Hineinversetzen in von mir ferne Figuren?

Hallo liebe Community!

Ich schreibe ein Buch mit vielen Perspektiven und habe teilweise Probleme, mich in die Figuren reinzuversetzen. Das größte Problem habe ich mit einer älteren Dame. Habt ihr Tipps, was ich machen kann, um ihr eine spannende Hintergrundgeschichte zu geben, bei der der Leser nicht einschläft? Oder habt ihr allgemein Tipps, wie ich mich in eine mir ferne Figur hineinversetzen kann?

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In ein Altenheim gehen und mit Leuten reden, die sonst nie Besuch bekommen. Das erfreut die Bewohner und du lernst jede Menge Lebensgeschichten kennen und findest darunter vielleicht auch die eine oder andere Perle, die du dann authentisch weiterverarbeiten kannst.

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oh das klingt nach einer richtig guten Idee! Vielen Dank :slight_smile:

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Habe das selber schon mal für einen Roman gemacht.

Aber bitte mit Vorsicht. Das hat einen Beigeschmack von be- und ausnutzen. Sicher sind die meisten freundlich und reden gerne. Viele haben keine Ahnung, dass sie dich garnicht kennen.

Ich will wirklich nicht den Moralapostel spielen, aber ich habe durch meine Eltern gerade sehr viele solcher Begegnungen und das ist nicht einfach. Auch für dich nicht.

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Nachdem ich den Schreibratgeber „Handwerk Humor“ von John Vorhaus gelesen habe, stelle ich zusätzlich zu der Frage „Was ist die Motivation der Figur?“ auch noch die Frage „Was ist die komische Perspektive der Figur?“

Die komische Perspektive einer alten Dame könnte zum Beispiel sein: „Früher war alles besser!“
Dann reagiert sie entsprechend auf die Jugendlichen in ihrer Wohngegend.
Ihre komische Perspektive könnte auch „Naivität“ sein (auf den „Enkeltrick“ am Telefon ist sie schon dreimal reingefallen), dann reagiert sie völlig anders auf die Jugendlichen in ihrer Wohngegend.

Mir hilft der Fokus auf die komische Perspektive dabei, neue Ideen in eine Szene zu bringen. Natürlich soll die Romanfigur am Ende nicht klischeehaft und eindimensional sein, aber wenn man erstmal ein Bild und Ideen hat, kann man die Ideen ja selektieren, weiterentwickeln und ausbauen. Die Aufgabe: „Alte Dame trifft auf Jugendliche“ weckt in mir nicht sofort Ideen, aber mit der komischen Perspektive „Früher war alles besser“ fallen mir sofort Dinge ein, die die alte Dame an den Jugendlichen bemerken und bemängeln könnte - so kommt Leben in meine Vorstellung von der Szene.

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Ich hatte am Empfang gefragt, wer sich über einen Besuch freuen würde. Der Empfangsmensch hat dann einen Bewohner gefragt, ob ich kommen dürfte und dem Bewohner auch den Grund genannt. Eine Woche später war ich da. Aus einem geplanten Besuch von einer halben Stunde sind dann zwei Stunden geworden. Der ältere Herr hatte sich sehr gefreut und ich auch. Als Dankeschön stand er nachher im Vorwort meines Buches, das ich ihm dann auch geschenkt habe. Mittlerweile ist er leider verstorben.

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„Komische Perspektive“ - das werd ich mir merken! Vielen Dank für den Tipp

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Ich weiß gar nicht, wieviele Stunden ich schon in Straßencafés oder auf einer Bank verbracht und Menschen beobachtet habe. Dabei stellte ich mir immer die Frage, wie wohl ihr bisheriges Leben ausgefallen sein mag. Was sind die Ursachen für die vielen, tiefen Falten… den gebeugten Gang… die trüben Augen… oder besonders wache Augen? Wie interagieren sie mit ihrer Umwelt und was sagt mir das?
Ich finde ja, dass auch eine Nebenfigur immer eine Aufgabe in meinem Roman haben muss, sonst muss es sie nicht geben. Ist die alte Dame gut oder böse? Eine verbitterte alte Jungfer oder eine jung gebliebene Freigeistlerin? Diese Fragen formen bei mir dann schon allmählich den Charakter und daraus dann den Hintergrund.

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Du könntest auch mit Fakten starten und daraus Stück für Stück eine Persönlichkeit bauen. Was hat sie früher gearbeitet? War/ist sie verheiratet? Mit wem? Wo ist sie geboren und wo aufgewachsen? Hat sie Geschwister? Wie ist/war das Verhältnis? Wer sind ihre Freunde - oder hat sie keine? Warum? Welche gesellschaftliche Ereignisse in ihrer Jugendzeit und welche persönlichen Ereignisse haben sie geprägt? **
Elisabeth George schriebt in ihrem Buch über das Schreiben („Meisterklasse“), dass sie einen festen Satz von Fragen hat, die sie sich zu jeder noch so kleinen Figur stellt. Darunter dann auch Sachen wie:**

  • Körpersprache
  • politische Überzeugung
  • Hobbys
  • was anderen als erstes an ihr auffällt
  • was sie allein tut
  • was ist ihr pathologischer Reflex?
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Genau richtig. Gut, dass du es so auch sagst. Es ist ein sensibles Thema und braucht Behutsamkeit.

Auch ein sehr guter Ansatz. Wobei man sich da wohl unterschiedliche Fragesätze für den Zweck der Person im Buch zusammensetzen muss. Je nachdem, wie prägend diese Person für den Kontext ist. Aber sicher sehr hilfreich, da aus einem Fragenschatz schöpfen zu können.
Was davon wäre wichtig, über diese Figur zu wissen? Das hilft vielleicht sogar, einige geliebte, aber unnötige Darlings zu killen :disappointed_relieved:

Cool, merke ich mir. Danke.

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Was meint sie in dem Zusammenhang mit „pathologischer Reflex“?
Wenn ich den Begriff in meine Internet-Suchmaschine eingebe, kommt da nichts als Suchergebnis, das mir bei der Charakterisierung einer Romanfigur helfen würde.

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So ganz kann ich deine Bedenken nicht nachvollziehen. Es geht doch bloß darum, jemanden zu besuchen und nicht darum, jemanden auszufragen. Meine Eltern waren beide im Heim (sie sind mittlerweile verstorben). Sie haben zu unterschiedlichen Zeiten in unterschiedlichen Heimen gelebt. Auf der Suche nach einem Heimplatz für meinen Vater bin ich in jedes Heim in der Umgebung gegangen und habe dort persönlich nach einem Platz gefragt. Bei der Gelegenheit habe ich jeweils die Bewohner, auf die ich getroffen bin, gefragt ob sie sich dort wohl fühlen. Ich wollte ja schließlich einen schönen Platz für meinen Vater finden. Meistens habe ich einfach gefragt, ob ich mich dazusetzen darf. Dann haben die allermeisten schon von allein alles Mögliche aus ihrem Leben erzählt. Genau dieses Verhalten vieler alter Leute macht es Trickbetrügern ja so leicht.
Der Herr, mit dem ich die Verabredung hatte, war stolz wegen des Buches, dass ihn jemand ernst nimmt und an seinem Leben und seiner Meinung Interesse hat.
Mein Mann arbeitet im Altenheim. Er hat mir eben gesagt, dass die Heimaufsicht unregelmäßig und unangekündigt Zufriedenheitsumfragen macht. Die Bewohner kennen die Fragesteller nicht, sind aber immer sehr auskunftsfreudig.
Also ich persönlich habe nur positive Erfahrungen gemacht, wenn es darum geht, Kontakt zu älteren, einsamen Herrschaften aufzubauen. Man trifft sich ja schließlich nicht in einem dunklen Park sondern im Aufenthaltsraum eines Altenheims.
Wenn man sich zuvor am Empfang erkundigt, welche Person sich über Besuch freuen würde, weil sich die Kinder nicht kümmern oder zu weit weg wohnen, oder … dann ist man auf der sicheren Seite und wer weiß, vielleicht hat man daraufhin ja auch Lust, besagte Person danach mal öfter zu besuchen oder ihr zu Weihnachten eine kleine Aufmerksamkeit zu schenken. Kommunikation kann viel bewirken, macht Freude, man tut damit etwas Gutes und lernt obendrein noch jede Menge

Mir ging es hier auch um den Besucher. Man muss auch auf sich selbst aufpassen. Mir geht das manchmal einfach sehr tief rein, all diese Leben an ihrem Ende so geballt um mich zu haben.
Ich mache niemandem Vorwürfe. Ich will nur darauf aufmerksam machen, dass das nicht immer so einfach zu ertragen ist. Je nachdem, was man für ein Typ ist, in welcher Lage man sich gerade selbst befindet, kan einen das eben leicht mal überfordern.

Ach so. Nun ja. Meine zusätzlichen Angaben ermutigen vielleicht dennoch, es mal mit einem Besuch zu wagen. Ich hatte dich in dem Punkt nicht verstanden, weil ich diesbezüglich eine Belastbarkeitsgrenze habe, die gar nicht existiert. Oder anders: Da bin ich schmerzfrei. Vielleicht liegt es auch daran, dass meine Eltern uns früher quasi dazu „gezwungen“ haben, mit Kindern zu spielen, denen es nicht so gut ging. Meine Eltern haben sich Zeit ihres Lebens sozial engagiert. Ich habe vollkommen nebenher gelernt, damit umzugehen.

Dann sei wirklich froh darüber. Mir macht der Weltschmerz manchmal sehr zu schaffen. Da ist dann jeder Tropfen zusätzlich einfach zu viel.

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Sorry, ich wollte dir das wörtlich zitieren, damit ich keinen Stuss schreibe und musste im Buch etwas suchen, weil ich es „nur“ papierhaft habe. Also:

"Der zweite Teil meiner Figurenanalyse, der mir hilft, meine Figur zu verstehen, ist die psychopathologische Disposition einer der Figur, die ich als ‚pathologischen Reflex‘ bezeichne. Für mich kann dieser Reflex ein ein problembeladener oder verwirrter Geisteszustand sein, … eine ungewöhnliche aber verräterische Reaktion auf etwas oder ein Irrglaube. Es ist etwas ganz Individuelles und meistens für die Öffentlichkeit nicht sichtbar, sondern durch die Rolle verdeckt, die die Person nach außen hin darstellen will. Der Reflex wird ausgelöst, wenn Angst, Stress oder Sorgen überhandnehmen oder … wenn ein Verhalten notwendig wird, das von Angst ablenkt. Es gibt so viele pathologische Reflexe wie es gefährliche, verrückte, neurotische, psychotische, kriminelle, schädliche, böse, gemeine, hinterhältige, unsinnige oder unerklärliche Verhaltensweisen gibt. Beispiele sind: Selbstverletzung, Aggression, Mobbing, Essstörungen, Alkoholismus, Wutanfälle, Schmerzen ohne körperliche Ursache, Zwangsvorstellungen oder -Störungen (z.B. ein Waschzwang), Nymphomanie, chronisches Lügen, Manien, Phobien. Wir erkennen den Refely einer Person am Verhalten, z.B. wenn jemand 3 Stunden lang duscht, ein Kleptomane oder Pyromane … Wir hören den Reflex, wenn die ausgesprochen Gedanken der Person uns sagen, dass etwas nicht stimmt. z.B. Hass auf Gegenstände, paranoide Anschuldigungen, Fremdenhass, usw. "

Man muss dazu natürlich bedenken, dass diese Autorin hauptsächlich Krimis schreibt, aber das Prinzip auch im kleinen zu denken, finde ich nicht schlecht. Ich habe z.B. in meinem historischen Roman einen Nubier, der austickt, wenn man ihn als Ägypter bezeichnet (was natürlich ständig alle tun), weil Nubien von Ägypten erobert wurde, als er noch ein Kind war, weil sich seine Eltern damit einfach abgefunden und sich assimiliert haben, weswegen er sich von ihnen entfremdet hat aber vor allem, weil seine damalige Freundin ihn für einen Ägypter verlassen hat.
Das alles kommt im Roman dann aber nur als Andeutung in wenigen Worten vor. Aber es hilft mir, aus der Figur eine Person zu machen.

So, nochmal sry für den langen Text.

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Danke für die Erklärung!

Ich danke auch. Das ist wirklich sehr interessant.