Franz Kafka - Das Schloss

Wie kann “Das Schloss” eines der bedeutendsten Werke Kafkas sein, obwohl er es nie beenden konnte?
In der Schule musste ich mich da durch quälen. Als der Deutschlehrer sagte, das Werk sei nicht vollendet, hatte ich schon gar keine Lust, mit dem Lesen anzufangen.
Dass dennoch viele Leute davon gefesselt sind, ist faszinierend. Was meint ihr dazu?

Hallo Suse,

wenn Das Schloß “eines der bedeutendsten Werke Kafkas” sein soll, hieße mich das fragen, welches seiner Werke dann “weniger bedeutend” seien und wie so ein Urteil begründet werden könnte (womit ich ausdrücken möchte, daß mich dünkt, vom gesamten *Oeuvre *Kafkas sei eigentlich verdammt wenig … ähm … “unbedeutend”).
Wie bekannt, hat Franz K. selbst testamentarisch verfügt, der größte Teil seiner literarischen Hinterlassenschaft – von welcher nur ganz wenig zu Lebzeiten veröffentlicht wurde – sei zu vernichten. Wir haben mithin davon sowieso nur Kenntnis, weil Max Brod gegen den Letzten Willen seines Freundes verstieß und die unzähligen Manuskriptseiten nicht verbrannte, wie von Kafka gewünscht. Wenn man so will (was sich mit vielen Kafkas privater Notizen und Tagebücher sowie Briefe deckt): Er glaubte selbst offenbar nicht so recht an viel Bedeutungsvolles in seinem Geschreibsel …

Die Nachwelt beliebte allerdings, das anders zu sehen. Genauer gesagt: Jener (insgesamt) wahrscheinlich eher kleine Teil von ihr, der zu sog. “hoher Literatur” überhaupt Affinität zeigt; denn es dürfte klar sein, daß dem Großteil der Menschheit Kafkas Romane, Erzählungen, Parabeln usw. vollkommen “am Arsch vorbeigehen” und wiederum ein erklecklicher Teil dieser Masse kaum auch nur seinen Namen kennen wird. – Und eingedenk dieses Umstands erst, will mir scheinen, wird überhaupt ein Feld aufgerissen, das vielleicht am ehesten geeignet ist, Gedanken sprießen zu lassen, warum es für manche Leser weniger wichtig ist, ob ein Werk fragmentiert oder unvollendet vorliegt denn für andere.

Das einigermaßen erschöpfend zu erörtern bedürfte wahrscheinlich einer vielhundertseitigen Monographie, die hier leider nicht zur Darstellung gebracht werden kann. Deshalb kapriziere ich mich mal auf einen Gedanken: Es gibt Menschen, die lesen um des Lesens willen, weil sie dadurch in einen Zustand versetzt werden, der sie des Strangulierenden an der Realität – allein im Dunstkreis vielbeschworener Faktizität – enthebt und stattdessen in jene Sphäre des Wirklichen einläßt, die vom Fiktionalen mitstrukturiert wird. Würde das damit nur notdürftig Angedeutete (Stw: Monographieunmöglichkeit) unter ästhetischen Kategorien zuende gedacht, träte vielleicht neben anderem dies zutage: Was liegt i.S. von Fiktionalität im Rahmen ästhetischer Erfahrung eigentlich an einem definitiven “Zuendekommen” von einem Roman oder einer Geschichte oder auch eines Gedichtes? Warum sollte es dessen bedürfen? – Denn sofern von einer tatsächlichen, also authentischen äE auszugehen ist – womit z.B. bei Kafka meiner bescheidenen Ansicht nach zu rechnen ist! --, wird der Rezipient ja allein schon durch das fragmentarisch vorliegende Material so präpariert, daß ihm am Ende eh klar wird, daß es ein Ende *niemals *geben kann! Oder anders ausgedrückt: Selbst wenn Franz K. seinem Roman Das Schloß formal betrachtet ein Ende gegönnt hätte, wäre ja dadurch mitnichten ein Ende des Deutungsvorganges verbunden gewesen: Denn wir wissen schon seit Kants Analysen in der KdU – und seitdem ist das ständig weiter vertieft (aber niemals aufgehoben) worden --, daß ein authentisches literarisches oder auch sonstiges Kunstwerk kein Ende hat (übrigens sowenig wie einen Anfang!), auch wenn der Autor am Ende “Ende” hingepinselt hat!
Brauchst du, liebe Suse, wenn du die überlieferten Fragmente der Dichtungen Sapphos liest, die “ganzen Gedichte”, um von den gefügten Worten dieser unsagbaren frühgriechischen Lyrikerin in Bann gezogen zu werden? Brauchst du wirklich “ein Ende” des Schlosses oder des Prozesses (der ja auch “nicht fertig” auf uns gekommen ist), um von Kafkas Erzählung gleichen Namens fasziniert zu sein? Meine mir liebste Erzählung Kafkas ist neben Vor dem Gesetz die ebenfalls Fragment gebliebene Erzählung über den *Jäger Gracchus. *Wenn ich sie lese, was öfters vorkommt, habe ich mir noch niemals vorstellen können, wie ihr Ende habe aussehen sollen. Für mich atmet sie geradezu aus ihren vorgeblichen Nicht-Beendetsein. Denn ich erhalte ja dadurch sozusagen noch eine Extra-Portion imaginativer Freiheit beim Lesen und Nachdenken darüber, die mir ansonsten vielleicht – freilich wirklich nur vielleicht – verloren ginge.

Weiter oben war von den Wenigen und von den Vielen die Rede, denen der Name Kafka überhaupt etwas sagt oder eben nicht. Am zuletzt Gesagten kondensiert das lektürerelevante Spiegelbild davon: Was sog. “hohe Literatur” von bloßer U-Lit. fundamental scheidet (von den Trash-Bergen, die noch dazukommen, ganz zu schweigen), besteht u.a. darin, daß sich die Leser der Ersteren immer auf ein Wagnis einlassen, das unzählige Auffaltungen impliziert; und unter anderem eben dies: Mit dieser Lektüre niemals, streng wörtlich niemals, “fertig zu werden”! Und zwar ganz unabhängig davon, ob die rezipierte story nun einen Anfang oder ein Ende hat oder nicht! Thomas Mann hat das zu Anfang seines monumentalen Joseph-Romanes explizit signiert, indem er auf die unerschöpfliche Tiefe der “Brunnen der Vergangenheit/Erinnerung” abhebt, womit klar ist, daß es schon mal keinen Anfang geben kann, sondern wir bei authentischen Kunstwerken immer schon “mittendrin” sind; und bzgl. irgendeines Endes sieht es in Wirklichkeit natürlich kein bißchen anders aus. *Das *-- und einiges andere – scheidet diese Art des Schreibens und Lesens vom Rezipieren und Produzieren der Elaborate des U-Sektors und noch viel gravierender des Trashs. Die brauchen freilich einen Anfang und ein Ende, weil ihre Rezipienten ja auch gar nicht von der Erwartung angetrieben werden, eine ästhetische Erfahrung machen zu wollen. – Mit Betracht auf das ganz am Anfang Gesagte: Solche Literatur überschreitet den Limes nicht, der die Wirklichkeit teilt: Nämlich ins Faktische hier und ins Fiktionale andererseits. Das Letztere kondensiert nur dort am Bewußtsein der Leser, wo die Faktizität des So-und-So-Seins der Dinge transzendiert wird, also bei anspruchsvoller Literatur. Und nun der Schluß: Wo Transzendenz statthat, ist die Illusion [sic!], es gäbe einen Anfang und ein Ende, sowieso zerbröselt … und nun ist klar, warum Kafkas Das Schloß Menschen mit einer bestimmten lit. Erwartungshaltung auch ungeachtet der Tatsache, daß dieser Roman kein Ende hat, zu faszinieren vermag.

Viele Grüße von Palinurus

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Offenbar magst du ihn ebenso wenig wie ich.

Ja. Ich glaube schon. Sonst bleibt zum Schluss die Frage “Was soll das?” Das kann natürlich auch sein, wenn es ein Ende gibt, aber ich würde dann anders darüber nachdenken.

Das ist mir leider immer noch nicht klar, aber du hast mir viel Stoff zum Nachdenken gegeben.

Hallo Suse,

du kommst aufgrund meiner Anmerkungen zu Kafkas Das Schloß auf das Urteil:

Ich glaube, daran läßt sich gut demonstrieren, daß ein Text auf diverse Leser sehr unterschiedlich wirken kann. Es ist nämlich so: ich schätze Franz K. sehr und u.a. auch seinen hier in Rede stehenden unvollendeten Roman. – Und nicht, daß da Mißverständnisse auftreten: Es ist für mich kein Problem, wenn du zu einem anderen Schluß kamst; denn bestimmte Arten zu schreiben eröffnen durchaus unterschiedliche Lesarten.

Dann schreibst du, eines definitiven Endes bedürftig zu sein, weil sonst die Frage bliebe, “was das soll”. – Damit wird eine zweite Dimension dessen aufgerufen, wovon ich eben sprach (diverse Weisen von Lektüre betreffend bei bestimmten Texten). Denn bei mir ist das anders; und ich glaube, nein: ich* weiß* sogar, daß das nicht nur bei mir so ist: Es gibt also Menschen, bei denen deine Frage nicht auftaucht. Andersherum gesehen bedeutet das: Sie wissen auch ohne Ende vom Schloß, worauf Kafka “hinauswill”, also “was das soll”.

Sind die nun “schlauer als du” oder “tun die vielleicht sogar nur so”, weil sie nicht zugeben können oder wollen – aus Eitelkeit oder sonstigen Gründen --, “nur Bahnhof zu verstehen”? – M.E. ist weder das eine noch das andere der Fall. Sondern sie lesen offenbar anders als du (wobei hier ‘Lesen’ mehr meint als nur Buchstaben- und Wortkettenidentifizierung). Und dieses Lesen ist – das hatte ich kürzlich schon einmal angedeutet --, ein genauso kreativer Akt (nur anders konfiguriert) wie der des Schreibens. Daraus folgt mit einer bestimmten Unabdingbarkeit, daß es unter Menschen zu auseinanderstrebenden Ansichten über bestimmte Kunstwerke kommt (und dem Tenor der meisten kunstverständigen Leute nach ist Das Schloß freilich ein solches): Manche sehen darin wahnsinnig viel und werden von ihm zu unendlichen Assoziationen und Imagination angeregt, während anderen beinahe nichts dazu einfällt …
Als Pendant zum Kafka-Fall führe ich dazu mal den für mich offenbar heiklen Fall des Joan Miró i Ferrà an: Ich finde keinen Zugang zu den meisten seiner Werke und halte ihn im Grunde genommen für einen Schmierfinken. Darüber gab es früher mit Freunden und auch anderen Leuten gelegentlich – teils sogar heftigen – Streit. Inzwischen nicht mehr, weil ich’s weitgehend vermeide, darüber noch irgendwelche Aussagen zu tätigen, denn ich mußte erkennen, mit meiner Haltung Miró gegenüber unter Leuten, “die was von Kunst verstehen” (oder es zumindest wähnen), ziemlich allein dazustehen. Zwar kann das meine Einstellung zu ihm nicht ändern – ich muß aber zur Kenntnis nehmen, daß ich tatsächlich im Irrtum sein könnte … und dann tut es ja nicht gut, wenn man gleichwohl marktschreierisch und borniert ausschließlich am eigenen Urteil festhält. – Kurz: In den Augen der meisten Verständigen gilt Miró als bedeutender Künstler – seine Werk hängen in den großen Museen der Welt --, kaum jemand teilt meine Ansicht … folglich werde wohl ich bei seiner Beurteilung einen blinden Fleck haben und nicht alle anderen … und damit Ende Gelände.

Vielleicht würde fast jeder Mensch einen oder sogar mehrere Fälle finden, bei denen er offenbar nicht richtig liegt in ästhetischen Fragen (denn nur um diese geht es in solcherlei Angelegenheiten); und da es dabei niemals um Wahrheit geht (Richtigkeit ist ein anderer Geltungsanspruch der Rede als Wahrheit), hat das auch nichts mit Dummheit zu tun, sondern wir verkennen dann eben die Relevanz von irgendetwas, das den anderen präsent ist, während es uns einfach nicht “vor die Linse kommen” will.
Am besten wird es wohl für dich sein, wenn du Kafka einfach ignorierst (ich mach es jedenfalls so mit Miró – wobei du’s m.A.n. dann leichter haben wirst als ich, weil einem ja gefühlt anbei von Besuchen bei Freunden usw. in jedem zweiten Wohnzimmer oder Flur eine Reproduktion von ihm ins Auge springt, was im Fall von Kafka wohl nicht erwarten ist, also dann hinsichtlich irgendwelcher Gespräche über ihn o.ä.). Denn da du ja artikulierst, ihn nicht zu mögen, sind wohl auch Vorurteile vorhanden, die jede weitere Lektüre nur zur Qual machten (wie es mir mit dem Glotzen-Müssen auf Miró-“Schmierereien” fast überall geht). Das Schöne ist ja, daß man sich in ästhetischen Belangen Vorurteile leisten kann. Sofern ist da immer auch ein Trost im Beharren auf dem Eigenen: Denn niemand darf sich aufspielen dahingehend, ein ästhetisches Urteil für unanfechtbar auszugeben …

Für dich zur Info: Max Brod hat in den Erläuterungen zur Ausgabe von Das Schloß angegeben, wie sich Kafka das Ende des Romanes gedacht hat. Zur gleichen Zeit, da der (angebliche) Landvermesser K stirbt, geht vom Schloß die Nachricht ein, daß seinem Ersuchen bedingt stattgegeben wird. Anders als im Prozeß wird er also im *Schloß *nicht hingerichtet, sondern er richtet sich – von einer bestimmten Warte aus betrachtet – vielmehr selbst zugrunde im Zustand des Wartens …

**Oder:
**
Das Schloß sorgt doch für seine Hinrichtung, indem es ihn über die unendlich scheinende bürokratische Prozedur quasi krankmacht und ihn dergestalt auf eine gewisse Weise zum Henker an sich selbst werden läßt. Wobei er dann – wie eigentlich gewünscht – eben doch eine Funktion für das Schloß habe wahrnehmen können …

Oder …

Oder …

Oder …

Überlege vielleicht einmal, was bei aller Varianz der ganzen Ausdeutungsmöglichkeiten im Roman Das Schloß immer gleich bliebe, also nie weg-reduziert werden könnte (auch ohne Ende). Sofern du es erkennst, wird es vielleicht leichter, den Roman als Fragment anzuerkennen, denn was “wirklich wichtig” ist an der story, hat Kafka meiner bescheidenen Ansicht nach sehr klar angeführt (was ja der Grund ist, warum der Roman auch ohne Ende vollständig ist).

Viele Grüße von Palinurus

Das ist ja völliger Blödsinn. Dass man seine Meinung vehement kundtut und zum Teil auch penetrante Überzeugungsversuche startet, finde ich normal. Aber deswegen streiten?

Möglicherweise könnte ich das Ding ja noch mal lesen. Es steht immer noch bei mir im Schrank. Habe es jedoch seit meiner Schulzeit nicht wieder in den Händen gehabt, nicht einmal, um es vom Staub zu befreien.

Ich würde mich selbst nicht als Kafka-Fan bezeichnen, kann aber die Faszination sehr gut nachvollziehen. Er hat zumindest bei mir einen seltsamen Effekt erzeugt. Das Lesen seiner Werke hat mir absolut kein Vergnügen bereitet. Die Beklemmung, die Absurdität, das unlogische Verhalten der Figuren und das ständige Gefühl, etwas verpasst zu haben, hatten einen nicht geringen Anteil daran, dass ich mich geradezu durch die Geschichten hindurchquälen musste. ABER: es hat mir im Gegensatz dazu großes Vergnügen bereitet, im Nachhinein über das Gelesene nachzudenken (allein oder mit anderen). Es steckt so viel drin, dass die Gedanken anregt. Woher kommt die Beklemmung? Wieviel Autor steckt im Werk und wieviel man selbst? Und was hat das eigentlich alles zu bedeuten? Das geht soweit, dass ich bis heute gerne über Kafka spreche. Aber ich muss mich sehr dazu zwingen, noch einmal eines seiner Bücher zur Hand zu nehmen oder einen auf seinen Werken basierenden Film zu schauen.

Was das fehlende Ende vom Schloss angeht, möchte ich etwas salopp ergänzen, dass ich so einige Bücher gelesen (und gemocht) habe, wo ein fehlendes Ende wohl besser gewesen als das vorhandene. Das Vergnügen an einer Lektüre kommt ja zum Glück nicht erst am Ende.

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Wie wahr. Allerdings kann das Vergnügen einer Lektüre von einem schlechten Ende erheblich geschmälert werden. Insofern vielleicht kein Manko, daß dem “Schloß” das Ende fehlt - ich kann da allerdings nicht mitreden; Kafka hatte ich in der Schule zuletzt in der Hand und hatte einen derart intensiven Anfall von spontaner Antipathie, daß ich ihn wohl nie wieder anfassen werde.

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