Irgendein Turm halt
»Was ist denn das?«, fragte Gabel, eigentlich Gabriella; meine beste Freundin. Sie war und ist so etwas wie mein aromantischer Soulmate.
»Häh?«, fragte ich und starrte auf mein Smartphone.
»Na, das Ding da vor der Tür.«, fuhr sie fort und sah aus dem Küchenfenster.
»Mein neues Lastenrad, wieso?«
»Echt jetzt? Ein Drahtesel? Wozu?«
»Zum Transportieren natürlich. Das ist das ein Urban Lightwing Vario und kein Drahtesel. Mit einem Powerpack 745. Besser geht`s nicht.«
»Glaube ich gern«, entgegnete Gabriella mit einem ironischen Unterton, »aber wieso fährst du mit dem Ding hierher? Wann bist du denn aufgestanden?«
»Früh halt. Irgendwie musste ich doch die Brötchen und die Milch transportieren.«
»Oookay?«
»Ja, oookay«, antwortete ich leicht angesäuert. »Ich fahre damit wegen der Fitness. Würde dir auch mal ganz gut tun, sowas. Außerdem quietscht mein Auto ganz unerträglich.«
»Und da hast du dir, anstatt…«, begann sie, unterbrach sich aber. »Ach, sorry. War nicht so gemeint.«
»Warum bist du in letzter Zeit so gereizt?«
»Keine Ahnung. Irgendwie passiert nichts.«
»Auf was wartest du denn? Willst du was unternehmen?«
»Nein. Ich bin einfach nur etwas hibbelig, so allgemein.«
»Siehste! Ich sag es ja. Fitness. Überschüssige Energie abbauen«, belehrte ich sie.
»Du willst ja nur, dass ich auch mit einem E-Bike durch die Gegend gurke.«
»Warum nicht?«
»Im Sommer vielleicht.«
Sie ging zum Kaffeeautomaten, um sich eine weitere Tasse zu brühen. »Willst du auch noch einen?«
»Nee, lass mal, danke.«
Die Maschine begann zu piepen. Gabel fluchte leise und begann damit, Espressobohnen nachzufüllen.
Ich sah erneut auf mein Phone und musste grinsen. »Du, ich lese hier gerade, das sich Leute-«
Ffupp! Klirr Schepper!
Erschrocken sah ich über meine Schulter.
Sie war weg! In meinem Augenwinkel sah ich sie noch an dem Behälter fummeln und dann: futsch ! Das Glas mit den Bohnen lag zerbrochen auf dem Boden.
Ich dachte, ich spinne.
Meine beste Freundin und Soulmate war nirgends im Haus zu finden.
Wir hatten ja im letzten Herbst bizarre Dinge erlebt, doch das toppte jetzt alles. Bei Gabriella ging es einfach nicht mit rechten Dingen zu.
Wie kann jemand einfach so verschwinden?
Was nun? War sie noch am Leben, oder gar tot? Lag da jetzt sowas wie ihre zerstreute Asche auf den Kaffeebohnen?
Diese eher wirren Gedanken ignorierte ich, so gut es ging.
Ich versuchte sie auf dem Smartphone anzurufen. Es lag in der Küche, wie ich feststellen musste.
Gerade, als ich drauf und dran war draußen weiterzusuchen, klingelte von irgendwoher ihr Festnetztelefon. Wo stand das noch? Sie benutzte es ja kaum. Ein drittes und viertes Klingeln. Ah, da! Wohnzimmer. Dann aber machte sich Gabriellas Smartphone bemerkbar und das Telefon hörte damit auf. Rufumleitung! Ich rannte wieder in die Küche. Wer weiß, vielleicht hatte es ja mit Gabriellas Verschwinden zu tun? Es war jetzt etwa zwanzig Minuten her.
»Hallo? Bei Monfera?«
»Tim!«
»Gabel! Wie… Was ist passiert? Von wo rufst du an?«
»Lange Geschichte. Das war die einzige Nummer, mit der ich hier heraus kam. Festnetz. Das Telefon hier lässt keine Smartphone Nummern zu. Hast Du mein Phone mitgenommen?«
Sie klang erschöpft.
»Wo bist du? Gerade eben warst du noch da und dann – wech!«
»Gerade eben? Warte. Wo bist du?«
»Na, in deinem Haus, wo sonst?«
»Welches Datum haben wir… warte mal, das steht ja hier auf dem Display. Wie jetzt? Es ist heute?! Der vierte Februar?«
»Äh, bist du auf den Kopf gefallen, oder so?«, fragte ich verwirrt.
»Ich kann es nicht fassen.«, flüsterte sie abwesend. »Hör zu, du musst mir hier heraushelfen.«
»Ja, klar. Aber wo – und vor allem: Häääh?!«
»Keine Ahnung, Irgendein Turm halt.«, begann sie und schwieg für einige Sekunden. »Fuck! Ich bin in Bremen. Auf einer Turmspitze.«
»What?«
»Bremen. Hier liegt ein Prospekt. Ein Fallturm? So eine Forschungseinrichtung. Die Adresse ist…«
Ich war immer noch wie im Nebel und versuchte mich wieder zu fangen. »Habe ich notiert. Trotzdem: wie bitte?!«
»Okay, es klingt verrückt, ich weiß.«
»Warum gehst du nicht einfach selbst raus – herunter, meine ich?«
»Äh, zum einen, weil die Tür hier abgeschlossen ist, zum anderen bin ich splitterfasernackt. Ich musste von außen ein Fenster einschlagen, um hereinzukommen. Im Moment klammere ich mich hier an eine Heizung.«
Ich wusste nicht wirklich was ich sagen soll. »Okay, ich komme und bring was mit. Dauert aber.«
»Mach schnell, Tim. Etwas zu essen wäre auch toll.«, sagte sie noch und beendete das Gespräch.
Ich legte das Phone wie betäubt beiseite und begann damit Kleidung zusammenzusuchen.
Es ergibt alles keinen Sinn, dachte ich immer wieder.
Nachdem ich so einiges zusammengesucht hatte, ging ich aus dem Haus und schloss die Tür. Diese schnappte ein. Ich war drauf und dran, meinen Schlüsselbund heraus zu holen, um zur Sicherheit noch abzuschließen, als mir einfiel, das ich meine Schlüssel in der Bäckerei liegengelassen hatte.
Klasse! Ein Umweg mehr mit dem E-Bike – ach, fuck!
Es schien, als konnte es kaum schlimmer werden, doch dann stellte ich fest, dass Gabels Phone noch auf dem Küchentisch lag. Super! Nun konnte ich nicht mehr hinein, um es zu holen. Wie blöd war das denn jetzt von mir? Was, wenn sie nochmal anruft?
Ich machte mich eiligst mit meinem Bike auf dem Weg – es war ja nicht abgeschlossen.
Fahrradfahren in dieser Situation? Echt jetzt? Kacke!
QuieeekRappRappQuieek…
Auf halber Strecke nach Bremen hatte ich mich fast an das endlose Quietschen meines Autos gewöhnt und konnte nur hoffen, das die Karre nicht den Geist aufgibt.
Ich entschloss mich, mir ein neues Auto zu kaufen, sobald das alles vorbei war.
Während der Fahrt dache ich darüber nach, wie ich möglichst konfliktfrei in den Fallturm gelangen könnte und hatte dann eine Idee.
In der Stadt dann betrat ich eiligst ein Berufsbekleidungsgeschäft. Dort suchte ich nach einem beeindruckenden Handwerker-Outfit. Schwarzer Jacke und Hose, mit reflektierenden Streifen, eine Cap und feste Stiefel. Zudem noch Handschuhe, die ich in einer Schlaufe am Gürtel tragen konnte, sowie einen Rucksack.
Oh, klar, eine Taschenlampe noch dazu. Gut.
Das sah dann schon fast wie eine Unform aus. Genau richtig.
Smartphone in die Brusttasche und fertig! Der total wichtige Handwerkspolizist Artimas war bereit! Schade, das ich mich morgens rasiert hatte. Ein Stoppelgesicht hätte das Ganze noch so richtig abgerundet.
Danach fuhr ich schleunigst zum Fallturm.
Dort zögerte ich kurz – hoffentlich würde alles klappen.
Ich hob meinen Rucksack lässig über die Schulter.
Im Foyer angekommen, ging ich direkt zum Empfang. Dort saß ein junger Mann, mit einem Buch vor der Nase. Wahrscheinlich ein Student.
»Moin, moin!«, begann ich laut. Lokalkolorit war sicherlich nicht verkehrt.
»Firma Winkler und Lausen! Jonas Mommsen, mein Name.«
»Jo! Was kann ich für sie tun?«
»Wir waren vorgestern im Konferenzraum, um neue Heizrohrschraubsensoren zu installieren. Oben im Turm – wegen der Energieoptimierung.«, antwortete ich, so richtig männlich.
Der junge Mann nickte, als ob er wüsste, was ich meine.
»Leider hat mein Kollege in der Hektik meinen FeSo-400 im Ventilkasten steckengelassen – unter dem Tresen.«
»Wer hatte denn aufgeschlossen?«
Hmmm. Welche Namen gab es da noch, auf der Webseite vom Institut?
»Oh, jetzt fragen sie mich aber was. Es war ein Benno, nee, Berthold, Bernd-«
»Bernd Siebert?«
»Genau der.«
»Der wäre jetzt dafür zuständig, ist heute aber nicht da.«
»jemand anders geht nicht?«, fragte ich.
»Hmm, schwierig. Gestern war Projektabschluss und heute ist Brückentag. Verlängertes Wochenende und so.«
Ich schaute ernst auf mein Smartphone und dann zu ihm. »Mein Chef wird mir die Hölle heiß machen, wenn ich den FeSo heute nicht wiederbekomme.«, ließ ich den jungen Mann wissen.
Er zögerte nur kurz: »Ich könnte ihnen den Schlüssel geben. Sie kennen ja den Weg. Den Lift im ersten Stock kann ich freigeschalten. Sie müssen aber hier unterschreiben.«
»Das isses! Super!«
Er reichte mir ein Tablet.
Kurz darauf war mein Gegenüber wieder mit seinem Buch beschäftigt, derweil ich mich auf den Weg zum Fahrstuhl machte.
Das ich unbegleitet in den Turm gehen konnte, erleichterte mich ungemein.
Ich hatte mir alternativ bereits meine Taschenlampe als Knüppel ausgemalt.
Geld war zwar auch genug da, doch Bestechung wäre mit einem weiteren Risiko verbunden gewesen, denn Geldautomaten und Banknotennummern sind eine kompromittierende Kombination.
Oben angekommen und einige Treppenstufen später, schloss ich die Tür zum Konferenzraum auf. Gabriella hatte sich hinter einem Tresen versteckt, sah mich nun aber erleichtert an. Sie war verschmutzt und wirkte ausgemergelt, stellte ich erschrocken fest. Zudem schien sie längere Haare zu haben, als heute Morgen – what the fuck?
Ich schob ihr den Rucksack zu.
»Da ist auch Schokolade drin.«, flüsterte ich.
»Danke.«
Danach zog ich meine Handwerkerjacke aus. Darunter trug ich eine Strickjacke. Diese gab ich ihr. »In den Rucksack passten nur noch Pantoffeln mit rein. Die habe ich irgendwo schnell gekauft. Im Auto sind Schuhe und eine dicke Jacke.«
Ich suchte nach Stopfmaterial und fand glücklicherweise jede Menge Papierservietten. Ein leerer Rucksack wäre sicherlich aufgefallen.
Gabriella schwieg, während sie sich anzog.
»Hör mal«, sagte ich leise, »wir müssen hier alle Flächen abwischen, die du angefasst hast. Wegen Fingerabdrücken. Ist vielleicht übertrieben, aber besser ist besser.«
Sie nickte kurz, während sie eine Schokoriegelverpackung öffnete. »Sicher nicht verkehrt. Mache ich.«
»Oben ist nur das Fenster beschädigt, ja? Ich gehe schnell hoch und regle das.«
»Okay«, antwortete sie müde.
Die Spitze des Fallturmes war so etwas wie eine kleine, runde Lounge, mit einem Konusförmigem Glasdach aus mehreren Fenstern, sowie einem Überhang mit flacher Brüstung, an der Außenseite.
Wie ist sie dort hingekommen?
Eines der Fenster konnte Gabriella wohl eindrücken. Ein morscher Betonbrocken diente ihr als Werkzeug. Offenkundig löste sich das Verbundglas dabei aus den Dichtungen, fiel hinein und zerbrach.
Danach hatte sie Glassplitter auf dem Boden beiseite geschoben, um sich nicht an den Füßen zu verletzen. Dazu benutzte sie das Polsterkissen eines Sessels, der in Reichweite stand.
Ich arrangierte alles auf die Schnelle so, dass gar nicht erst der Eindruck aufkommen konnte, jemand wäre hineingeklettert. Den Brocken verpackte ich im Rucksack. Sollten sich die Leute vom Institut doch ihren eigenen Reim darauf machen, was geschehen war. Vögel, Gefrier-Fäkalien aus einem Flugzeug-Klo; irgendwas halt, nur eben keine Person.
Danach ging ich zurück zu Gabriella. Sie hatte sich inzwischen komplett angezogen.
Wir stiegen kurz darauf in den Lift. Ich hoffte, dass es keine Überwachungskameras auf dem Weg gab – und wenn doch, dass niemand diesen Aufmerksamkeit schenkte.
»Okay, unten ist ein Empfang. Dort sitzt jemand. Den muss ich ablenken. Danach gehst du einfach raus und wartest dort auf mich.«
Sie nickte.
Im Foyer angekommen bemerkte ich, dass der junge Mann immer in seinem Buch las. Ich ging, ohne zu zögern, auf den Tresen zu, hob meinen Zeigefinger und deutete auf ihn.
»Da isser! Der Mann der Stunde«, rief ich laut.
Er sah auf und musste grinsen. Daraufhin gab ihm den Schlüssel zurück und lenkte ihn ab, damit sich Gabriella an ihm vorbeischleichen konnte.
»Das war jetzt meine Rettung. Sach´ mal, kann ich dich kontaktieren?«, fragte ich, »Mein Vater hat ein Restaurant in Oberneuland. Ein Gutschein wäre das Mindeste.«
Das war gelogen. Autsch.
»Cool!«
Er gab mir eine Visitenkarte.
Ich konnte beobachten, wie Gabel hinausging.
Danach verabschiedete ich mich und verließ das Institut.
Übrigens hatte ich tatsächlich vor, dem Studenten großzügig und anonym etwas zukommen zu lassen, zumal er wahrscheinlich wegen mir Ärger bekommen würde.
Fair ist fair.
Die Fahrt zurück nach Hause verlief still – vom ewigen Qietschen abgesehen, aber das störte uns herzlich wenig.
Daheim im Wald bestand ich darauf, das sie sich Gabriella hinlegt. Sie widersprach nicht, warf sich in ihrer Kleidung auf ihr Bett und schlief sofort ein.
Später saß ich unten in der Küche und dachte über so vieles nach. Mir war nicht nach Schlaf zumute.
Irgendwann kam Gabel die Treppe herunter und kramte zielstrebig in der Abstellkammer herum. Danach stellte sie ein zwei-Liter-Tetra-Pak auf den Tisch und schaltete den Herd an.
»Echt jetzt?«, fragte ich erstaunt. »Wie viele Kartons von dem Zeugs hast du eigentlich noch?«
Sie lächelte und goss Glühwein in einen Topf. »Warm ist besser.«
Irgendwann tranken wir und schwiegen zunächst.
»Vielen Dank nochmal.«
»Klar.«, sagte ich.
»Jede Menge Fragen, ja?«
»Jep. Jede Menge.«
Sie nickte und begann zu erzählen.
Es wurde eine lange Nacht.