Heinemann
Heinemann spuckte auf das Leder und wienerte mit einem Lappen die Oberfläche seiner schwarzen Schuhe.
Er stellte die Schuhe unter die Garderobe im Flur und wandte sich mit erhobenen Zeigefinger an die Schäferhund Schnauzer Mischung.
Der Hund legte sich auf den Boden, die Beine zum Sprung bereit, den unwiderstehlichen Blick auf sein Herrchen gerichtet und mit dem Schwanz auf den Boden trommelnd.
Heinemann ging in die Küche und bereitete sein Frühstück. Toast, Ei, Marmelade und etwas Käse. Heute Kaffee statt Tee. Koffeinfreier Kaffee; sein Herz.
Während er kaute, überlegte er den heutigen Tagesablauf. Was würde er zuerst erledigen wollen oder müssen?
Unter der Dusche passierte nichts, außer, dass der Abfluss mit Haaren verstopfte. Graue Haare. Seine Haare.
Es fand sich lange kein blondes oder schwarzes Haar im Becken.
Diese Zeiten hatten sich gelegt. Geändert. Bis vor kurzem hatte er noch Bedürfnisse. Was blieb, sind Hemmungen und Bammel vor dem Versagen.
Heinemann marschierte zur Agentur für Arbeit. Er wartete die sinnlose Zeit geduldig ab. Dann kam die regelmäßige Erfahrung.
Zu nichts mehr zu gebrauchen. Abgewirtschaftet. Ein bedeutungsloses Leben gelebt. Abgezupft wie die Tagesblätter an einem Abreißkalender.
Heinemann hatte keine Wut mehr. Vor dem Amt zündete er sich eine Zigarette an. Und suchte den direkten Weg in sein Stammlokal.
Eine Gewohnheit, die er in früheren Jahren nicht kannte. Es hatte sich alles verändert.
Heinemann fand die, die er hier immer findet. Sie saßen am Tresen und schwiegen sich aus. Keiner hatte genug Alkohol um den anderen ein Gespräch zu sagen.
Der Laden war eine der Raucherkneipen die in Hamburg spärlich gesät waren. Hier konnte man den Feierabend genießen oder seine Arbeitslosigkeit.
Heinemann bestellte, was er immer bestellte. Ein Bier und einen Jägermeister. Er hatte heute nichts mehr vor, da durfte er schon mal einen Frühschoppen ansetzen. Lisa war blond aber nicht echt. Sie brachte ihm sein Gedeck.
Siggi war der erste. „Der HSV spielt nur noch Scheiße!“, grölte er in die Runde. Keine Reaktion. „Die sollten den Trainer zum Teufel jagen!“, rülpste er hinterher.
Heinemann bestellte das zweite Gedeck. Lisa legte die Zigarette zur Seite und betätigte den Zapfhahn. Den Jägermeister trank er vorweg. War magenfreundlicher. Dann das kalte Bier.
Siggi warf die Musikbox an; Kevin Keagen „Head over heels in love“
„Das waren noch Zeiten!“, plärrte Siggi. Die anderen stöhnten und bestellten. „Neunundsiebzig; HSV Deutscher Meister. Man, man man. Was sind das heute für Luschen!“ Siggi kam in Fahrt.
Heinemann bezahlte und ging.
Als er auf der Straße stand, hörte er den Knall von drinnen. Er sah durch die Scheibe der Kneipe und konnte Siggi sehen, wie er sich mühsam wieder auf seinen Hocker zog. „Der ist jetzt schon knülle!“, sagte Heinemann leise, den Kopf zum Gehweg gesenkt.
Er musste nach Hause und mit dem Hund raus. Der kotzt und scheißt sonst die ganze Wohnung voll. Blödes Vieh.
Wolfgang sprang ihn an. Es sollte wohl Freude ausdrücken oder der Wunsch, endlich die Blase und alles andere entleeren zu können.
Ein paar Straßen weiter, war die Hundewiese.
Heinemann setzte sich auf eine Bank und der Hund konnte nach Herzenslust kacken. Wolfgangs Freundin war auch da. Erst mal der Versuch sie zu poppen. „Na, das war wohl nichts!“, rief er Wolfgang zu. Eine Frau, Mitte, Ende, vierzig, die eine Bank weiter Zeitung las, schüttelte den Kopf. Sie schien empört. Heinemann grüßte freundlich. Die Frau hielt ihm den Wirtschaftsteil der Zeitung entgegen.
Wolgang war weiterhin bemüht es der zickigen Pudeldame zu besorgen. Eigentlich war es gar nicht seine Freundin. Er wollte nur immer das Eine. Männer eben.
Heinemann musste lachen. Sein Wolfgang hatte soviel menschliches an sich. Es war eine Pracht.
Die Frau mit der Zeitung rief ihren Pudel und verließ das Areal. Wolfgang stand da und sah in Richtung der Abwandernden. „Bis morgen!“, rief Heinemann hinterher. Damit hatte er der Alten den Tag versaut. Das war sicher.
Wolfgang lief vergnügt über die Wiese und machte ein auf ‚ich freue mich so, ein Hund zu sein!‘
Drei Wochen später hatten die Mediziner das Ergebnis der Untersuchung. Heinemann hatte einen Termin bei einem Lungenspezialisten in Hamburg-Poppenbüttel.
Ein Bronchialkarzinom erfuhr Heinemann. Der Arzt war trocken in seiner Aussage. Einen leichten Sprachfehler konnte er nicht verstecken. „Lungenkrebs?“, war Heinemanns Reaktion.
Derweil wiederholte der Herr Doktor jedes Wort mindestens zweimal. Die Verkündung der Diagnose dauerte also etwas länger.
Fünf Tage später wurde ein Termin in einer Lungenklinik in einem kleinen Dorf bei Hamburg vereinbart. Dort sollte er dann sein endgültiges Urteil erfahren.
Nachdem Heinemann die Untersuchungen über sich ergehen ließ und der erste Verdacht bestätigt wurde, übergab er sich auf der Gästetoilette.
Die Ärztin mit dem etwas zu deutlichen Damenbart saß ihm gegenüber und versuchte ein leichtes Lächeln.
„Wir werden operieren!“, sagte die Frau und hoffte auf eine Reaktion von Heinemann.
„Wir werden einen Teil der Lunge entfernen müssen. Das soll sie aber nicht weiter beeinflussen. Sie werden weiter Leben können wie bisher!“ Heinemann saß da und versuchte der Ärztin zu folgen. Die Frau stand auf und lief vor ihm auf und ab, während sie ihrem Bericht abgab.
Heinemann fand, dass die Figur der Frau doch etwas missraten war. Die Beine waren zwar lang, aber der Arsch hatte eine merkwürdige Form. Es hatte den Anschein, als sei der Oberkörper auf die Beine gesteckt worden. So wie man Legosteine zusammen steckt. So wie der Kopf auf den Oberkörper gedreht wurde.
Zwei Stunden später, kam die nächste Nachricht von Frau Doktor Ost. Sie meinte, der Tumor sei Inoperabel, weil sich im Nachbargewebe der Lunge Metastasen gebildet hatten.
Frau Ost, war von Kopf bis Fuß in weiß gekleidet. Zur weißen Hose, trug sie weiße Sportschuhe und einen weißen Kittel, über einem weißen Shirt. Sie ging leicht vorn über gebeugt, wobei sie ihren Arsch heraus streckte.
Heinemann versuchte etwas bei dem Anblick zu empfinden. Doch rührte sich nichts bei ihm. Alleine die Nachricht hatte bewirkt, dass er bereits ein Stückchen gestorben war.
„Die Metastasen müssen von den anderen Ärzten auf den Bildern übersehen worden sein!“, sagte sie im hinaus gehen.
„Das kann vorkommen!“, sagte Heinemann und versuchte ein Grinsen. Frau Doktor lachte lauthals zurück. So, als habe er den Witz der Woche erzählt.
Wolfgang nahm die Nachricht ohne Reaktion auf. Er musste raus. Die Leine hing an der Garderobe und auf der
Hundewiese war wieder diese blöde Pudeldame, die sich von
Wolfgang nicht besteigen lassen wollte.
Wolfgang legte der Zicke ein Stöckchen vor die Pfoten in der Hoffnung, dass sie dieses Geschenk annehmen werde.
Noch bevor die Hundedame reagieren konnte, hörte Heinemann die Stimme der Frau: „Untersteh dich!“ Rief sie ihrer Töle zu. Diese schien beeindruckt und mied das Geschenk des großen Charmeurs.
Das selbst für einen geduldigen Hund wie Wolfgang zu viel. Er drehte sich um und rannte wie blöd über die Wiese immer hin und her. Heinemann saß auf einer Bank, hatte den Kopf in die Hände gestützt und sah seinem Hund zu.
Nur gut dass die Viecher nicht wissen, dass sie sterben müssen. Dachte er und holte ein Taschentuch aus seiner Jacke.
Nach einer halben Stunde rennen, kam Wolfgang angetrottet und legte sich vor die Bank.
„Ich muss morgen wieder ins Krankenhaus!“, sagte Heinemann mit einem zittrigen Unterton in der Stimme zu Wolfgang.
Dieser hob den Kopf und sah ihn mit seinen unendlich traurigen Augen an.
„Es müssen noch Untersuchungen gemacht werden. Weißt du, ich habe Krebs!“ Der Hund regte sich nicht.
„Wahrscheinlich werde ich bald sterben!“ Der Hund regte sich nicht. „Wir müssen ein neues Herrchen für dich finden!“ Der Hund regte sich nicht.
„Lass uns Futter kaufen gehen!“ Der Hund sprang auf und lief wie ein verrückter im Kreis herum.
„Du denkst nur ans Fressen du blöder Hund!“, reagierte
Heinemann richtig sauer. „Ich bin dir vollkommen egal!“
Wolfgang bellte ihn an.
„War das jetzt ein ja?“, sagte er völlig eingeschnappt.
Zehn Tage würde er in der Klinik bleiben müssen, bis alle Untersuchungen abgeschlossen sind und die Ärzte wissen, wie sie weiter verfahren.
Heinemanns Bettnachbar hieß Karl-Heinz. Der hatte auch Lungenkrebs und kaum noch eine Stimme. Armer Kerl. Dachte er.
„He Heinemann!“, krächzte der Nachbar. „Es wird langsam Frühling. Meinst du wir erleben Weihnachten noch?“
„Ich schon!“, sagte Heinemann ohne zu überlegen. Der andere grollte etwas und war dann still.
„Wie meinst du das, - ich schon?“, fing Karl-Heinz nach einigen Minuten unvermittelt an. Heinemann hatte keine Lust derartige Gespräche zu führen. „Ich meine gar nichts!“, sagte er in einem gereizten Ton.
„Du musst doch einen Grund haben, so etwas zu sagen!“, blieb der Nachbar stur.
„Ich mache mir so meine Gedanken!“, sagte Karl-Heinz. „Ich habe innerhalb weniger Wochen zehn Kilo abgenommen. Das gibt mir schon zu denken!“, sagte Karl-Heinz. Heinemann blieb still. Er wollte nichts sagen.
Der Andere blieb dran; „ich werde vor dir sterben!“
Heinemann stand auf und verließ das zimmer. Das hält doch keine Sau aus.
In der Cafeteria setzte er sich an einen Tisch am Fenster und las eine Tageszeitung.
Am Tisch hinter sich hörte er das Räuspern einer Frau. Er drehte sich um und erkannte das Frauchen der Pudelzicke. Sie sahen sich eine Weile an und sie begann: „Was machen sie denn hier?“ „Untersuchungen!“, antwortete Heinemann. „Und sie?“, kam die berechtigte Frage zurück. „Ich habe heute meine dritte Chemo!“, sagte die Frau und sah ihn mit großen Augen an. „Das tut mir Leid!“, kam die blöde und überflüssige Bemerkung von Heinemann.
„Ich hatte mich auf der Hundewiese unmöglich benommen!“, meinte Heinemann kleinlaut.
„Machen sie jetzt auf Mitleid?“, kam die Frage.
„Nein, nein!“, beeilte sich Heinmann zu sagen. „Ich meine nur, Wolfgang hat ein überschwängliches Temperament!“
„Er steht nun mal auf Pudel!“
„Die Frau sah verträumt aus dem Fenster zur Terrasse der Cafeteria. Sie schien nichts mehr wahr zu nehmen.
Unvermittelt stand sie auf und verließ den Raum. Heinemann sah ihr hinterher.
Wolfgang freute sich. Zehn Tage waren eine lange Zeit. Obwohl Hunde angeblich kein Zeitgefühl haben.
Das Tierpensionat war freundlich und Heinemann hatte das Gefühl, als hätte es sein Hund hier gut gehabt.
Bisher hatte er den ersten Zyklus der Chemotherapie gut vertragen. Fast acht Stunden wurden ihm die Zytostatika in die Vene gepumpt. Das Gift sollte den Tumor vernichten.
Den Teufel mit Belzebub austreiben, sagte sich Heinemann.
Welch ein Schwachsinn.
Im Internet suchte er nach Einträgen zu Lungenkrebs. Es gab jede Menge davon. Es schien, als hätten die Menschen nichts anderes zu tun, als über Lungenkrebs zu schreiben.
Alles was da stand, sah nicht gut aus. Sein Krebs schien schon weiter fortgeschritten. Keine halbe Sachen. Er würde sterben. Das war ihm klar.
Wolfgang hatte es sich vor dem Sofa gemütlich gemacht. Heinemann liefen die Tränen die Wangen runter. Er tat sich Leid. Warum er? Blöde Frage sagte er sich und wischte sich die Tränen ab.
An diesem Wochenende blieb Heinemann fast den ganzen Tag im Bett. Er wollte den Tag nicht sehen. Er konnte es nicht ertragen, dass sich alles geändert hatte und trotzdem alles seinen gewohnten Gang ging. So, als hätte die Welt seine Not nicht registriert.
Der Hund musste einige male raus. Das war das Wenigste.
Tage später, saß er wieder auf seiner Bank auf der Hundewiese. Von weitem konnte er die Pudelzicke sehen. Auch Wolfgang hatte sie bereits wahrgenommen.
Die Frau setzte sich neben ihn auf die Bank. Heinemann wusste nicht so recht was er mit dieser Situation anfangen sollte.
„Und?“, kam die Frage von der Frau. „Ich habe meine erste Chemo bekommen. Es war grausam!“, sagte Heinemann mit einer gehörigen Portion Traurigkeit in der Stimme.
„Mein Tumor ist gewachsen. Nach der vierten Chemo ist der Tumor trotzdem gewachsen!“, sagte die Frau und warf den Kopf in den Nacken um den Himmel zu betrachten. So, als sehe sie sich ihren zukünftigen Wohnsitz an.
„Das tut mir sehr Leid!“, sagte Heinemann wieder. Er wollte sich im selben Moment Ohrfeigen für diese alberne Bemerkung.
Währenddessen hatte Wolfgang es endlich geschafft. Er hatte die Pudeldame bestiegen und zeigte ihr wo der Bartel den Most holt.
„Kann es denn nicht sein, dass ein Tumor auch mal schrumpft?“, fragte Heinemann recht arglos.
Die Frau sah ihn an und meinte: „Es kann sogar vorkommen, dass ein Tumor ganz verschwindet!“
Wolfgang kam angerannt und wedelte wie verrückt mit dem Schwanz. Die Pudelfrau lag in einiger Entfernung im Gras und machte einen mitgenommenen Eindruck.
„Ihr Hund hat doch nicht etwa…?“ „Doch er hat!“, meinte Heinemann nebensächlich. „Also das ist doch die Höhe. Während sie mich hier ablenken vergeht sich Ihre Promenadenmischung an meiner Edeltraut vom Stein.“
„Na!“, sagte Heinemann. „Dann werden sie sich wohl auf einige Kieselsteine einstellen müssen.
„Wir sehen uns in der Klinik!“ Sie verschwand wie sie gekommen war. Ohne Gruß. Mit einem Blick voller Abneigung.
Arroganz schimmerte in ihrer Art. Heinemann begann gefallen an ihr zu finden. „Wir sehen uns in der Klinik!“, rief er ihr noch hinterher.
„Wolfgang, du bist halt ein Draufgänger!“ Zufrieden verließ Wolfgang die Wiese. Er drehte sich öfters zu seinem Herrchen um mit einem Ausdruck in den Augen als wolle er sagen, ‚du hast es ja noch nicht mal versucht. Anfänger!‘
Die zweite Chemo drei Wochen später sollte nicht mehr so lange dauern. Doch die Schwestern in der Ambulanz waren nicht in der Lage, einen ordentlichen Einstich für eine Blutprobe hinzubekommen. Also verzögerte sich alles.
Dann endlich saß Heinemann in einem der Sessel, in einem Raum, in dem sich vier weitere Personen aufhielten, welche ebenfalls ein Stativ mit ein paar Flaschen daran hängen hatten. Die Schläuche führten zu den Venen der Leute oder zu einem Port. Der Raum zur letzten Hoffnung. Ihm wurde schlecht.
„Ich bekomme schon meine sechste Chemo!“, sagte unvermittelt eine Frau mittleren Alters die sich einen Platz am Fenster ausgesucht hatte. „So ein Port ist schon sehr praktisch. Muss nur regelmäßig gespült werden.“, sie zeigte mit einem gewissen Stolz den Zugang oberhalb ihrer rechten Brust. „Jetzt laufe ich schon über ein Jahr mit diesem acht Zentimeter Ardenokarzinom in mir herum! Eigentlich sollte ich schon längst tot sein.“ Die anderen schmunzelten. Heinemann schmunzelte aus Solidarität mit.
„Meine Freundin ist Heilpraktikerin. Die hat mir Gott sei Dank ein paar Mittel verschrieben. Die haben mir geholfen. Es geht mir gut! Die Ärzte wissen eben doch nicht alles!“ Heinemann wurde immer noch schlecht.
„Bei mir war alles weg und dann ist es umso heftiger wieder gekommen. Fünf Jahre kein Krebs. Jetzt bin ich wieder hier!“, sagte ein älterer Herr ihm gegenüber. Sein Haar war grau und sehr spärlich. Er sah Heinemann an und sagte: „Die wachsen wieder nach. Das ist das kleinste Problem!“
Daran hatte er gar nicht mehr gedacht. Die Haare werden ihm
ausfallen. Die Ärztin hatte ihn ausdrücklich darauf hingewiesen. Heinemann hatte alles ignoriert. Ich mit Glatze. Eine schauerliche Vorstellung. Wolfgang würde ihn wahrscheinlich zerfleischen.
Die Unterhaltungen gingen durcheinander. Das Eis war gebrochen. Die Schwestern, die Ärzte alle wurden in sinnlose Gespräche verwickelt. Es machte den Eindruck, als sei das alles nur ein Spiel. Und wenn sie fertig sind mit ihrer Infusion gehen sie nach Hause und leben ihr Leben weiter. So, als sei nichts geschehen.
Die Dame mit dem Port pries immer noch dessen Vorzüge an.
Der Alte, Heinemann gegenüber, erzählte von seinem letzten Urlaub in Griechenland und wie er acht geben musste sich nicht die Glatze zu verbrennen. Die Schwestern der Station korrigierten pausenlos irgendwelche Fehlsteuerungen der Medikamentenpumpen.
Alle redeten durcheinander. Jeder Sessel war besetzt. Alle hatten ihr Gift in Plastikflaschen an Stativen hängen.
Jeder war zum Tode verurteilt. Niemand sprach davon.
Die Frau neben Heinemann hatte sich Strickzeug mitgebracht.
„Für meine Enkelin!“, sagte sie mit einem gewissen Stolz in der Stimme als sie merkte, dass er sie beobachtete.
Gegen sechzehn Uhr war er wieder Zuhause. Wolfgang freute sich und Heinemann ging sofort mit ihm auf die Straße. Ihm war nach kotzen. Er musste sich beherrschen. Es sollte nichts nützen. Die nächste Einfahrt war seine. Während Wolfgang an die eine Ecke schiss, kotzte Heinemann an die andere.
Passanten die vorüber gingen, machten ihre Bemerkungen und Wolfgang knurrte.
Die Aprilsonne des nächsten Tages, scheuchte ihn aus dem Bett. Er duschte und fühlte sich eigentlich sehr wohl. Er frühstückte und ging dann mit Wolfgang in Richtung Hundewiese. Insgeheim hatte er die Hoffnung die Frau mitsamt Pudel zu treffen.
Heinemann setzte sich auf seine Stammbank und sah in die Runde. Es waren viele Menschen und eben so viele Hunde unterwegs. Die Sonne und die angenehmen Temperaturen sorgten für einen großen Auslauf.
Die fremde Frau war nicht zu sehen. Ebenso wenig der Pudel.
Wolfgang war sichtlich enttäuscht. Heinemann verschränkte die Arme vor der Brust und genoss die Sonnenstrahlen in seinem Gesicht. Die Wärme tat ihm gut. Er genoss diese Minuten der Ruhe. Seine Gedanken kreisten.
Heinemann nahm sich vor alles zu versuchen. Er wollte sich nicht auf die Ärzte verlassen. Bewusst leben. Jede Stunde genießen. Eigentlich war er nie der große Kämpfer, doch dieses mal musste es sein. Ihm war klar, dass er dieses Problem nicht aussitzen kann.
Dann kamen sie doch noch. Pudel und Frauchen. Wolfgang freute sich. Die Pudeldame offensichtlich auch. Wie zwei alte Bekannte sprangen die Hunde aufeinander zu.
Die Frau setzte sich zu Heinemann auf die Bank. Sie erzählte, dass sie jetzt fast täglich zur Bestrahlung muss.
Die Frau wirkte angeschlagen. Mager und eingefallen.
„Wie geht es ihnen!“, nahm sich Heinemann ein Herz.
„Es geht nicht besonders gut! Die Chemo und die Bestrahlung machen mich fertig!“ Ihre Stimme klang ähnlich wie bei Karl-Heinz den er in der Klinik kennen gelernt hatte. „Der Tumor drückt auf die Stimmbänder!“, sagte die Frau.
Heinemann sah sie an und sagte: „Ich kenne nicht mal ihren Namen!“ „Isabell!“, sagte die Frau kurz und knapp!
Edeltraut vom Stein und Wolfgang ließen sich von der gedrückten Stimmung auf der Bank nicht anstecken. Sie spielten ihr Spiel. Sie tollten wie die Blöden auf dem Rasen.
„Hund müsste man sein!“, meinte Isabell.
„Ich bin jetzt zweiundfünfzig geworden!“, sagte Heinemann. „So alt wird kein Hund!“
„Hunde wissen nicht, dass sie sterben müssen!“, sagte Isabell.
„Wer weiß!“, konterte Heinemann.
„Es ist, als säße man in einer Todeszelle und keiner weiß, wann der Henker den Strom einschaltet!“, sagte Heinemann etwas verträumt.
„Das passt!“, erwiderte Isabell.
„Eigentlich läuft das ganze Leben so!“
„Ja!“, sagte Heinemann und sah in den Himmel, der sich langsam dunkel verfärbte. „Es wird wohl Regen geben.“
„Sieht so aus.“, sagte Isabell.
Die Dauer der dritten Chemotherapie war kürzer. Heinemann hatte die ersten beiden ganz gut überstanden. Nur dass sein volles Haar lichter wurde, ärgerte ihn schon ein wenig. Es ist eine Art Stigma. Dachte er.
Die Menschen in den Sesseln waren andere. Doch die Gespräche, waren die gleichen. Es ging darum, der ganzen Sache nicht zu viel Bedeutung beizumessen.
Der Raum war gut besucht. Fünf Sessel, fünf Leichen. Potentielle Leichen.
Eine Frau ging am Zimmer vorbei. Heinemann meinte Isabell erkannt zu haben. Er wollte aufstehen, doch hinderte ihn die Verkabelung. Er hatte Isabell fast sechs Wochen nicht gesehen. Sie war nicht mehr auf die Hundewiese gekommen. Er und Wolfgang hatten gewartet.
Er musste nur warten. Irgendwann wird sie auf dem Rückweg wieder an seinem Zimmer vorbeigehen müssen.
Jeder Schritt schreckte ihn auf. Dann schlurfte eine Frau vorbei. Sie blieb stehen und sah in das Zimmer mit den blauen Sesseln. Es war Isabell. Aber eine andere Isabell. Sie hatte eine andere Haarfarbe. Strohblond. Es stand ihr nicht.
Heinmann lächelte sie an und bewegte seine Hand zu einem Gruß. Isabell war noch schmaler geworden und schien ihn nicht zu erkennen. Oder sie wollte nicht. Vielleicht schämte sie sich ihres Äußeren wegen. Sie ging weiter, ohne ihn zu beachten.
Die Gespräche im Zimmer haben sich nicht geändert. Es wird gelacht und geschimpft. Fußball und Politik. Der Tot steht nicht auf dem Programm. Die Krankenschwestern reißen ihre Witze, die sie schon Generationen von Todgeweihten erzählten.
Heinemann machte sich Sorgen um Isabell.
„Wie lange muss ich hier noch sitzen?“, fragte er eine der Schwestern. Die Frau kontrollierte den Flascheninhalt am Stativ und meinte: „so gute zwei Stunden. Je nachdem.“
Es war Juni geworden. Die Sonne schien heiß ins Zimmer. Die Markisen wurden herunter gefahren. Die Welt wurde ausgeschlossen.
Von den Schwestern bekam Heinemann seinen nächsten Termin.
In drei Wochen die vorerst letzte Chemotherapie.
Immer wieder spazierten Heinemann und Wolfgang auf die Hundewiese. Aber von Isabell und der Pudeldame gab es keine Spur.
Obwohl er die Frau kaum kannte, bekam Heinemann Angst.
Er putzte seine schwarzen Schuhe und stellte sie wieder in die Ecke bei der Garderobe. Immer einen ernsten Blick zu Wolfgang werfend.
Es gab in den letzten Jahren keinen Anlass für ihn, schwarze Schuhe zu tragen. Doch er wollte vorbereitete sein. Im Kleiderschrank bürstete er kurz über seinen
Schwarzen Anzug. Ohne zu wissen, ob dieser überhaupt noch passte.
Die nächste und vorerst letzte Chemo sollte noch kürzer sein als die vorige. Das Einstechen stellte sich wieder als Problem heraus. Bei der notwendigen Blutprobe kam kein Blut. Eine Ärztin musste ran und die schaffte es, Heinemann den Lebenssaft abzusaugen.
Die Blutwerte waren ganz in Ordnung. Etwas zu wenig weiße
Blutkörperchen. Das Immunsystem ist mehr oder weniger im Keller. „Vorsicht vor Infektionen!“, sagte Frau Dr. Ost.
Ihr Gesichtsausdruck wurde wichtig. Ich hätte ihr eine Nassrasur empfohlen.
Dann wurde das Gift angeschlossen und Heinemann spürte wie ihm die Kälte durch die Adern floß. Trotz der hohen Temperaturen fror er.
Er nahm sich eine Decke, die in allen Zimmern bereit lagen. Es dauerte nicht lange und das Zimmer war wieder mit fünf Personen gefüllt.
Dieses mal war Isabell dabei. Sie war abgemagert und wirkte sehr schwach. Sie saß ihm im Sessel gegenüber.
Heinemann versuchte auf sich aufmerksam zu machen. Isabell hatte die Augen geschlossen, und es machte den Eindruck, dass sie bereits eingeschlafen war.
Heinemann beobachtete sie. Bis auf die Tatsache, dass seine Haarpracht etwas weniger wurde, hatte er sich nicht verändert.
Isabell schlug die Augen auf und sah ihn an. Sie versuchte ein Lächeln.
„Ich hatte dich wohl erkannt!“, sagte sie.
„Ich habe dich auch sofort erkannt!“, log Heinemann. Isabell sah ihn lange an und grinste.
„Du lügst!“, sagte sie völlig unerwartet. Heinemann spürte wie er rot wurde.
„Es hatte ein wenig gedauert!“, verbesserte er sich. Isabell nickte und schien zufrieden.
„Ich bekomme Bestrahlung. Jeden Tag. Und diese Chemo. Der Tumor ist gewachsen und hat gestreut. Und wie geht es dir?“
„Bei mir hat sich in den letzten Wochen nichts verändert!“,
sagte Heinemann. Es war ihm peinlich zu sagen, das es ihm anscheinend besser geht als ihr. Sie sah ihn traurig an.
„Wie lange musst du hier bleiben?“, fragte Isabell.
„Knappe zwei Stunden.“, antwortete Heinemann.
„Würdest du auf mich warten?“ „Klar doch!“, sagte er und fühlte sich verpflichtet.
„Vielleicht eine halbe Stunde!“, fügte Isabell an. Heinemann nickte. Er sah Isabell lange an und erkannte erst jetzt ihre Schönheit. Sie war von der Krankheit gezeichnet.
Jetzt sah er sie als anmutige Frau. Auf der Hundewiese, wäre ihm das nicht aufgefallen.
„Wo ist deine adelige Pudeldame?“, fragte er. „Sie ist bei Bekannten. Gut aufgehoben. Sie wird mich vergessen!“
„Die haben ein großes Haus und einen großen Garten. Alles was der Hund braucht. Edeltraut ist nie alleine.“
„Wolfgang vermisst mich!“, sagte Heinemann und hätte es am liebsten gleich wieder zurück genommen.
Die Schwester kam rein und befreite Heinemann von dem Kabel das in seiner Vene hing.
„Ich warte in der Cafeteria!“, sagte er im Vorbeigehen zu Isabell. Sie nickte und sah ihm nach.
Sie saßen sich am Tisch gegenüber. Keiner wollte das Gespräch eröffnen. Jeder hatte Angst etwas verkehrtes zu sagen. Isabell hatte dunkle Augenränder. Sie war blass.
Sie sah aus, als würde sie jeden Moment sterben.
Heinemann bekam Angst. Es saßen sich zwei Leichen am Tisch gegenüber.
„Du musst keine Angst haben!“, sagte Isabell unvermittelt.
„Ich werde nicht vom Stuhl kippen!“
Heinemann sah sie an und fragte sich, wie sie seine
Gedanken erraten konnte.
„Ich habe es dir angesehen!“, fuhr sie fort. „Deine Augen verraten deine Gedanken.“
„Wenn wir vierzehn Tage des Zyklus hinter uns haben, könnten wir uns zu einem Zug durch die Gemeinde treffen!“, sagte Isabell.
Heinemnn war überrascht, sagte aber sofort zu.
Beide hatten ein Taxi bestellt. Nach einer kurzen Dauer, in der das eine Taxi dem anderen folgte, trennten sich die Fahrzeuge. Isabell, sah dem anderen Taxi durch das Rückfenster nach.
Lohnt es, dass sie sich verliebt? War Heinemann der Mann, den sie lieben konnte? Jetzt noch, in diesem Zustand, lieben konnte? Können Zombies lieben?
Zwei Wochen später trafen sich Heineman und Isabell um Hamburg unsicher zu machen. Es ging nach Eimsbüttel. Dann in die Schanze und auf den Kiez.
Es wurde ausführlich gesoffen. Heinemann musste sich wundern, wie trinkfest Isabell war. Sie waren ausgelassen. Und getanzt hatte er auch. Er, der personifizierte Parkettmuffel. Sie gingen zu ihm nach Hause. Sie schlief bei ihm. In seinem Bett.
Die Sterne standen gleich neben dem Mond am Himmel.
Chancenlos. Der Mond war ausgereift wie eine Frucht.
Ihre Beine umschlangen sich. Ihre Körper rankten aneinander. Sie küssten sich und er drang in sie ein. Wie ein Meuchelmörder kam er sich vor. War die Frau denn nicht gestraft genug? Er musste an Wolfgang denken. Jetzt. An einen Hund. Der hatte Frau von Stein gepoppt. Auf der Wiese. Heinemann tat es ihm gleich. Im Bett. Hinter der Wiese und hinter Mauern. Sie stöhnte. Wie alle stöhnen. Es war nichts anderes. Der Mann tat sein bestes und sie flüsterte oder schrie auf ihre Lust.
Heinemann war dabei ihr das Leben zu nehmen. Er war sich dessen bewusst. Er flüsterte; sie brüllte und wand sich wie Tisiphone. Nur Mord und Vergeltung im Sinn. Aus Wut, weil sie am Laken festgenagelt war.
Es gab für beide kein Entkommen. Die Gier hatte sie gehetzt. Wie ein wildes Tier. Nun verschlingt es sie im Rausch. Wie von Sinnen. Bis das verzweifelte Fleisch der Zärtlichkeit erliegt. Endgültig.
Heinemann ging auf die Hundewiese. Er sah Wolfgang stolz an. „Bleibt alles in der Familie!“, sagte er laut zu seinem Hund.
Die Antwort auf Heinemanns anruf, kam vom Band. Jeden Tag. Jede Nacht. Die Sterne standen nun stolzer am Himmel. Der Mond war für einige Zeit gestorben.
Die Sterne konnten nicht wissen, dass er wieder kommt.
Isabell kommt nicht wieder. Das wusste Heinemann. Ganz sicher!
Der schwarze Anzug hing an der Garderobe über den schwarzen, blank gewienerten Schuhen.