Melody Kylan-Montgomery saß in der stickigen Werkstatt, die Finger auf den letzten Rechnungen. Doch ihr Blick hing wie gefesselt am Fenster, hinaus in die hereinbrechende Dämmerung. Der Abend schlich sich heran und warf lange, unheilvolle Schatten auf den Hof. Dort standen nur die imposanten Harleys des MC‘s und die einsame Maisto Sportster Iron 883 ihres Bruders Jackson. Drei Wochen war es her, seit Jax dem MC den Rücken gekehrt hatte, um zu den Bullen überzulaufen – sein Jugendtraum, sicher, aber der Club war mehr. Nicht nur eine Biker-Gang. Er war ihr Erbe. Ihr Blut. Wie er dem entsagen konnte, blieb für Melody unbegreiflich. Ein Schmerz, der tief in ihr nagte. Jackson verbrachte die Abende scheinbar ungerührt mit den Jungs im Clubhaus – mit Freunden, Brüdern, alten Schulkameraden. Diese geteilte Präsenz war nicht nur nutzlos, sondern gefährlich. Es war unmöglich mit einem Fuß drin und dem anderen draußen zustehen. Das führte zu Ärger. Zu Schwierigkeiten, die alle mit in den Abgrund zu reißen vermochten. Mit den länger werdenden Schatten wuchs die Spannung in ihr. Jede verstreichende Sekunde ohne seine Rückkehr nährte die Ungewissheit. Sie liebte ihren Bruder. Doch seine Entscheidung riss eine schmerzhafte Kluft in ihr Herz – und bedrohte die fragile Ordnung, die sie gemeinsam so mühsam aufrechterhielten.
Die Angst um Jackson - ein ständiger Begleiter. Und da war noch Alice Roberts. Die Pfarrerstochter. Eine Moral Apostelin, so schien es. Doch Melody sah in ihr nur eine tickende Bombe. Schon der Gedanke an Jackson und diese Alice drehte ihr den Magen um – eine Übelkeit, die tiefer saß als bloßer Widerwille. Was kroch Jax dabei durch den Kopf? Rein gar nichts! Er versuchte nur, seinen Liebeskummer in der erstbesten Muschi zu ertränken, die ihm über den Weg lief. Zwei verfluchte Monate war es her, seitdem Savanna Malone – Jacksons große Liebe – Blackridge verlassen hatte. Seit sie sich nach Denver abgesetzt hatte, um Ärztin zu werden. Und was stellte Jackson an? Statt zu trauern, stieg dieser Idiot mit Alice ins Bett. Eine Frau, die Melody nicht ausstehen konnte. Sie hatte Savanna nie gemocht, aber Alice - die ertrug sie weitaus weniger. Diese unerträgliche Heuchelei brachte sie zum Kotzen.
Melody seufzte, eine schwere Last auf den Schultern. Sie drehte grade den Kopf herum, den Blick vom Hof nehmend, sich wieder der Arbeit zuwendend. Da sah sie ihn aus den Augenwinkeln: den kleinen grauen Beetle. Alice fuhr auf den Hof. Kalter Zorn durchfuhr Melody. Ihre Kiefer verhärteten sich. Na, dieser Frau werde ich jetzt mal gehörig die Meinung sagen, schwor sie sich. Jeder Muskel in ihrem Körper spannte sich. Dieses Weibsstück war ein Fehler. Eine tickende Zeitbombe, die ihre ohnehin schon fragile Welt zu zerstören drohte. Und wenn ihr Bruder das nicht sah, würde sie das Desaster eben selbst beenden. Koste es, was es wolle! Der Gedanke an die Konfrontation ließ ihr Herz hämmern, doch ihre Entschlossenheit überwog jede Furcht. Sie stand auf, lehnte sich lässig an die offene Bürotür und wartete. Ein Ausdruck unerschütterlicher Bestimmtheit, die keine Widerrede duldete. Kaum hatte Alice ihren Wagen verlassen, bedeutete Melody ihr mit knapper Kopfbewegung, herzukommen.
Alice stöhnte innerlich auf, ein Gefühl der Beklemmung legte sich über sie. Widerstand war zwecklos. Eine erdrückende Gewissheit - Widerspruch brachte nur umso mehr Ärger. Und davon hatte sie reichlich. Seit dem tödlichen Drive-by des Viper MC, bei dem Kimberly Kylan vor einem halben Jahr ums Leben gekommen war, hatte Melody den Platz der Club Queen eingenommen. Blackridge kannte das. Und jeder begegnete ihr mit Ehrfurcht – einer, die oft eher aus Angst denn aus Bewunderung bestand. Alice verstand die ungeschriebenen Regeln des Clubs nicht vollständig. Dass man von ihr Gehorsam erwartete, reimte sie sich dennoch zusammen. Eine kalte Welle der Angst durchzog sie, als sie sich Melody näherte – im Bewusstsein, dass dieses Gespräch unangenehm werden würde. Melodys Blick blieb fest, ihre Miene unnachgiebig. Die Verkörperung einer unerbittlichen Macht, die keine Abweichung duldete. Mit jedem Schritt, den Alice näherkam, wurde die Luft um sie dünner.