989
Der Geruch von Gummi fuhr mir in die Nase, ich mochte es, wenn sich die warme Flexodruckform aus der Vorlage pellte. Jungfräulich, bereit, um auf Walzen aufgeklebt, Hunderte von Folien mit Milchtüten zu bedrucken. Das sanfte Rattern der Druckmaschinen beruhigte, ein gleichmäßiges Rollen, schmatzend legte sich Farbe auf die Folie. In der Halle standen viele der Maschinen, es roch nach Öl, Lösungsmitteln, Farben. Ich winkte den Druckern im Vorbeigehen zu. Sie kannten mich, sie winkten zurück, ein paar Sprüche flogen hin- und her. Der knurrige Flexodruckkönig, mit seinen ewig schwarzen Fingernägeln, beäugte den Stapel an Aufträgen, die ich ihm brachte. Es waren nie zu viele Aufträge, nie zu lukrative. Ich wusste, dass die Drucker nach der Anzahl der fertigen Rollen bezahlt wurden, es leichte und komplizierte Aufträge gab. Daran konnte man nichts ändern. So hörte ich mir geduldig seine Litanei an.
„Ist was? Sie sehen so blaß aus? Wollen Sie etwa auch abhauen?“, fragte er unvermittelt. Ich zuckte leicht zusammen. „Nein, wie kommen Sie darauf? Ich habe ein Kleinkind. Außerdem, wir können ja nicht alle abhauen!“, setzte ich patzig hinzu. Mir war wirklich übel, aber das ging ihn nichts an, ebenso wenig, dass ich schwanger war. Er schaute mich prüfend an, dann nickte er. „Hmm, na gut, hätte ich Ihnen auch nicht zugetraut. Aber da ist was im Busch. Im Vertrauen, bei uns sind zwei Mann von ihrem Urlaub nicht wiedergekommen. Ausgerechnet Hannes! Das werden die mir ankreiden“. Aha, daher wehte der Wind. Ich wunderte mich, warum ich so enttäuscht war. Weil er mir das nicht zutraute?
Seit Monaten verließen die Leute in Scharen das Land, meist über Ungarn, es hörte nicht auf. Jeden Tag Nachrichten von sogenannten Verrätern. Insgeheim beneidete ich Flüchtige für ihren Mut. Jeden Montag größer werdende Proteste. Was, wenn die Regierung Schießbefehle gab? Was, wenn Moskau Panzer schickte? Das Gefühl, dass etwas Großes im Gang war, machte sich jeden Tag mehr bemerkbar. Wir fanden Gorbatschow toll, was man lieber nicht laut äußerte. Glasnost und Pestrestroika, das bedeutete Hoffnung. Nur, was passieren würde, das war völlig offen. Liebe Jungs, ihr werdet vielleicht enttäuscht sein, aber ich war kein Held oder gar Revolutionär. Habe an keiner Montagsdemo teilgenommen, wurde von der Stasi in Ruhe gelassen.
Donnerstag, 09.11.1989
Niemand ahnte, dass dieser trübe, leicht nieselige Tag in die Geschichtsbücher eingehen würde. Unser Chef brüllte wie jeden Morgen ins Telefon. Breitbeinig, die Brust vorgereckt, machte er sein Gegenüber zur Schnecke. Erika, die gute Seele im Büro, blinzelte mir zu, feixte. Die anderen Kollegen taten beschäftigt. Mittlerweile rotfleckig, knallte er den Hörer auf. „Diese Flitzpiepen. Die können mich mal“! „Was ist denn?“, fragte Rainer, rein rhetorisch. „Die Zahlen würden schlecht aussehen, ha, witzig.“ Der Monolog ging noch eine Weile, bis er endlich das Büro verließ. Es summte wie in einen Bienenstock. In jeder Familie kannte man jemanden, der jemanden kannte, der abgehauen war. An Arbeiten war kaum zu denken, trotzdem klingelte permanent das Telefon. Ich sah nach Aufträgen, die immer noch nicht fertig waren. Die Aushilfe stöhnte genervt, tippte im Zwei-Finger-Suchsystem. Ich seufzte. Wer hatte die bloß eingestellt.
Nachmittag, endlich Feierabend. Ich trank mit Erika Kaffee. Sie wischte sich die Augen. Hatte sie geweint? „Was ist passiert?“ „Ach Gabi, ich muss es erzählen, sonst werde ich noch verrückt. Meine Tochter ist mit der kleinen drüben. Seit dem Sommer schon, über Ungarn. Bitte erzähle niemanden davon. Ich habe solche Angst, sie nie wiederzusehen. Am liebsten würde ich auch gehen, aber ich traue mich nicht.“ Ich nahm sie in den Arm, außerstande, etwas zu sagen.
Liebe Jungs,
keine Schüsse, keine Panzer, keine Konfrontation, welch ein Glück! Wir saßen jenen Abend vor dem Fernseher, schauten uns an, konnten es nicht glauben. Die Wende wurde so beiläufig eingeläutet, dass es jedes Mal staunendes Kopfschütteln hervorruft, wenn man an die Worte von Günter Schabowski denkt: „Das tritt, meiner Meinung nach, sofort in Kraft“. Später kam heraus, es war ein Versehen, denn die Nachricht sollte erst am nächsten Tag bekannt werden. Was? Die Grenze ist wirklich offen? „Ich brauche einen Schnaps“, rief Euer Papa. Passierte das wahrhaftig, träumten wir? Geschichte schreibt immer wieder Wunder, und das, liebe Jungs, war eins davon.
Freitag, 10.11.89
Niemand arbeitete. Unser Chef sei zu seinem Verwandten nach Köln aufgebrochen, hieß es. Das Büro war halb leer. Partei? Welche Partei? Ausweise wurden massenhaft abgegeben, Austritte so schnell wie möglich. Staunend erlebten wir, dass sich jemand von seinem Partner trennte, der bei der Stasi war, hatte ihn vorher nicht gestört, im Gegenteil. So viel Umbruch mit einem Mal. Alles in Frage gestellt, war wirklich alles so schlecht gewesen? Unsicherheit gemischt mit vorsichtiger Freude. Erikas Gesicht war verquollen von Freudentränen. Ich freute mich mit ihr. Gleich am Wochenende wollte sie ihre Kinder besuchen. Auch wir wollten die Gelegenheit nutzen, wer wusste schon, wie lange die Grenze geöffnet blieb.
Samstag, 11.11.89
Es war früher Morgen, als uns ein Freund mit seinem Dacia abholte. Auf den Straßen war wenig Verkehr, wir waren aufgeregt, freuten uns. Dreißig Kilometer vor der Grenzstation Helmstedt/Marienborn zerstob die Freude in tausend rote Rücklichter, wir reihten uns in eine endlose Autoschlange ein. Die Leute stiegen aus, quatschten miteinander. Mir wurde ab und zu übel, fragte mich, ob das so eine gute Idee war. Aber es hätte nichts genützt, wir steckten fest. Die Autos, dicht an dicht, gleich so auf der Gegenspur. Eine Abfahrt gab es nicht, Umkehr unmöglich. Mit einem Wolfsburger, der hinter uns stand, wechselten wir ein paar Worte. Er meinte, es sei kein Problem für ihn, im Stau zu stehen, wir hätten vierzig Jahre darauf warten müssen und er wäre froh, bei einem so bedeutsamen, historischen Ereignis dabei zu sein. Sechzehn Stunden später hatten wir die paar Kilometer geschafft. Eine einzige, stinkende, blaue Abgaswolke. Die eingenebelten Grenzer winkten die Autos durch, ohne einen Blick auf die Ausweise zu werfen.
Liebe Jungs,
es kribbelte im Magen, als wir die Grenze überquerten. Gleich sammeln sie uns wieder ein, das war so ein Gedanke. Dann wurde mir richtig schlecht, wir mussten halten. Ha, ha, das war das Erste, das du im Westen gemacht hast?, wurde ich später immer damit aufgezogen. Na ja, das Wendekind hielt uns auf Trab. In Wolfsburg angekommen, spielten Musikkapellen am Straßenrand, das war schön. Ein Porschefahrer würgte vor Überraschung sein Auto ab, als der knatternde Dacia vorbeifuhr. Es war mittlerweile dunkel, wir erfuhren am Bahnhof von einem Schlaflager. In dem riesigen Raum standen Feldbetten, es raschelte, Schnarchen, Gemurmel, Lachen, Flüstern, an Schlafen war nicht zu denken. Am nächsten Morgen wurden Aufnahmezettel ausgeteilt, so richtig glaubte wohl niemand daran. Ich hatte plötzlich Angst, dass sie uns an der Grenze wieder zurückschicken würden. Der Zettel blieb leer, wir wollten nach Hause.
November, 2025
Liebe Jungs,
sind sechsunddreißig Jahre vergangen, ein halbes, ganzes Leben? Ihr seid doch eben erst geboren, fröhliche, aufgeweckte, kleine Jungen! Der Anfang war schwierig, trotz aller Freude, die Druckerei pleite, ich verlor meinen Job, wie so viele. Umschulung. Ging alles, irgendwie. Gewöhnung an neue Preise, die hohen Mieten. Wir zogen der Arbeit hinterher, in der Kleinstadt keine Perspektiven. Mikroelektronik hatte Tradition in Sachsen, lange vor der Wende. Ein neues Werk wurde gebaut, Techniker wurden gesucht. Also Dresden. Elbflorenz, so anders als der wilde Harz, aber schön. Das sächsische Silikon-Valley wuchs. Wir bekamen Arbeit, bauten uns etwas auf, Häuschen, kleinen Garten, Freunde. Die Rolling Stones live sehen, die Welt bereisen. Die Großeltern fanden die neue Heimat bezaubernd, zogen nach. Ihr fandet Freunde, die Schule, Uni alles nicht weit. Ihr macht uns stolz, Master IT und Doktor der Teilchenphysik. Wow, wir schauen Bing Bang Theorie, lachen gemeinsam. Froh und dankbar gegenüber den mutigen Leuten von damals. Jeden November einen dicken Kloß im Hals, feuchte Augen.
Ein Filmtipp für alle Interessierten:
„Schabowskis Zettel – die Nacht, als die Mauer fiel“