„Weihnachtsgeschichte“ - würde mich über Feedback freuen
Früher war alles besser.
Früher war alles besser, zumindest wenn man Oma fragte. Aber sie sagte es einem auch so. Immer wieder. Ständig. Ungefragt.
„Früher hätte es das nicht gegeben, Susanne.“
Omas genervte Stimme hallte durch die Küche. Ich hörte, wie Mama seufzte, aber sie sagte nichts. Sie hat es aufgegeben, Oma vom Gegenteil überzeugen zu wollen.
„Und wie kommst du wieder nachhause?“
Mama richtete ihre Frage an mich und ignorierte Oma, was sie allerdings nicht sonderlich zu stören schien. Ihre Tirade ging weiter, egal ob man ihr zuhörte oder nicht.
„Ich würde mit Theo mitfahren.“
„Ein Junge? In deinem Alter?“ Oma bekam einen hochroten Kopf. „Also, als ich in deinem Alter war, hätte es so etwas nicht gegeben.“
Als du in meinem Alter warst, hat es vieles noch nicht gegeben, wollte ich erwidern, lies es aber bleiben. Mama sagte immer, das bringt nichts. Oma lebt in ihrer eigenen Welt, in der Vergangenheit, in einer Zeit in der alles so viel besser war.
„Es wäre schön, wenn du noch zur Weihnachtsmette bleiben würdest. Dann kannst du gerne zu dieser Party.“
Ich jubelte auf, ignorierte dabei Omas entsetztes Gesicht. Gleich würde es so richtig los- gehen, das merkte ich an der tiefen Falte auf ihrer Stirn, die sich dabei immer bildete. Unge- rührt dessen umarmte ich meine Mama, dankbar, dass sie sich nicht von ihrer Schwieger- mutter beeinflussen ließ. Denn das hätte mir das Leben wirklich schwer gemacht.
„Danke. Ich werde Theo gleich schreiben.“
Ich setzte mich auf die Couch und zog mein Handy heraus. Noch so ein Teufelsding, das es früher nicht gegeben hätte. Oma war gegen alles, was Fortschritt bedeutete. Gegen alles, was ihr neu war.
„Susanne, ich appelliere an deine Vernunft. Du kannst doch nicht ein fünfzehnjähriges Mäd- chen an Heilig Abend zu einer Party gehen lassen. Wer weiß, was sie dort alles treiben …“ „Sechzehn!“, schaltete ich mich ein, hob aber nicht den Blick vom Handy.
Kurz blieb es still, vermutlich rechnete Oma nach. Ich konnte spüren, dass meine Mutter lächelte. Sie mochte es, dass ich Konter gab, dass ich nicht alles einfach so hinnahm. So hatte sie mich erzogen. Willensstark und mutig.
„Nun, da ist nicht viel Unterschied. Ein Mädchen in deinem Alter gehört zu seiner Familie. An Heiligabend feiern wir die Geburt Jesu, nicht eine Party mit wildfremden Männern. Weißt du, wie man früher solche Mädchen genannt hat?“
Ich schnappte nach Luft. Sie würde mich doch nicht beleidigen. Oma war schon immer recht- haberisch, eigensinnig und altmodisch. Aber beleidigt hatte sie mich noch nie. Ich wusste, dass sie es nicht leicht hatte als Kind. Das ist der Grund dafür, dass ich stets so nachsichtig war. Sie tat mir leid, weil ich wusste, was sie als Kind durchgemacht hatte. Wie sie als billige Magd gehalten wurde und sie so arm waren, dass es zu Weihnachten oft nicht einmal genug zu essen gab. Genau aus diesem Grund verstand ich nicht, warum sie so daran festhielt, dass früher alles besser war. Aber vielleicht klammert man sich auch einfach nur an das, was man kennt.
„Möchtest du den ersten Keks probieren?“, wendete sich meine Mutter an sie. Vermutlich hatte sie uns damit gerade einiges erspart. Auch wenn es mir beigebracht wurde, respektvoll
zu Älteren zu sein, hätte ich mich heute wohl nicht zurückhalten können. Ihre ständigen Anmerkungen waren das eine und mit einem guten Nervenkostüm gut auszuhalten, aber mich zu beschimpfen, hätte diesen Rahmen gesprengt.
Ich sah auf. Oma blickte irritiert zwischen dem Keks, der gerade frisch aus dem Backrohr kam und mir hin und her. Sie liebte Vanillekipferl und sie wurden jedes Jahr nach dem Rezept ihrer Großmutter gebacken. Deshalb war sie auch heute hier und hatte so leider meine Pläne für Weihnachten mitbekommen.
„Ich wollte gerade …“, begann sie zögerlich, doch ich merkte, wie sich ihre Aufmerksamkeit immer weiter von mir weg hin zu der Köstlichkeit auf dem bunten Weihnachtsteller wendete. Tränen bildeten sich in ihren Augen. Ich sah Oma selten emotional. Doch jedes Jahr, wenn Mama und sie das erste Blech Vanillekipferl aus dem Rohr nahmen, erkannte ich eine Trau- rigkeit, die sie das restliche Jahr über gut versteckte. Sie streckte ihre Hand aus, zitternd und stillschweigend. Andächtig betrachtete sie jedes Einzelne davon und nahm sich dann den größten Keks vom Teller. Sie hielt ihn in Händen, als wäre es das Kostbarste auf der Welt. „Jedes Jahr zu Weihnachten, wir hatten nicht viel, müsst ihr wissen, kam meine reiche Tante aus der Schweiz zu uns und brachte uns Lebensmittel, damit wir über den kalten Winter kamen. Sie blieb ein paar Tage bei uns, spielte mit uns Kindern und wir backten Vanillekipferl nach diesem uralten Rezept.“
Oma musste sich setzen. Sie schwankte, hielt sich fest und fixierte dabei weiterhin diesen einen Keks. Mir wurde ganz komisch ums Herz. Ich fühlte ihre Traurigkeit, eine Art von Weh- mut, die mich in den Bann zog.
„Wir hatten nicht viel. Nein wir hatten gar nichts. Nicht, wie ihr jungen Dinger heutzutage. Aber wir hatten diese Kekse. Abgezählt. Für jeden drei Stück …“
Mama stellte sich neben meine Oma und tätschelte ihre Schulter. Sie war oft genervt von ihrer rechthaberischen Schwiegermutter, doch in solchen Momenten konnte sie ihr nicht böse sein.
„Dann solltest du ihn essen und genießen!“, forderte sie Oma auf. Dabei lächelte sie so sanftmütig, wie ich es nur von meiner Mutter kannte.
Oma strahlte, nickte mehrfach und biss in den Keks. Sie seufzte wohlig auf und ihre Augen leuchteten dabei.
„Genau so hat er damals auch geschmeckt.“
Und plötzlich verstand ich. Früher war gar nicht alles besser. Sie hatte selbst so vieles erlebt. Das was sie so vehement festhielt an der Vergangenheit, war dieser eine schöne Moment in ihrer Kindheit. Dieser Augenblick, der sie vermutlich ihre ganze Kindheit überstehen ließ. Er gab ihr Kraft weiterzumachen, er brachte die Familie zusammen und bescherte ihnen einen schönen, unvergesslichen Moment.
Ich stand auf, legte mein Handy beiseite und nahm mir ebenfalls einen Keks.
„Na, dann will ich mal kosten, Oma. Ich bin mir sicher, sie sind dir hervorragend gelungen!“