Das Kind im Spiegel
Gedankenverloren schaue ich aus dem Fenster. Es ist ein grauer, nasskalter Herbsttag. Genau das richtige Wetter, um mal wieder eine Geschichte zu schreiben, denke ich mir. Wie beschäftigt man sich sonst an solchen Tagen?
Autor zu werden, das ist mein Traum. Und ich bilde mir ein, durchaus Talent dazu zu haben. Ich tue mich allerdings schwer damit, diszipliniert jeden Tag etwas zu schreiben. Es gibt nur selten diese Tage, an denen ich wie von Geisterhand eine Idee für eine Geschichte bekomme. Dass heute ein solcher Tag ist, war mir schon beim Aufstehen klar. Die Worte bildeten sich bereits in meinem Kopf, schoben sich beinahe in mein Sichtfeld.
Ich setze mich an den Esstisch, denn von hier aus habe ich eine gute Aussicht auf eine Reihe großer Eichen, deren Blätter sich goldgelb färben. Vor mir liegt nur mein in schwarzes Leder gebundenes Notizbuch. Ich schlage es auf und setze die Feder auf das Papier:
Draußen vor meinem Zimmer höre ich das Knirschen von Reifen auf Kies. Jedoch kein Motorengeräusch. Jemand muss mit dem Fahrrad gekommen sein. Was meine Eltern schon mal ausschließt, denn die fahren beide nur mit dem Auto fort. Bleibt noch mein Bruder. Er ist drei Jahre älter als ich. Ihn höre ich die Treppe herunterpoltern. Es scheint Besuch für ihn zu sein, schlussfolgere ich.
Ich versuche, so gut es eben geht, von meiner Position aus, aus dem Fenster zu spähen. Am Rand des Sichtfelds kann ich ein kleines Stück eines brünetten Haarschopfs erkennen. Soso, da scheint mein Bruder doch tatsächlich eine heimliche Geliebte zu haben. An ihrer Bewegung erahne ich, dass sie sich von ihrem Fahrrad schwingt. Schon höre ich, wie mit einem Klacken die Haustür geöffnet wird. Er hat also auf sie gewartet.
Von unten vernehme ich ein gedämpftes »Hi«. Ich muss gestehen, dass ihre Stimme sympathisch auf mich wirkt, nicht unangenehm hoch oder spitz.
»Ich bin allein Zuhaus. Meine Eltern sind nicht da, du brauchst also nicht leise zu sein« höre ich meinen Bruder sagen. Er spricht lauter, aber dennoch ist da eine Spur von Aufregung in seiner Stimme.
Ehrlich gesagt kränkt es mich etwas, dass er behauptet, allein zuhause zu sein, und mich mit keinem Wort erwähnt. Typisch, in letzter Zeit nimmt er gar keine Notiz mehr von mir, als wäre ich Luft. Früher war er ganz anders, wir waren beinahe unzertrennlich.
»Dann ist ja gut«, höre ich die Stimme seiner Freundin zur Antwort flöten, und kurze Zeit später gehen sie beide die Treppe hoch und verschwinden im Zimmer meines Bruders nebenan. Was sie dort miteinander tun weiß ich nicht, und mir bleibt nichts anderes übrig, als, zugegebenermaßen etwas eifersüchtig, an meinem Platz in meinem Zimmer zu verharren.
Einige Stunden vergehen, bis ich erneut höre, wie die Tür zum Zimmer meines Bruders sich öffnet.
»Was ist denn in dem Zimmer da gegenüber?«, fragt das Mädchen.
»Ach, das ist, oder vielmehr war, das Zimmer meines kleinen Bruders. Meine Eltern bewahren dort immer noch alles von ihm auf, als wäre er noch da. Nichts darf verändert werden.«
Empört schnaube ich.
»Ist ja gruselig« antwortet sie, nur um schnell hinterher zu schieben: »Tut mir leid. Das muss für dich und deine Familie bestimmt sehr schwer gewesen sein.«
»Ich habe damit abgeschlossen« entgegnet er, »aber meinen Eltern fällt das nicht so leicht.«
Dann wechselt er abrupt das Thema: »Ich muss noch kurz auf die Toilette, du kannst solange ja noch kurz hierbleiben. Dann bringe ich dich zur Tür.«
Ich höre, wie sich seine Schritte in Richtung des Badezimmers entfernen.
Plötzlich wird der Schlüssel, der von außen in meiner Zimmertür steckt, herumgedreht. Das Mädchen kommt vorsichtig herein. So gruselig scheint mein Zimmer ja doch nicht zu sein. Oder macht gerade das die Faszination aus?
Sie ist relativ klein, etwa einen Kopf kleiner als mein Bruder. Aber sie ist hübsch. Ihre blauen Augen stehen in bemerkenswertem Kontrast zu ihren vollen Lippen und zu ihren kastanienbraunen Haaren, die ihr fast bis zur Hüfte reichen.
Sie tritt ein und sieht sich in meinem Zimmer um. Es ist eigentlich nicht spektakulär, ein normales Zimmer für einen Zwölfjährigen. In jeder Ecke sammelt sich Spielzeug, vieles wurde jedoch schon länger nicht mehr benutzt, eher ein Andenken an vergangene Kindheitstage.
Dann steht sie vor dem Spiegel an meiner Wand. Ich kann sehen, wie die Farbe aus ihrem Gesicht weicht, als ich ihr direkt in die Augen blicke. Sie sieht mich also auch. Sehr gut.
»Hallo« sage ich. »Schön, dich kennenzulernen.« Ich bemühe mich, so sanft und freundlich wie möglich zu klingen, trotz meiner nagenden Ungeduld. Ich will sie ja nicht verschrecken. Doch es wäre eine ganz normale Reaktion, jetzt schreiend davonzulaufen, mit meinem Bruder Schluss zu machen und nie wieder einen Fuß auf unser Grundstück zu setzen.
Ich könnte es verstehen.
Doch zu meinem Glück geschieht nichts dergleichen. Sie bleibt nur wie angewurzelt stehen.
»Kannst du mir helfen?«, frage ich sie unschuldig. »Ich stecke hier fest. Gib mir deine Hand, vielleicht kannst du mich dann herausziehen.«
Zu meiner Verwunderung tut sie dies sogar nach kurzem Zögern. Ich ergreife ihre Hand. Das erste Mal seit so langer Zeit, dass ich wieder die Wärme eines anderen Menschen spüre. Es ist überwältigend. Ich kann nicht anders: Mit aller Kraft ziehe ich an ihr. Sie hat wohl nicht damit gerechnet und stolpert vorwärts. Direkt in den Spiegel. Ich jedoch falle förmlich heraus und stehe auf einmal wieder in meinem Zimmer.
Es hat funktioniert.
Das Glück, endlich aus meinem kalten Grab entkommen zu sein, lässt sich nicht in Worte fassen. Doch es wird getrübt durch das Mitleid, das ich mit ihr habe, weiß ich doch, dass sie nun an meiner Stelle dort im Sarg liegt, mit nichts weiter als einem kleinen Spiegel in der Hand.
Da höre ich die Schritte meines Bruders vom Badezimmer zurückkommen. Als er die geöffnete Tür meines Zimmers sieht, bleibt er davor stehen und dreht sich langsam in meine Richtung.
Den entsetzten Blick, als er mich dort stehen sieht anstatt seiner Freundin, werde ich wohl nie vergessen.
»Hi, ich bin wieder da« begrüße ich ihn unschuldig.
Mein Bewusstsein kehrt erst wieder in diese Welt zurück, als ich in Großbuchstaben das Wort »ENDE« unter die Geschichte setze. Ich lese noch einmal darüber. Es ist eine typische Geschichte, wie ich so viele geschrieben habe in letzter Zeit.
Ich blicke von meinem Notizbuch auf. Draußen ist der Himmel noch eine Spur grauer geworden, dunkler vor allem. Obwohl es erst halb fünf am Nachmittag ist, wird schon bald die Nacht hereinbrechen.
Ein leises Kratzen im Spiegel, der im Flur hinter mir hängt, jagt mir einen Schauer über den Rücken.
»Nein« sage ich, »du kannst nicht wie in der Geschichte einfach durch den Spiegel herauskommen.« Dabei streiche ich freundlich über meinen Bauch. Seit einer Untersuchung vor einigen Monaten weiß ich, dass dort mein Zwillingsbruder sitzt. Noch im Mutterleib sind wir miteinander verschmolzen. Ich bin froh über diese Erkenntnis, weiß ich nun doch, woher all das kommt. Die Worte in meinem Kopf. Die Bilder in den Tagträumen.
Und natürlich meine Kreativität.
Es sind die Sehnsüchte meines ungeborenen Bruders, der, außer durch mich, niemals die Welt erfahren durfte.