Hilda oder: Alles was denkbar ist

Hilda oder: Alles, was denkbar ist

(auf besonderen Wunsch von @HannahK und in memoriam Hilda Harabat)

Es war mein vierter Nachtdienst auf der Akutpsychiatrie und der erste, in dem ich Hauptdienst hatte, also für den gesamten Ablauf verantwortlich war. Gewiss, Swoboda hatte mir Walter zugeteilt, einen erfahrenen Pflegehelfer, der so viele Dienstjahre aufwies, wie ich Lebensjahre, aber nervös war ich doch. Trotz des Summa-cum-laude Abschlusses, ein Monat zuvor.
Gegen halb eins, ich checkte die Medikamentendispenser für den morgigen Tag, läutete es an der Stationstür. Walter ging nachsehen, öffnete und begrüßte belustigt den späten Gast.
»Na, haben Sie mit einem Bären geschmust, Herr Inspektor?«
Ich sah nach draußen. Tatsächlich: ein einzelner Polizist, mit zerrissener Uniform und einer Wunde am Jochbein, die aber nicht mehr blutete.
»Ja, wenn es nur ein Bär gewesen wäre, da hätte ich mich schon zu wehren gewusst. Aber, es war kein Bär, sondern ein altbekannter Kunde von euch.«
Ich hatte Desinfektionsmittel und Pflaster geholt und wollte mich an seine Verletzung machen, aber er winkte ab.
»Wen bringt ihr uns denn?“, fragte Walter.
»Die Barabas wieder mal«, antworte der Polizist, »mit Unabweisbarkeitsparere, wenn es recht ist.«
»Ist es nicht«, sagte Walter.
Dann fuhr der Aufzug hoch zu uns und es hörte sich an, als würde jemand da drinnen mit einem Panzer herumfahren. Als die Tür aufging zwei weitere Polizisten, in ähnlichem Zustand wie ihr Kollege. Zwischen ihnen ein tobendes Bündel Mensch, keine eins sechzig groß, dünn wie ein Kind und weißes Haar, das in langen fettigen Strähnen über das Gesicht fiel.
»Servus Hilda«, sagte Walter und ging vor der Frau, wie alt mochte sie sein, siebzig bestimmt, in die Hocke.
»Geh scheißen, du Trottel«, fauchte sie ihn an.
»Na servus, das wird lustig«, meinte Walter und fiel einen der Polizisten, der eben der Alten die Handschellen abnehmen wollte, in den Arm. »Nein, das macht der Kleine dort«, sagte er und deutete auf mich.
Der Polizist zuckte nur mit den Schultern und hielt mir die Schlüssel hin. »Aufpassen«, sagte er, »die hat uns grad den ganzen Einsatzwagen zerlegt, trotz Achter und Fußfesseln.«
»Hallo«, sagte ich und legte meine Hand auf das Knie der Patientin, um sie etwas zu erden, »mein Name ist Robert und ich mache sie jetzt los.«
»Wenn du deine Drecksfinger nicht sofort von mir nimmst, beiß ich dir die Nase ab!«, kam die Antwort.
Willkommen auf der Akutpsychiatrie, dachte ich und öffnete die Handschellen. Sie hatten sich tief in die faltige Haut der Alten eingegraben, der linke Unterarm war blutverschmiert. Sowas kam vor im Raptus. Das wusste ich. Aus dem Lehrbuch.

Ich war der Älteste in meinem Jahrgang. Die anderen, gut zehn, fünfzehn Jahre jünger als ich, ohne eigene Familien im Schlepptau und den Kopf noch voll mit jugendlichem Leichtsinn, schienen sich, so dachte ich, um ein Vielfaches leichter zu tun, den Unterrichtsstoff der gesamten psychiatrischen Pflege in die Gehirne zu bringen, als ich mit meinen 36 Jahren. Dennoch hatte ich mir dieses Studium angetan. Wollte es und wollte es wirklich gut machen. Machte es auch gut. Mal abgesehen von der Anatomieprüfung, die ich komplett versemmelte.
»Das muss auch so sein«, hatte Steininger, mein Lehrer gesagt, »Nur wer sochon mal gescheitert ist, kann auch gescheiter werden.« Einer dieser Sätze, die du dein Leben lang nicht vergisst.
Alle anderen Prüfungen der nächsten drei Jahre legte ich auf ein Sehr gut ab. Das passierte einfach so, war keine Absicht. Ich fürchtete, dass ich vor den anderen als Streber galt. Grundlos. Eine andere Rolle war mir in dem sozialen Gefüge des Jahrganges zugedacht: der große Bruder. Ich fühlte mich wohl damit, es ging mir gut, trotz, dass es seltsam war, als Vater von zwei Kindern in der Pubertät, mit Menschen zu studieren, die ihre eigene Pubertät gerade erst hinter sich gebracht hatten. Aber das Lernen funktionierte und, mehr noch, es machte mir Freude.
»Euer wichtigstes Ausbildungsjahr ist das erste Jahr nach der Ausbildung«, lautete ein weiterer Satz Steiningers, den ich in meinem Langzeitgedächtnis abspeicherte. Einen anderen sagte er bei der Diplomfeier: »Die letzten drei Jahre habt ihr gelernt, wie Psychiatrie vielleicht funktionieren könnte. Jetzt lernt ihr, wie es tatsächlich läuft. Wenn euch das, was ihr dabei erlebt, nicht gefällt, ändert es.«

»Bring mir einen Kaffee«, forderte mich Frau Barabas auf, »aber einen von euren, nicht der Dreck, den ihr uns zumutet!«
Walter stellte ihr tatsächlich eine Tasse Cappuccino hin.
»Welcher Idiot von der Ärzteschaft hat heute Nachtdienst?«, wollte sie wissen.
»Doktor Schneider«, sagte ich, »Sie ist bereits unterwegs.«
»Was die kleine Schneider ist noch immer da? Hätte ich ihr gar nicht zugetraut. Aber gut. Na, da ist wenigstens ein Mensch hinter dem weißen Mantel.«
Tamara Schneider war neben Wolnicek, Decker und Primar Scholz die vierte Psychiaterin auf der Abteilung. Sie hatte erst im Herbst ihre Facharztprüfung abgelegt und jeder hatte gedacht, dass sie danach keinen Tag länger bleibt. Es war nicht einfach mit Scholz, vor allem als Frau, aber Tamara war hart im Nehmen. Und sanft im Geben. Sie ergänzte das Team ausgezeichnet.
»Hallo Frau Barabas«, begrüßte sie die Alte sanft, »Wieder da? Was führt Sie denn diesmal zu uns?«
»Ich war einkaufen«, antwortete die.
»Und? Was schönes gekauft?«
»Ja, Katzenfutter.«
»Oh! Haben Sie sich ein Kätzchen zugelegt?«
»Was soll ich mit so einem Vieh? Nein, das war für mich!«
»Für Sie? Essen Sie jetzt Katzenfutter?«
»Ja. Muss ich. Hat mein süßer Herr Jesus empfohlen.«
Tamara kommentierte die Aussage nicht und ließ der Frau etwas Zeit, ihren Kaffee zu trinken. »Ich würde sie gerne untersuchen«, sagte sie schließlich. Auch mir war der typische Geruch ulzerierter Haut aufgefallen. Aber die Alte brauchte sowieso dringend ein Bad.
»Das wäre mir schon recht«, gab Frau Barabas zu, » ich habe nämlich Arbeit für Sie, Frau Doktor. Einmal noch.«

Wie in der Allgemeinmedizin ist auch in der Psychiatrie die Aufnahmesituation entscheidend für den Behandlungserfolg und weiteren Genesungsverlauf. Der wesentliche Unterschied jedoch liegt darin, dass der Großteil der psychiatrischen Patienten kein Krankheitsbewusstsein hat. Sie wissen nur, dass irgendetwas mit ihnen nicht stimmt und suchen, das ist zutiefst menschlich, diese Unstimmigkeit erst zuletzt bei sich. Umso wichtiger sind hier zwei Dinge, an die Sie ständig denken sollten: Zum einen, finden Sie den kleinsten gemeinsamen Nenner, den der Patient noch mit Ihnen hat, etwa: »Wir haben beide ein Problem. Wie wir das benennen, ist sekundär. Wichtig ist, dass wir dieses Problem gemeinsam haben und daher auch gemeinsam nach Lösungen suchen sollten.« Und zum zweiten: Lassen Sie dem Patienten, wo immer es geht eine Wahlmöglichkeit, das ist die wichtigste Maßnahme, um eine Eskalation zu vermeiden.

»Warum hast du die Handschellen nicht aufgemacht?«
Walter sah mich an, als müsste er nachdenken, ob diese Frage überhaupt eine Antwort verdiente.
»Damit sie dich als Befreier erlebt«, sagte er schließlich, »du sollst ja auch ihr Bezugspfleger werden.«
»Ich glaube nicht, dass das schon feststeht«, erwiderte ich.
»Doch, tut es«, kam seine Antwort, »Das Pflegesystem, das wir hier praktizieren, definiert sehr eng, wann eine Pflegeperson keine Bezugsperson sein kann. Solange du nicht Teil ihres Wahns bist, bist du ihr Gatekeeper in diese Welt.«
»Sollten sich die Patienten das nicht selbst aussuchen?«
»Konntest du dir aussuchen, mit wem du heute Nachtdienst hast?«, entgegnete er, »Ich nicht. Aber das ist normal, dass wir oft keine Wahl haben. Und an eben dieser Normalität müssen wir die armen Teufel orientieren, die zu uns kommen.«
Tamara kam von der Untersuchung zurück und bat Walter, Frau Barabas ein Bett zuzuweisen. Dann nahm auch sie sich eine Tasse Kaffee und setzte sich. Ich sah, wie sie zitterte.
»Ist was passiert?«, fragte ich, noch immer über die Medikamentendispenser gebeugt.
»Nein, sie war ganz friedlich.«
»Bei den Polizisten aber anscheinend nicht.«
»Naja, die waren auch nicht gerade freundlich mit ihr. Was man ihnen aber nicht verdenken kann.«
»Was hat denn eigentlich zur Zuweisung geführt?« Dummerweise hatte ich den Bericht des Amtsarztes nicht gelesen, bevor ihn Tamara an sich nahm.
»Nun, sie ging in den Supermarkt, hat sich hundert Dosen Katzenfutter in den Wagen gelegt und bei der Kasse konnte sie nicht bezahlen. Stattdessen zog sie ein Beil aus der Tasche und bedrohte damit die Kassiererin. Die rief die Polizei und die wieder ging zu ihr in die Wohnung. Frau Barabas ist ja im ganzen Viertel bekannt. Und dort wurden die Beamten noch im Stiegenhaus von ihr mit einem vollen Eimer Fäkalien überschüttet.«
Ich konnte mir ein Lachen nicht verkneifen. Auch Tamara grinste. „Dann hat sie die drei Polizisten noch verprügelt und den Einsatzwagen kaputtgetreten!“
„Wahnsinn, was für Kräfte in so einem Raptus frei werden« merkte ich an.
»Ja, du sagst es. Wahnsinn. Aber dafür gibt es ja uns.«
Walter kam zurück. »Sie schläft jetzt. Hast du gut gemacht Frau Doktor.«
Tamara sah ihn an, als würde er mit einer anderen reden.
»Und, was machen wir jetzt mit ihr?«, fragte Walter weiter, »Same proceder like every time, oder was?«
»Nein, diesmal nicht«, sagte sie bestimmt, »Wir werden sie nicht wieder herrichten und nach Hause schicken. Wir können sie nicht mehr herrichten. Sie wird sterben. Und zwar bald.«
Wir sahen sie befremdet an. »Woran?«, fragte ich.
»Sie hat Brustkrebs. Offensichtlich schon seit Monaten. Er ist bereits perforiert. Ich gebe ihr keine vier Wochen mehr.«
Wir schwiegen eine Minute, dann fragte Walter: »Und du willst sie wirklich hierlassen, bis es soweit ist?« Tamara nickte.
»Das wird Scholz nicht gefallen. Wir sind keine Palliativstation, wird er sagen«.
»Das ist mir egal, was er sagt. Die Frau bleibt.«

Zur Diplomfeier kamen die sieben Samurai, so nannten wir die Oberpfleger der sieben Abteilungen des Krankenhauses. Als das Theater mit seinen Ansprachen und Lobhudeleien vorbei war und das Buffet gestürmt wurde, trat Swoboda zu mir.
»Ich hab mir deinen Akt angesehen. Gute Arbeit, Kollege.«
Ich nickte ihm zu. »Danke.«
»Willst du zu uns kommen? Wir könnten jemanden wie dich gut brauchen.«
»Jemanden wie mich?«
»Ja, einen Mann.« Sein Blick streifte über die anderen, von denen ein paar gerade versuchten, eine Magnumflasche Sekt zu öffnen, aber kläglich scheiterten. »Buben hab ich zuhause zwei.«
Ich musste grinsen. »Ja, ich hab auch zwei Kinder. Ist kein großer Unterschied zu hier.«
»Ich sehe, wir verstehen uns«, grinste er zurück, »Also?«
»Ja, warum nicht. Wann soll ich anfangen?«
»Mach noch ein paar Wochen Ferien mit deinen Kindern«, empfahl er, »Am ersten August kommst du dann zu uns.«
»Okay, erster August. Passt ausgezeichnet.«
Er klopfte mir noch auf die Schulter, dann ging er.

»Ein Krankenhaus kann nicht die Wohnadresse eines Menschen sein, Frau Kollegin«, legte Scholz seinen Standpunkt dar und zog die Augenbrauen hoch, was soviel hieß wie: Wenn hier irgendjemand widerspricht, fliegt er raus.
Tamara Schneider widersprach. »Sie wird sterben«
»Davon bin ich überzeugt«, sagte Scholz, »aber nicht hier auf meiner Abteilung. Die vier Suizide heuer haben uns ohnehin schon jede Statistik versaut. Wenn kein psychiatrischer Bedarf an Behandlung mehr besteht, entlassen Sie die Barabas.«
In Tamaras Augen standen Tränen. Vor Zorn oder Trauer, wusste ich nicht. Aber eher vor Zorn. Ich sah zu Swoboda, der neben mir saß und auf einem Block herumkritzelte.
»Nächster Fall«, forderte der Primar.
»Stopp«, sagte Swoboda und schob den Zettel von sich.
»Was soll das heißen, stopp?«, blaffte Scholz.
»Dass die Pflege noch nicht ihre Meinung dazu kundgetan hat.«
»Das wird aber meine Entscheidung nicht beeinflussen, Herr Oberpfleger.«
»Vielleicht doch«, sagte Swoboda ruhig, »Ich darf Sie hier auf Artikel 14 des Abteilungsleitbildes hinweisen, das wir alle, auch Sie, vor einem Jahr beschlossen haben. Ich zitiere: ›Fachärzte und Pflegekräfte entscheiden im Konsens über eine Aufnahme von Patienten. Kommt kein Konsens zustande, wird diese Entscheidung an das Führungsteam einer benachbarten Abteilung delegiert‹.«
Scholz wurde erst blass, dann dunkelrot. »Heißt das jetzt, dass Primar Siedermann, dieser Dilettant, Entscheidungen über meine Patienten trifft oder wie muss ich das verstehen?«
»Nur wenn Sie sich mit der Pflege nicht einigen können.«
»Aha? Und was sagt die Pflege zu dieser Angelegenheit? Soll die Barabas bleiben oder gehen?«
Na, das hätte er auch früher fragen können, dachte ich.
»Keine Ahnung«, sagte Swoboda, »ich war nicht dabei.«
»Also wer war von der Pflege bei dieser Farce anwesend?«
»Ich«, druckste ich hervor.
»Und, wie lautet ihre Meinung, Herr Pfleger?«
Ein Blick zu Swoboda, der nickte, dann sagte ich: »Frau Barabas soll bleiben.«

Das Wort Team ist nicht das Akronym für »Toll, Ein Anderer Machts«, sondern für »Together Everyone Achives More«. Team ist das Zauberwort für den Erfolg psychiatrischer Pflege. Sein Kernstück ist der Konsens, die übereinstimmende Meinung einer Gruppe. Ein Arbeiten, das nicht im Team erfolgt, wäre in der Psychiatrie sinnlos. Das therapeutische Team wird vom Patienten als kompakter sozialer Organismus wahrgenommen, als Orientierungshilfe, ein Leuchtturm, der ihm den Weg aus der permanenten Verwirrung weisen kann. Allerdings nur, wenn sich die therapeutische Gruppe als konsensfähig erweist. Was aber wiederum den Verzicht auf Hierarchien impliziert, genauso wie den Umstand, dass der Patient ebenfalls Teil dieses Teams ist.

»Danke«, sagte Tamara nach der Chefvisite zu mir.
»Ich danke dir«, antwortete ich, »für deinen Mut. Das ist nicht selbstverständlich.« Ihr Nicken gab mir recht.
Natürlich hatte Scholz klein beigegeben. Ehe würde er sich selbst ins Netzbett legen, als seinem Intimfeind Siedermann die Entscheidung über Aufnahmen in seiner Abteilung überlassen. Es war ein kluger Schachzug von Swoboda gewesen. Wir hatten Zeit gewonnen. Drei Monate, so lang war die maximale Aufenthaltsdauer in der Akutpsychiatrie. Entweder wurden dann die Patienten in ein ambulantes Setting weitergegeben oder sie kamen auf die Langzeitstation. Bei Frau Barabas würde keines mehr davon in Frage kommen.
»Wie geht es ihr heute?«
»Den Umständen entsprechend gut«, sagte ich, »Sie ist ruhig, nimmt das Haldol, nur das Vendal lehnt sie ab. Sie scheint aber keine Schmerzen zu haben.«
»Da irrst du dich. Sie hat welche, glaub mir. Aber sie hat schon bei der Aufnahme gesagt, dass sie keine Analgetika will.«
»Und warum nicht?«
»Weil ihr süßer Herr Jesus auch kein Morphium bekam, als er am Kreuz hing. Das war ihr Argument.«
»Ach du Scheiße. Dann hoffe ich, dass das Haldol sie auch in dieser Hinsicht zur Vernunft bringt.«
»Glaub ich nicht. Sie hat überhaupt keine Anzeichen eines psychotischen Schubes.«
»Und die Geschichte im Supermarkt?»
»Ich weiß nicht. Das passt so gar nicht in ihr Wahnsystem. Völlig untypisch. Als hätte sie das ganze inszeniert, nur um zu uns zu kommen.«
Wir schwiegen eine Weile, dann sagte Tamara: »Ich glaube sogar, dass ihre Schizophrenie schon ausgebrannt ist.«
»Du meinst ein klassisches Residuum? Dann wäre sie ein Fall für die Gerontopsychiatrie und sollte gar nicht bei uns sei.«
»Ich weiß«, gab sie zu.
»Aber Scholz weiß es nicht«, stellte ich grinsend fest. Mir war das nur recht. »Du hast deinen Boss belogen.«
»Ich bin Katholikin«, grinste sie zurück, »am Sonntag gehe ich zur Kirche und beichte meine Sünden.«
»Es gibt keine Sünden, Frau Doktor.«
»Oh doch, Herr Pfleger. Es gibt Sünden. Mehr als genug.«
»Apropos Sünde«, fügte ich an, »ich würde gerne Cindy zur Rate ziehen, die Wundmanagerin. Was hältst du davon?«
»Gute Idee«, sagte sie, »aber frag vorher Frau Barabas, ob sie das auch will.« Dann ging sie zur nächsten Visite.

Größtmögliche Adhärenz ist es, die wir anstreben, nicht nur Compliance. Denn diese bezeichnet bloß die Bereitschaft des Patienten zu kooperieren. Adhärenz jedoch bedeutet, dass er aus freien Stücken sein gesamtes Verhalten an die vereinbarten Empfehlungen anpasst. Wie sollte das anders möglich sein, als dass er uns vertraut. Und wie sollte er uns vertrauen, wenn wir ihm nicht offen, empathisch und kongruent begegnen?

»Hier, die Krankengeschichte der Barabas«, sagte der Zivi und legte mir drei Aktenordner hin, um die ich ihn ins Archiv geschickt hatte. »Das ist alles seit ihrer ersten Aufnahme.« Ich starrte auf gefühlt tausend Seiten und seufzte.
»Was willst du denn wissen?«, fragte Walter.
»Naja, das Wichtigste halt.«
»Kann ich dir auch so sagen.»
»Na dann schieß mal los, du wandelndes Lexikon.«
»Geboren 1939, in Wien, bürgerliches Haus, Vater Arzt, Mutter Hausfrau. Beruf ausgebildete Opernsängerin, Sopran. Galt in den sechziger Jahren als die österreichische Callas, sowohl was ihre Stimme betraf als auch ihre Allüren. Hatte angeblich was mit ›nem Typen der mit der RAF in Verbindung stand. Die erste Rolle, die sie hatte, und gleichzeitig auch ihre letzte war Tosca. Kennst du Tosca? Musst du dir mal geben. Als hätte Puccini diese Oper nur für die Barabas geschrieben. Jedenfalls sang sie noch die Premiere, während draußen schon die Staatspolizei auf sie wartete, um sie zu ihrem Gspusi einzuvernehmen und die Presse wetzte die Messer für das große Schlachten. Aber Hilde Barabas kam nicht mehr zurück.«
»Was heißt das? Ist sie geflüchtet?«
»Ja, so könnte man es auch sagen. Sie flüchtete in die Tosca. Kam einfach nicht mehr aus der Rolle raus, hat sich komplett mit der Figur identifiziert. Du solltest dir die Oper wirklich mal ansehen. Natürlich glaubte ihr erst niemand, jeder dachte, sie spielt nur verrückt. Auch als sie sich aus einem Fenster am Polizeikommissariat stürzte, wie die Tosca im Stück von der Engelsburg, dachte keiner dran, dass sie tatsächlich wahnsinnig geworden war. War sie aber doch. Ja und dann kam die übliche Psychiatriekarriere quer durch den Gemüsegarten der Siebziger und Achtzigerjahre. Von der Elektrokrampftherapie bis zum Insulinschock hat die alles schon erlebt. Eigentlich ein Wunder, dass sie es so lange durchgehalten hat.«
»Paranoid halluzinatorische Schizophrenie, Erstdiagnose 1974, seither multiple rezidivierende Schübe mit teils heftigen Aggressionsdurchbrüchen«, las ich vor.
»Die hörten aber irgendwann mal in den letzten Jahren auf. Dann entwickelte sie diesen religiösen Wahn, Gott kam ins Spiel, wenn man so will, oder ihr süßer Jesus, was weiß ich. Jedenfalls ist sie nicht mehr das, was sie mal war, obwohl sie es natürlich noch recht gut kann, wie wir ja gesehen haben.«
Ich blätterte mich durch die Krankengeschichte der letzten beiden Aufenthalte. Der letzte war erst vor einem Jahr gewesen. Was ich suchte, fand ich aber nicht.
»Hat die nie jemand internistisch untersucht? Oder gynäkologisch? Brustkrebs wird schon früh erkannt, aber hier finde ich nichts. Noch nicht mal Blutdruckwerte.«
»Gynäkologisch untersucht?«, fragte Walter ungläubig, »Die Barabas? Du hast wirklich keine Ahnung, Klassenprimus! Erstens lässt die ohnehin keinen ran an sich, außer vielleicht die Schneider, und zweitens hat unser Krankenhaus für sowas gar nicht die Ressourcen. Wir müssen sparen, verstehst du doch.«
Tamara Schneider war eine gute Ärztin. Ihre Diagnosen waren zu hundert Prozent mit jenen überein, zu denen auch andere Psychiater kamen, ihre Therapien waren effektiv, ihre Prognosen immer zutreffend. Fast immer. Nur einmal irrte sie sich. Bei Hilda Barabas. Aus den vier Wochen, die Tamara ihr gegeben hatte, wurden sechs, dann acht und schließlich zehn. Als Scholz darauf drängte, Hilda Barabas in ein anderes Setting zu entlassen, verweigerte Tamara erneut. Scholz verzichtete auf eine weitere Diskussion und wandte sich direkt an Raffael, den ärztlichen Direktor des Krankenhauses.

Professor Raffael, der bei uns Psychiatrie unterrichtete, war ein untersetzter 60-Jähriger, der jederzeit als Hauptdarsteller für einen Film über Sigmund Freud durchgegangen wäre. Stets mit Anzugweste und hochgeknöpften weißen Mantel pflegte er seinen Unterricht in Doppelstunden zu halten, stehend und im ruhigen Ton die schwierigsten Themen seines Faches in endlos langen Schachtelsätzen abzuhandeln. Seinen Vorträgen zu folgen, erforderte ein explizit hohes Maß an Konzentration und Aufmerksamkeit, an dem die meisten meiner Kommilitoninnen scheiterten. Er war ein hervorragender Lehrer, neben Steininger der beste, den ich je hatte. Aber was Professor Raffaels Qualität ausmachte, war nicht die ungeheure Menge Wissen, das er angesammelt hatte und ihm jederzeit auf Abruf zur Verfügung stand, sondern der tiefe Humanismus dahinter.
Nachdem sich Scholz bei Raffael über die Insubordination Tamara Schneiders beschwert hatte, wurde sie ins Direktorat gerufen. Sie ging mit erhobenem Haupt, wissend dass sie sich nichts vorzuwerfen hatte, dass sie nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt hatte. Und mit ebenso erhobenem Haupt kam sie kurz danach zurück, nun auch wissend, dass ihr vom Leiter der Anstalt nichts vorgeworfen wurde.
»Frau Barabas bleibt«, sagte sie nur. Mehr nicht. Und mehr wurde auch nicht mehr darüber gesprochen.
Einige Tage später kam Scholz wieder mal auf Chefvisite auf unsere Station. Ich war gerade mit einer Patientengruppe in einer Gesprächsrunde zugange, an der auch Hilda Barabas teilnahm. Eine Seltenheit, wenn man es genau nahm, vielleicht sogar das erste Mal überhaupt, ich weiß es nicht mehr. Ich weiß nur, dass sie in einem weichen Lehnsessel saß, wie eine dünne, bleiche, fast durchsichtige Königin, und den Wortmeldungen der anderen Patienten zuhörte, ohne diese zu kommentieren, aber stets mit diesem ironischen Lächeln im Gesicht, als wüsste sie Dinge, über die andere Menschen nur Mutmaßungen anstellen konnten.
Wie immer platzte Scholz ohne Vorwarnung oder Klopfen in den Raum, sah sich um und machte irgendeine Bemerkung, die eben nur dazu diente, sich bemerkbar zu machen, zu zeigen, dass er der Chef war, der über alles Bescheid wusste und über alle entscheiden konnte. Wir sprachen gerade über das bald anstehende Weihnachtsfest und wie dies in den Familien der Patienten gefeiert wurde. Fritz Drbout, ein Alkoholiker, der eben seinen körperlichen Entzug hinter sich gebracht hatte, war am Wort, aber brach den Satz, zu dem er gerade ansetzen wollte, ab, als sich die massige Gestalt des Primars in den Raum schob, und konnte kein Wort mehr sagen.
»Reden Sie nur weiter«, forderte ihn Scholz forsch auf, »oder ist auch schon der Rest Ihres Kurzzeitgedächtnisses dem Alkohol anheimgefallen?«
Natürlich brachte Drbout kein Wort mehr heraus. Wohl aber Hilda Barabas, die sich Scholz zuwandte: »Und, Herr Primarius, was sagen Sie als Unbeteiligter zum Thema Intelligenz?«
Das Gelächter der Patientenrunde ließ keine Antwort von Scholz mehr zu. Er stand auf und ging grußlos. Mehr noch: kam nie wieder in die Gesprächsrunden, solange Hilda Barabas an einer solchen teilnahm. Er fehlte niemand.

Weihnachten kam und ging, Hilda blieb. An der Feier am Heiligabend wollte sie nicht teilnehmen. »Was soll ich mit dem Pfaffen?«, sagte sie, »Mein süßer Herr Jesus hat ihn doch schon aus dem Tempel getrieben!« Also ließen wir sie. Nach der Feier ging Tamara zu ihr und las ihr das Weihnachtsevangelium vor. Ich hörte zu und blieb bei Hilda, bis sie eingeschlafen war. Als Tamara ging, berührte sie meine Schulter.
„Auch dir eine gesegnete Weihnacht“, sagte sie.
Ich lächelte müde. „Danke, aber ich glaube nicht an Gott.“
„Das weiß Jesus“, sagte Hilda, „macht ihm aber nichts.“

Der Jänner kam und ging. Hilda stand nicht mehr aus dem Bett auf und wir verzichteten ihm stillen Einvernehmen, sie in den großen, weichen Stuhl zu setzen. Der Geruch des ulzerierenden Karzinoms wurde unerträglich. Mathilde, die Einzige, von der sich Hilda waschen ließ, gab sich Lavendelöl auf die Oberlippe, um den Gestank auszuhalten. Mich störte er nicht.
Wir litten unter Hildas Leiden. Nicht mehr als sie, nein, aber die Ohnmacht, die mit dem Respekt vor ihrer Entscheidung, kein Morphium zu nehmen, einherging, machte uns mürbe. Von ihr hingegen kam kein Wort des Klagens. Nur wenn sie schlief, stöhnte sie manchmal auf und der Schweiß auf ihrer Stirn glitzerte, wie eine Krone aus tausend kleinen Sternen.
Jemand hatte einen CD-Player aufgetrieben und einen Sampler aus Liedern der Tosca, die wir ab und zu vorspielten. Dann lächelte Hilda.
Ich kam an meinen Grenzen. Als wir in der Supervision über Hildas Sterben sprachen, sagte ich, dass ich ihr am liebsten das Polster ins Gesicht drücken würde, weil ich ihr Leiden nicht mehr auf die Reihe bekam. Niemand war entsetzt darüber.

Es ist nicht die Frage, ob Sie so leben möchten, wie dieser Mensch leben will, sondern ob er so leben kann und wenn, wie Sie ihm dabei helfen können.

Ich wollte ihr einen Wunsch erfüllen. Den Letzten, den sie hatte. Aber hatte sie überhaupt noch einen?
»Ja«, sagte sie, »aber das wirst du nicht können, Burschi!«
»Unsinn«, behauptete ich, »Alles denkbare ist möglich und alles Mögliche ist durchführbar!« Weiß der Teufel wo ich diese Binsenweisheit her hatte.
Hilda lächelte. Eine seltsame Mischung aus Besserwissen und Mitleid mit mir lag in diesem Lächeln.
»Wenn du meinst.«
»Also los, was ist es, Frau Barabas. Was wünschen Sie sich?«
»Frische Marillen.«
Lächerlich, dachte ich und sagte: »Gut. Bekommen Sie.«
Es war der 4. Februar.

Ich fuhr zum Naschmarkt. Zum Karmelitermarkt. Zum Viktor-Adler-Markt. Zum Kutschker Markt. Zum Meisl Markt.
Ich ging zu Billa, zu Spar, zu Hofer und zu Meinl am Graben.
Ich lief eine Woche lang sämtliche Feinkost- und Delikatessenläden in Wien ab.
Ich bekam Marillenmarmelade, Marillenkompott, Marillenröster, Marillensaft und gedörrte Marillen.
Ich bekam keine frischen Marillen.
Es war der 11. Februar, als ich aufgab.
Hilda lächelte. »Dummer Bub«, sagte sie, »Wo ich hingehe, wird mein süßer Jesus mir frische Marillen bringen. Aus dem Garten Eden. Soviel ich will.«
Zwei Tage später starb sie.

Ich hatte Nachtdienst. Tamara auch. Bei meinem Rundgang um Mitternacht merkte ich an ihrer Atmung, dass es nicht mehr lange dauern konnte, und rief Tamara an. „Willst du dabei sein?“
„Ich muss“, sagte sie und kam.
Zwei Stunden später erwachte Hilda aus ihrer Agonie. Für einen Moment atmete sie ganz normal.
»Hilf mir aus dem Bett, Burschi.«
Wir wankten aus dem Zimmer, Tamara sah uns, kam auf uns zu und Hilda fiel in ihre Arme.
»Jetzt«, sagte sie.
Tamara setzte sich auf einen Stuhl vor Hildas Zimmer. Nahm sie auf den Schoß, Hilde umarmte sie, lehnte sich zurück.
»Er ruft mich!«, sagte sie. Dann sackte sie zusammen, ihr Kopf fiel nach hinten.
Ich trat ein paar Schritte zurück und sah die beiden an.
Die Pieta, dachte ich. Michelangelos Pieta! Denn genauso sahen sie aus, Tamara und Hilda, auf diesem orangenen Plastikstuhl in diesem schwach beleuchteten Gang dieses Jugendstilkrankenhauses am westlichen Rand dieser Stadt. Als ich merkte, wie mir Tränen übers Gesicht liefen, drehte ich mich nicht um.
Wie gerne hätte ich gehabt, dass sie in meinen Armen gestorben wäre, dass ich jetzt so dasaß mit ihrem leichten, dünnen Körper am Schoß. Immerhin es wäre ja denkbar gewesen. Es wäre sogar möglich gewesen, dachte ich. Aber nicht machbar.

Wir begruben Sie drei Tage später am Zentralfriedhof. Ein Armengrab, da es keine Angehörigen und kein Vermögen gab. In fünf Jahren würde sie exhumiert und was von ihr dann noch übrig war, verbrannt werden.
Außer Tamara und mir war niemand dabei. Ich hatte den CD-Player mitgenommen und ließ Maria Callas »Vissi d‘ arte« aus der Tosca singen. Über einen klaren Himmel zog ein Schwarm Saatkrähen. Darunter eine einzelne Taube.

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Und irgendwo im Universum sitzt ein Gott, den es nicht gibt, auf seinem Wolkenthron und wischt sich mit einem Tuch, gewebt aus vergessenen Träumen, eine Träne von der Wange, die nicht existiert.

Wundervoller Text & wirklich tiefen Respekt.

Michel

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Lieber Gschichtldrucker, das ist eine sehr sehr schöne Geschichte. Nur eine Sache stimmt nicht, Du hast gesagt, Du konntest die Geschichte nicht fertig schreiben, weil Du dann zugeben müsstet, dass Ihr Hilda nicht retten konntet. Aber - genau das habt Ihr doch. :heart:

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Vielleicht brauchte ich dazu erst dich, @HannahK . Denn um sie wirklich zu „retten“ musste ich die Geschichte fertig schreiben.

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:kissing_heart:

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ich musste leider abbrechen. Vor einem Jahr habe ich meine Mutter in den Krebstod begleitet, kurze Zeit davor meine Schwiegermutter - kann ich nicht drüber lesen. Aber bis dahin war es auf jeden Fall sehr gut geschrieben.

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Ich verstehe dich gut. Auch meine Mutter starb an Krebs und ich hab drei Jahre gebraucht, es zu realisieren. Fühl dich umarmt.

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Sehr starker Satz - und so wahr.

Und noch so viele weitere brilliante Sätze und Weisheiten.

Danke für’s Teilen dieser Geschichte, diesem Stück Leben. :dizzy:

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