Wie und was jetzt, @Yoro ? Du hattest noch nie das Gefühl, mit 'ner ordentlichen Wumme im Anschlag einfach nur um dich ballern zu wollen? Meine Theorie: Wer tatsächlich noch niemals in so einem mentalen Zustand war, würde vielleicht auch keinen Massenmörder-Thriller schreiben (wollen). Jedenfalls nicht mit perspektivisch tiefgehenderem Fokus auf eben diesen Mörder. Etwas anderes ist es, wenn die Mordtat nur objektivierend in den Blick genommen wird.
Ein interessanter Fall in diesem Zusammenhang ist der im letzten Jahr erschienene großartige Roman Schwindende Schatten von Antonio Muñoz Molina. Im Kern erzählt er die Geschichte des Mörders von Martin Luther King (die Grundlage dafür war ein jahrelanges akribisches Studium des ausufernden FBI-Aktemmaterials über James Earl Ray). – Erstaunt hat mich dabei, wie der Autor zwischen diversen Gefühls- und Denkzuständen oszilliert, wenn es um diesen Mörder geht. Einerseits spürt man deutliche Reserve gegenüber seinem Rassismus usw. Andererseits gelingen Molina einfühlende Beschreibungen von inneren Zuständen (die ja imaginiert sein müssen; also aus irgendeinem mimetischen Impuls erwachsen sein dürften!) – etwa Rays Lissabon-Aufenthalt betreffend --, daß es einem regelrecht den Atem nimmt!
Der Autor verschweißt das Ganze mit noch zwei anderen Erzählebenen, eine ihn selbst und sein Schreiben betreffend (sowie sein Verhältnis zu Lissabon, wo er schon einmal, am Anfang seiner Schriftstellerkarriere einen Roman schrieb [A.M.M.: [I]Ein Winter in Lissabon]) und andererseits auch noch mit der Einnahme einer “Innenschau” Martin Luther Kings.
Wenn man das hört, mag es sein, daß einem spontan das Urteil zufliegt: Unmöglich! – Tatsächlich hat es A.M.M. aber geschafft, das sehr, sehr eindrucksvoll zusammenzu bringen; und ich vermute, daß dabei der Jazz und sein Rhythmus eine entscheidende Rolle spielten, denn immer wieder läßt sich M.M. auf das schöne Spiel ein, den Text – sozusagen – im ganz eigenen Flair, in der ganz eigenen tonality von Jazzstücken, die den ganzen Erzählraum umfassen, gewissermaßen swingen zu lassen, womit vielleicht technisch wie auch inhaltlich eine Klammer generiert wurde, die die ansonsten eher heterogenen Ebenen ineinanderfließen läßt, daß es fast schon einem Wunder gleicht.
Für mich war der Höhepunkt der Lektüre der Schluß, weil er dort Martin Luther Kings letzte Minuten aus der Innenperspektive nachzeichnet, also direkt vor dem Mord, ohne daß M.L.K wußte, gleich ermordet zu werden. Das ist ganz großes Kino, weil M.M. nicht nur das lit. Terrain der Darstellung geradezu souverän beherrscht, sondern auch noch eine – wie auch immer gewagte – inhaltliche Pointe einbaut, die Gehalt und Form so miteinander verschmelzen lassen, daß es wahrlich kaum noch überboten werden kann.
Mein Punkt ist: Ganz sicher ist A.M.M. schlicht und ergreifend unfähig, sich in einen Mörder wie Ray “einfühlen” zu können. Daß es ihm trotzdem gelingt, ein sehr eindrückliches Bild von ihm zu zeichnen, liegt daran, daß er eben imaginative Momente eingebaut hat und die Mörderfigur dergestalt aus dem Status einer bloßen Protokoll-Figur herauskam. Und darin besteht eben m.E. ein Teil der Kunst: Dort, wo der “reale Blick” oder die Berichte anderer oder die Protokolle zu dürftig geraten, entzündet die Imagination (samt der Kunst, sie ihn Schrift gießen zu können) jenes Feuerwerk, das dann doch – ästhetisch vermittelte – Lebendigkeit aufleuchten läßt. Will sagen: Man muß nicht wirklich “Massenmördergefühle” haben, um einen solchen lit. angemessen auf’s Romantapet bringen zu können. – Es bedarf mimetischen und ästhetischen Vermögens. Wenn man das hat, ist Authentizität gewahrt … eben die Authentiziät des entsprechenden Kunstwerks, denn eine andere gibt’s, Gefühlszuständer anderer Menschen betreffend, ja sowieso nicht (man muß sich dazu ja nur Wittgensteins Käferschachtel-Gleichnis’ aus den PU entsinnen!) …
Viele Grüße von Palinurus und schönen Dank – auch an @J.T.Plein --, für diese Anregung zum Nachdenken und … Aussprechen …