Gelebtes Leben

Paul

Seine Tage hatten Struktur. In dem Sinne, dass außer einkaufen an zwei oder drei Tagen die Woche, in den umliegenden Supermärkten, wenig ablief.
Hin und wieder besuchte er einen Bekannten in einem Wohnheim für Menschen mit Behinderung. Den besuchte er. Hin und wieder. Beim Betreten der Lobby des Heimes roch es hin und wieder nach vergammeltem Fleisch. Mancher Besuch ein Ekel. Sein Bekannter war einsam. Früher Musiker. So wie er. Früher. Viel früher. Der Bekannte verströmte keinen Geruch. Kein Ekel.
Kein Musizieren, nur Schatten eines vegetativen Systems. Kaum Leben. Grave. Wie ein Mühlstein hing das gelebte Leben um seinen Hals. Eines Tages stand vor der Tür seines Zimmers eine große weiße Kerze. Davor stand ein Bild des Bekannten. Der fatale Schlussakkord.
Im Laufe der Jahre hatte Paul sich eingerichtet. Er hatte die Wohnung angenommen und die Wohnung hatte ihn angenommen. Pauls letzter Arbeitstag im Orchester lag zehn Jahre zurück. Er machte sich Gedanken über die Zeit. Er ging vorsichtig mit den Stunden und Minuten um. Largo.
Nichts überstürzen. Mit fünfundsiebzig Jahren hat man einen beträchtlichen Teil seines Daseins hinter sich gebracht. So wunderte er sich jeden Tag über die Zugabe. Applaus. Da Capo.
Es war der morgendliche Abschnitt, in dem er staunend die Augen aufschlug und sein Zimmer betrachtete, wie eine ihm fremde Einrichtung. Wie etwas, das er nicht mehr erwartet hatte. Jeder Morgen klang nach ängstlicher Überraschung. Er dachte, wie kann ich diesen Tag überstehen? Irgendwann muss es ein Ende haben. Irgendwann wird die Überraschung ausbleiben. Dolente.
Der September neigte sich dem Ende zu. Der Himmel war wolkensilbergrau, doch wenn man genau schaute, konnte man ein letztes Aufbäumen des Sommers beobachten; die Sonne schälte sich durch die weichen Decken und ließ ihre Tentakel über Erde und Menschen streichen.
Paul schob das Gestell mit der angehängten, frisch gewaschenen Leibwäsche auf seinen Balkon. Unterwäsche war konzentriert auf einige Stücke und das Geld war knapp. Die Wäsche sollte nicht das Wichtigste sein, da waren andere Utensilien angesagt. So wusch er seine Wäsche jeden dritten Tag. Er wusch alles von Hand. Mosso. Flott.
Paul schloss die Balkontür, zog die Vorhänge zu und setzte sich in seinen Korbsessel, den er vor dreißig Jahren aus der Erbmasse seiner Eltern rettete.
Es sah nicht nach Regen aus.
Er lockerte den Gürtel seines Morgenmantels, genoss das halbdunkel im Zimmer und starrte auf ein Bild, das ihm gegenüber an einer sonst kahlen Wand hing. Es zeigte Gebäude, die mit mächtigen Farben und kräftigen Strich auf die Leinwand gepinselt waren. Rote Häuser vor schwerem blauem Hintergrund. Es war Pauls Lieblingsbild. Die Erinnerungen an die Zeit trugen ihn in eine vergangene Welt. Im Süden. Am Fuße eines Berges, an dem er glücklich gewesen sein muss.
Letzten Dienstag wurde Paul fünfundsiebzig Jahre alt. Nun dachte er ans Sterben. Morendo.
Es war der Süden, und es waren die Berge im Süden, und der Wein an den Bergen, und der Wein in den Gläsern. Paul konnte noch immer spüren, wie er die Düfte dieser anderen Welt einsog. Die waren schwer und schleimten sich gierig in seine Lunge. Das Atmen bereitete ihm Schwierigkeiten. Es war, als lastete eine Welt auf seiner Brust. Er war gefangen und das Atmen wurde ihm das erste Mal bewusst. Trotzdem begann er zu musizieren, wie er es nie wieder in seinem Leben vermochte. Es wurden seine Sternstunden. Damals.
Heute spürte er nichts dergleichen. Er sah den Staub im Dunst der fahlen Sonnenstrahlen, die sich im Zimmer tummelten, als suchten sie einen Platz für die Nacht.
Die Sonne schien den kürzesten Weg hinter dem Horizont zu nutzen. Schnell wurde es finster und Pauls Augen begannen zu brennen. So wie sie jeden Abend brannten, wenn er in seinem Sessel saß und seine Vergangenheit betrachtete.
Vor dem alten funktionsunfähigen Fernseher stand eines seiner Bilder. Es war ein grünes Bild, welches er in Hamburg gemalt hatte. Damals, an der Alster. Dichtes Grün über dem Mühlenteich der Hansestadt.
Paul betrachtete die Lichtstreifen, in denen der Staub wirbelte. Es war ein Spiel, vor seinen Augen und den Blick von dem Bild mit den üppigen Farben ablenkte. Feuerentzücken.
Paul versuchte, sich an die Ereignisse zu erinnern, die im Süden geschahen, als er verliebt war, als er jung war und als er musiziert hatte. Senza Fine.
Es war die Tageszeit, in der die Strahlen der Abendsonne in sein Zimmer drangen, durch die Litzen der Jalousie und durch den Spalt des Vorhangs und ihm helle Streifen auf das Gemälde zauberten. Es waren die späten Strahlen zur späten Zeit seines Lebens.
Neben dem Korbsessel stand ein Nierentisch, auf dem auf einem gehäkelten Deckchen, einem Andenken an seine Mutter, ein kleines Telefon lag.
Ein Geschenk seiner jungen Nachbarn. Sie hatten ihm die Notrufnummer eingerichtet, dass er im Fall der Fälle reagieren konnte, um Hilfe zu holen oder um den Nachbarn mit nur einem Klick anzuzeigen, dass er in Not ist. Das Telefon flößte Paul Angst ein. Es war das Ding, das er nötig hatte, um zu überleben. Obwohl er sich gesund fühlte und bis auf seinen niederen Blutdruck keinerlei Beschwerden hatte.
Paul knipste die Stehlampe an. Er fischte eine Zeitung aus dem Zeitungsständer neben seinem Sessel. Er las die alten Nachrichten. Immer wieder.
Sein Alter. 75 Jahre. Zehn 75-Jährige nacheinander ergäben siebenhundertfünfzig Jahre. Das bedeutete, dass neun gleichaltrige neben ihm nötig wären, um vom tiefsten Mittelalter bis in die heutige Zeit zu gelangen. Neun Menschen in seinem Alter. Nur neun.
Die Zeit war verflogen und Paul sah auf den Balkon nach seiner Unterwäsche. Sie war fast trocken. Er nahm sie vom Ständer und brachte sie ins Badezimmer. Dort hängte er sie über den Rand der Badewanne. Morgen würde er wieder frische Unterwäsche anziehen können. Das würde der Tag sein, an dem er unter Menschen ging.
Bevor er sich auf seine Pritsche legte, betrachtete er die Letzten seiner Bilder im Wohnzimmer. Das fette ausufernde und das zarte Grüne. Die restlichen Bilder hatte er seinen jungen Nachbarn geschenkt, als Dankeschön für ihre Hilfe. Er dachte darüber nach, ob er das Richtige getan hatte und die Bilder nicht besser behalten hätte. Vielleicht wäre das eine oder andere Bild zu verkaufen gewesen? Hätte er dann ein anderes Leben führen können? Ein besseres Leben?
Die Pritsche hatte er sich angeschafft, als Ersatz für ein Bett. Großvater sagte: „Im Bett sterben die Menschen!“ Für Opa ein Grund, sich niemals in ein Bett zu legen. Wie Napoleon legte Paul die flache Hand an seine linke Brust. Er lächelte. Der Großvater war ein Veteran des Ersten Weltkriegs. Er soll sich bei dem einzigen Hotelbesuch seines Lebens vor das Hotelbett gelegt haben. Verrückt, aber konsequent, dachte Paul. Also kein Bett. Opa erlitt während eines Fußballspiels einen Herzinfarkt und starb im Stadion. Konsequent und ohne Bett.
Jeden Tag sechs Gläser Wasser. Er hatte sie intus. Oder hatte er nur fünf getrunken? Oder doch sieben? Oder waren es die sechs, die es sein sollten? Wasser verdünnt das Blut, was wiederum einen Infarkt verhindert. Also wird er ewig leben.
So dachte Paul. Kurz bevor er die Augen schloss, dachte er an die Unsterblichkeit.
Augen auf. Er besah sein karges Zimmer. So wie jeden Morgen. Das matte, schmutzige weiß der Wände und die grauen und fettigen Fensterscheiben, die dem Tag den Zutritt zum Zimmer erschweren wollten. Die Beine auf den Boden gestellt und sich mühsam hochgedrückt. Stehen. Die Haare wild und grau und wellig und zerzaust. Der Badezimmerspiegel zeigte nichts in Echtzeit. Nur eine kleine Ahnung der Äußerlichkeit.
Paul watete in die Küche; durch eine morgendliche Gischt aus Staubflocken mit Lichtpartikeln. Die Kaffeemaschine lief und der Becher füllte sich zur Hälfte. Die andere Hälfte Milch. Kein Zucker. Im Wohnzimmer riecht es nach gestern. Balkontür auf. Es riecht streng. Vergangenes hat grundsätzlich einen strengen Geruch.
Dann Toast, Butter und Erdbeermarmelade.
Nur ein paar Kleinigkeiten einkaufen. Es regnete. Als er vor das Haus trat, bemerkte er den Schauer. Frikadellen. Abgepackt in Folie aus Plastik. Nudeln, Käse, Wein, billigen Wein, roten Wein. Weißer Wein bereitete seinem Magen Probleme. Die erste Kasse war geöffnet. Die Kassiererin hatte keine rechte Lust. Die Waren wurden abgetastet und die Zahl auf der Anzeige erhöhte sich bei jedem Scan. Zu teuer. Alles zu teuer. Er sagte nicht Tschüss. Aus Prinzip, weil die Kassiererin so unfreundlich und lustlos war.
Die Ampel stand auf Rot. Er stand. Die Autos fuhren und er stand und starrte auf das rote Licht. Es nieselte. Die Tasche war nicht schwer.
Zwei Stockwerke. Er ist fünfundsiebzig Jahre alt. Die Muskeln und Knochen geben Alarm. Nicht jeden Tag diesen Weg. Nicht jeden Tag. Im ersten Stock eine kurze Pause. Luft. Halten am Treppengeländer. Paul war groß gewachsen. Trotz seines etwas gekrümmten Rückens sah man ihm seine Länge an. Das Haar grau, voll und wuschig. Sein Gesicht zeigte Furchen wie Gräben in einer ausgetrockneten Landschaft. Da half kein Schwindeln mehr. Es ist so, wie es jetzt ist. Die letzten Stufen und dann einen Schluck. Paul setzte sich in den alten Sessel aus Korb. Er streichelte die Armlehnen.
Auf dem Tischchen das Telefon. Eingerichtet von seinen freundlichen Nachbarn, von denen er lange nichts gehört hatte, außer, wenn sie die Wohnungstür zuschlugen. Dann hörte er die Stimmen oder die Geräusche beim Treppensteigen. Paul war nie verheiratet. Keine Kinder. Keine Verantwortung. Er war sich selbst genug. Sein Leben lang. Nur einmal, da hatte er solche Anwandlungen. Solche Allüren. Er wollte dabei sein. Er hatte seinen Gefühlen freien Lauf gelassen.
Das Denken fällt ihm ähnlich schwer wie das Treppensteigen. Er ist fünfundsiebzig geworden am Dienstag. Das ist keine Kleinigkeit, sondern ein hohes Alter. Im Krieg war er verschüttet. Für kurze Zeit nur. Es waren die Bomben der Engländer oder der Amerikaner. Stand nicht drauf auf den Bomben und lesen hätte man es ohnehin nicht können. Die Mama war im Hagel der Bomben gestorben. Mama soll mit dem Teer der Straße, in welcher der Eisladen und der Milchladen war, verschmolzen sein. Das erzählte eine Nachbarin, die der Meinung war, dass Mama nichts von all dem Feuer und dem Verbrennen gespürt haben kann. Vielleicht hat der Vater aus diesem Grund das Haus in der Straße angezündet, in der Mama mit dem Asphalt verschmolz. Kurz nach Ende des Krieges. Und die Leute hatten kein Verständnis dafür und schlugen ihn tot.
Von den jungen Nachbarn habe ich lange nichts gehört, dachte Paul und presste sein Ohr an die Wand.
Die wollten in der Krise für mich einkaufen. Ich will das nicht. Dachte Paul und lauschte, ob sich jemand im Hausflur aufhielt. Ich muss doch meine Bewegung haben, dachte er und machte sich fertig, um einkaufen zu gehen. Es war warm. Nicht unangenehm. Einfach einlullend warm und man konnte es aushalten. Bald würde der Herbst die Oberhand gewinnen. Wie geht es dann weiter? Wird dann das Virus noch gefährlicher? Seine Gedanken wirrten in ihm wie ein Wirbel in einem Sandkasten. Es gab nichts zu zerstören, was von Wert gewesen wäre.
Wenn ich nur genügend Zeit hätte! Dachte Paul. Die Zeit ist unser mächtigster Gegner. Denk nach vorne, sagten die immer, denke nicht zurück. Unwiederholbares lass ruhen. Aber wenn du erstmal fünfundsiebzig bist, fällt es schwer, nach vorne zu denken. Das musst du erst einmal erfahren. Alter. Gedanken. Nach hinten denken und sich zwingen, alles nach vorne zu schaufeln.
Am Fenster stehend besah er den Innenhof. Morgens die Kinder zur Schule schleichend, die Last der Bildung an ihren Rücken hängend und so lustlos, trostlos und so gezwungen, sah er sie hinter der Ecke des Nachbarhauses verschwinden.
Paul hing diesem Bild nach. Der Morgen war grau. Der Tag versprach nicht viel. Das Tun Tage nie, sie liegen so lässig in der Zeit, wie Zeitungen am Kiosk. Nur ohne Beitrag und Nachricht. Leer wie ein Blatt, dem der ausstehende Text gleichgültig ist.
Nebenan regten sich die jungen Nachbarn. Deren Wohnung doppelt so groß war wie seine. Die Planen. Kinder. Nachwuchs. Der Mensch wird genötigt nachzuwachsen.
Paul ist nicht nachgewachsen. Seine Liebe wurde von der Zeit erschlagen.
Gegenüber wedelte eine Frau mit einem weißen Laken aus dem Fenster. Wahrscheinlich das Schlafzimmer. Leichte Staubflocken. Die senkten sich im stillen Wind.
Paul hob die Hand. Ein Gruß, so als kenne man sich. Die Frau schloss das Fenster. Die Gardinen auf der anderen Seite wurden zugezogen. Sie hatte ihn nicht wahrgenommen.
Vielleicht sollte er sie aufsuchen. Vielleicht hätte er mutiger sein sollen. Den ersten Schritt wagen. Das war seine Sache nicht. Er wartete auf Schritte. Ihm entgegen.
Selbstvertrauen. Im Augenblick ist es dunkler geworden. Die Dunkelheit hat ihre Späher geschickt. Die saugen das Licht ein und spucken die Nacht aus. Es war ihm klar, dass alles zu spät ist.
Er hätte alles anders machen sollen.
Von Anfang an.
Senza repetitione
Fine!

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Du beschreibst atmosphärisch dicht, wie banal das Leben einem scheinen kann, und wie unfassbar viel doch eigentlich in jedem Augenblick passiert.

Ich würde noch eine Handvoll mehr Menschen hinstellen, um vom Mittelalter bis heute zu kommen. Aber es sind dann immer noch erschreckend wenige für all das, was inzwischen passiert ist.

Keine zweite Chance - irgendwie schade.