Beim Ordnen alter Dateien unter Papyrus fiel mir folgender innerer Dialog ins Auge, den ich vor etwa zwei Jahren belauschte, als ich (mal wieder) in meinem Nemesis-Projekt feststeckte. Daran hat sich bis heute, allen guten Vorsätzen zum Trotz, nicht viel geändert.
Die Dialog-Kontrahentinnen sind K=Kreativität und F=Fantasie und sorry für die Länge, aber wenn die Beiden aneinander geraten …
K: »Na, sieh mal an, so trifft man sich endlich wieder!«
F: »Hallo? Warum gleich so zickig?«
K: »Hast dich ja hübsch rar gemacht in den vergangenen Wochen!«
F: »Wieso? Hast du mich etwa vermisst?«
K: »Vermisst ist untertrieben! Du weißt selber, wie sehr ich dich brauche! Ich habe regelrecht am Rad gedreht, als du sang- und klanglos abgetaucht warst.«
F: »Du meine Güte! Da gönne ich mir einmal eine kurze Auszeit, die bitter nötig war, weil du mich regelrecht ausgesaugt hast. Warum belämmerst du nicht zur Abwechslung andere mit deinem Problem?«
K: »Ach, hör doch auf! Ich habe Fleiß um Hilfe gebeten, die alten Ideen angerufen, bin sogar zum Gedächtnis nach Hause gefahren, alle hatten nur faule Ausreden, warum sie mir gerade jetzt nicht helfen können. Die Inspiration ist seit Wochen verreist und unerreichbar. In meiner Verzweiflung habe ich dann sogar das Gelaber der Logik über mich ergehen lassen.«
F: »Und?«
K: »Nichts und. Nicht innovativ, nicht originell, todlangweilig.«
F: »Jetzt lass dich nicht so hängen! Du bist undankbar, denn wir alle reißen uns nonstop für dich die Gene auf. Also hör auf zu jammern! Was hast du bis jetzt?«
K: »Okay, ich kenne das Problem und die Ausgangssituation. Danach habe ich, wie immer, das Ziel definiert. Gleich im Anschluss, dem Gesülze der Logik und ein paar hilfreichen Tipps vom Gedächtnis sei Dank, habe ich alle Fakten zusammengetragen, aber danach habe ich mich hoffnungslos verfranzt. Seitdem fühle ich mich total uninspiriert. Ohne dich komme ich nicht weiter.«
F: »So, so. Es geht also um die Wurst oder ums Eingemachte – apropos, irgendwie habe ich plötzlich Hunger. Du auch? Könntest du uns fix ein paar Häppchen machen?«
K: »O, bitte fang nicht wieder an, zu prokrastinieren! Ich werde wahnsinnig!«
F: »Ha, ha, Genie und Wahnsinn – ein anderes dysfunktionales Duo in unserem Schaffenskreis. Sei nicht sauer – ich verstehe doch deine Sorgen. Du brauchst jetzt meine Imagination, meine Fähigkeit Gedanken zu malen, damit du sie mit deinem Gedächtnisinhalt neu verknüpfen kannst. Ich liebe deine Phase des Brainstormings über alle Maßen, in der alles möglich ist, alle Grenzen aufgehoben sind und ich richtig aus dem Vollen schöpfen kann!«
K: »Hör auf zu schwärmen und leg´ endlich los, damit ich mitschreiben kann.«
F: »Langsam, gute Freundin, nicht so hektisch! Was habe ich eigentlich davon?«
K: »Wie meinst du das, und seit wann ist dir das wichtig? Nach unserer gemeinsamen kreativen Phase, filze ich alles genau durch, kläre, trenne Nützliches und Brauchbares von Blödsinn, schaffe neue Verbindungen, erfinde, entdecke und setze all das zum Endergebnis um, dem großen Paukenschlag. Das Ergebnis sollte sich dann sehen lassen können! Wenn du möchtest, kann ich dich kurz erwähnen. Oder was hast du dir sonst vorgestellt?«
F: »So, wie ich es fragte. W-A-S H-A-B-E I-C-H D-A-V-O-N? Oder glaubst du kleine ‚Schlüsselkompetenz‘, ich schenke dir weiterhin ganz selbstverständlich meine Ideen, damit du den Lohn ernten kannst?«
K: »Meine liebe Fantasie! Eines will ich mal klarstellen. Du bist ein Teil von mir, zwar mit gewissen Freiheiten, aber mehr auch nicht. Denn ohne mich, könntest du dich überhaupt nicht mitteilen. Kaum jemand erführe, dass du überhaupt existierst, würde ich nicht mit meiner Gabe, dich mit der Wirklichkeit in Einklang zu bringen, den sichtbaren Beweis liefern. Wie oft hast du mir schon Flöhe ins Ohr gesetzt, die nicht umsetzbar waren und alle schrien auf, ich sei nicht mehr kreativ. Dein Gewinn sind meine Ergebnisse, die von dir zeugen und wiederum die Basis für neue Ideen sein können. Ohne mich wärest du unsichtbar!«
F: »Nun, wenn das so ist, liebste Kreativität, kann ich meine Auszeit ja getrost noch ein wenig ausdehnen und mache mich mal ohne dein Zutun unsichtbar. Meines Wissens bist auch du nur ein Teil von etwas Größerem und womöglich verzichtbar, wenn du deinen Job nicht mehr beherrschst. Vielleicht gelingt dir dein Projekt sogar ohne meine Hilfe, aber ich versichere dir, das wird verdammt schwer! Weißt du was? Du kannst mich mal küssen, wo ich schmutzig bin!«
Dieser Zwist führte mir erneut die unterschiedlichen Eigenschaften von Fantasie und Kreativität vor Augen. Zwei von vielen Begriffen, die fälschlicherweise häufig synonym verwendet werden. Fantasie erschafft die Ideen, die die Kreativität umsetzt. Es gibt Ideen, die sich nicht verwirklichen lassen – dann bin ich nicht kreativ. Fantasie hat jeder und man kann sie erweitern, aber leider auch verkümmern lassen. Fantasie ist die Frage, Kreativität die Antwort. Fantasie hat kaum Grenzen, Kreativität hingegen schon. Zur Kreativität gehören aber neben Fantasie noch Begeisterung, Eifer, Fleiß, Disziplin, handwerkliche Fertigkeiten, Talent und die Gabe, das Vorgestellte mit der Realität in Einklang zu bringen, um etwas zu erschaffen, zu ‚schöpfen‘.
Die Fantasie eines kleinen Kindes fragt, ob Popel wohl zum Mond fliegen können, die Kreativität lässt es aus Toilettenpapierrollen, Watte, Papier, Zwirn, Klebstoff und allerlei Krimskrams experimentieren, bis eine nützliche Trägerrakete entsteht. Diese schöpferische Kraft, den Erfindungsreichtum, die Fähigkeit, alte Denkweisen aufzuweichen, um neue Verbindungen zu schaffen, gilt es früh zu fördern. In jedem Alter (im Erwachsenenalter bitte ohne Popel)! Die erwachsene menschliche Fantasie greift nach den Sternen und ermöglichte der Kreativität den Spaziergang auf dem Mond und eines fernen Tages die Schaffung eines Vergnügungsparks auf dem Mars. Sie ist zudem die Voraussetzung für Empathie, ohne die wir kaum befähigt wären, beispielsweise einen einfühlsamen Roman zu schreiben.
Wenn wir Schreiberlinge uns mal wieder in einer Schaffenskrise befinden oder uns an einer Blockade die Zähne ausbeißen, weil sich die Fantasie eine Pause gönnt, hilft es manchmal, wenn wir das restliche ‚Team‘ zusammentrommeln und andere Projekte beispielsweise nur mit Handwerk und Fleiß produzieren, denn das ärgert die Fantasie, und sie lässt sich mit Eifersucht gut provozieren. Oder wir stärken uns in der Zwischenzeit mit neuem Wissen, Spionage bei der Konkurrenz oder dem Üben vorhandener Fähigkeiten.
Vielleicht spornt uns auch jemand zu kreativer Leistung an? Seid ihr schon einmal von einer Muse (sie wird gerne mal mit der Muße verwechselt) geküsst worden? Verratet, wer es war oder ist, und wie sich dieser Kuss auf eure Arbeit auswirkt.