Liebe Urmel,
da haben wir, was Vorlieben – zumindest in der Rezeption – angeht, etwas gemeinsam, denn ich liebe die Form der Novelle sehr. Beim Schreiben selbst kenne ich keine Präferenz; vielleicht liegt es daran, daß die „kleinen Formen“ bei mir immer die Anlage fürs Erweitern in sich tragen, wobei ich andererseits denke, daß dies – jedenfalls bei den „Klassikern“ – eigentlich ähnlich ist.
Mir fällt spontan John Steinbeck ein, von dem es eine Reihe manchmal durchaus kleinster, ja nicht umsonst 'short stories’ genannter Texte in Einzelveröffentlichung gibt, die er allerdings auch in seine Romane einbaute. Und guckt man auf die selbst, so ist ja wie im Fall von East of Eden zu konstatieren, daß ganze (Bestand-)Teile daraus fast schon als „eigenständige Romane“ in Erscheinung treten.
Wie dem auch sei: Der Roman ist sicher jene Form, an der seit langem am meisten herumexperimentiert wird. Warum die anderen Formen nicht so innovativ weiterentwickelt werden – ja, langsam auszusterben drohen, wenn’s so weitergeht wie in den letzten hundert Jahren mit der dabei m.E. zu registrierenden schnell und schneller anziehenden Dynamik --, weiß ich nicht zu sagen. Schade find’ ich’s allemal …
Viele Grüße von Palinurus
PS: Kleiner (und wie bei mir üblich selbstredend [pseudo-]„intellektuell“ verschandelter) Tip für eine wirklich ungeheuer inspirierende und wohl nie „unmodern“ werdende Geschichten-Sammlung, die trotz ihres inzwischen doch beträchtlichen Alters noch immer Legion ist und wahrscheinlich auch niemals in Vergessenheit geraten wird:
Wolfgang Hildesheimers Lieblose Legenden, mit denen er einstmals seinen Ruhm als Schriftsteller begründete. Ich wünschte mir eine solche Geschichten-Sammlung – in jener von Hildesheimer souverän gepflegten Kombinatorik von virtuoser Ironie und erzählerischen Lust am Ausformen des Bizarren der rezenten Wirklichkeit --, gemünzt auf die heutige Zeit. Obwohl ich immer wieder festzustellen meine, daß die W.H’s vom Bodensatz her sogar noch immer trägt. Wahrscheinlich liegt das tatsächlich an ihrer Überzeitlichkeit, in der Form und Inhalt auf eine Weise verschmelzen, wie es eben nur selten gelingt. – Der Autor himself hat die Lieblosen Legenden dem gegenüber einmal als „sehr zeitgebunden“ bezeichnet; jedoch kann diese Einschätzung mein eben geäußertes Urteil kaum trüben. Und nicht nur, weil Hildesheimer an keinem anderen seiner Werke immer wieder so herumgefeilt hat wie an den LL, um kleinere Anachronismen zum jeweiligen Korrektur- und auch Neuauflagenzeitpunkt zu beseitigen, ohne dabei allerdings jemals ins Grundgerüst einer Erzählung eingreifen haben zu müssen.
Nein! Die LL sind von ihrem Substrat her für mich v.a. deswegen von überzeitlichem Charakter, weil sie einige wenige Menschentypen aufs Korn nehmen, die überhaupt erst mit dem Kapitalismus – als der größten Scheinwelt, die jemals auf diesem Planeten instantiiert war – entstanden sind und wohl auch erst mit diesem Weltzustand zugrunde gehen werden, sofern sich die Menschheit vielleicht irgendwann doch noch entscheiden sollte, diesem barbarischen Schmierentheater im blutüberströmten Tarnkleid bloß vorgeschobenen Humanismus’ mit dem angeblichen Telos „gleicher Chancen für alle“ ein Ende zu setzen. Keine andere Gesellschaftsordnung hat das – jedenfalls im Funktionsbereich des Irdischen – je versprochen und sich ergo so perfide wie der Kapitalismus mit der eigenen Reklametrommelei des rein Ideologischen, also auch Lügnerischen, selbst überführt, ohne daß es freilich größers irgendwen jucken würde.
Damit das gelingen konnte – also eine derartig unsagbare Ignoranz gegen die perennierende Barbarei fortgesetzter Selbst- als auch Fremdverarschung wider besseren Wissens und auch entsprechende Bekundungen --, so meine These, bedurfte und bedarf es – neben anderem natürlich – noch immer gerade besonders jener Menschentypen, die Hildesheimers LL in den Blick nehmen … und gewissermaßen dekonstruieren … ohne daß doch diese Dekonstruktion irgendetwas am geradezu kafkaesken, bizarren Weltzustand ändern würde.
Wer jetzt aufgepaßt hat, könnte eventuell eines Ahnung davon erlangen, warum die Behauptung, Hildesheimers LL hätten überzeitlichen Charakter, nicht gänzlich absurd sein muß. Vorausgesetzt natürlich, der inhärente Kalkül des entsprechenden Arguments ist nicht korrupt, worauf unbedingt zu bestehen der Autor dieser Zeilen aber keineswegs wasserdicht machen könnte … was freilich – und das ist der selbstironische Clou an der hiesigen kleinen Reflexion – selbst dann noch die LL Hildesheimers ins Recht setzte, auch fürs Hier und Jetzt …