Ich würde mich über ein Feedback von Euch freuen zu meiner Kurzgeschichte, was den Schreibstil, die Verständlichkeit angeht. Die Geschichte ist zusammengebaut aus den vorgegebenen Zufallswörtern von einem Schreibideen-Generator: Festival / Gebälk / Autosuggestion / Neider / Rumänisch / konzertant / jemandes Idee gewesen.
Festival auf Leben und Tod
Gleich … gleich ist es vorbei …
Totenstill ist es. Jülide lässt sich treiben. Gleitet fort in die Nebel der Zeit. Seichter Morgenwind trägt die angenehme Kühle der letzten Nacht durch das ausladend weit geöffnete, bodentiefe Badezimmerfenster. Erfasst die schimmernden Vorhänge. Umspült damit die Konturen einer wie aus Marmor gemeißelten, nachtschwarz gekleideten Göttin. Spielt mit deren langen, rot wallenden Haaren. Jülide ist schön wie eine der Königinnen von Avalon, auch wenn sich bereits sanfte silberne Lichter in das Tizian einschleichen. Die ersten Sonnenstrahlen zaubern einen pfirsichwarmen Hauch auf ihre alabasterfarbenen, versteinerten Konturen. Erwärmen sie aber nicht. Schweben weiter durch den Raum, treffen auf ihren antiken Spiegel. Im Spiegelbild schimmert verzerrt ein reflektierendes, feuchtschimmerndes weißes Plastikgehäuse. Jülide spürt nicht den Stoff der sie streifenden Vorhänge auf ihrer Haut, nur das vibrierende Ende der lächerlichen Eieruhr in ihrer Hand.
Es ist vorbei.
Wer kam damals auf dieses unglückselige Unterfangen? Wessen Idee war es eigentlich gewesen? Agnus!! Agnus, dieses dumme Lamm, brachte den Untergang ins Rollen …
Saraih schleppte ihn eines Tages an. Das Nesthäkchen schien mit ihm nach mehreren erfolglosen bis desaströsen Vorgänger-Modellen endlich einen guten Fang gemacht zu haben. Agnus liebte Jülides kleine Schwester abgöttisch, schien ihr regelrecht verfallen. Er war fortan immer an ihrer Seite und seine Augen ruhten stets auf ihr.
Gemeinsam teilten beide die Liebe zur Musik. Saraih war nicht so schön wie Jülide, aber mit der Stimme einer Sirene gesegnet. Ständig trieben sie sich in Karaoke-Bars herum.
Auf Saraihs letzter Geburtstagsfeier, nachdem die Sektgläser ihren klirrenden Job bereits erledigt hatten und der Kuchen fast gegessen war, polterte Agnus jauchzend ins Zimmer.
„Ich hab’s geschafft!“, jubelte er immer wieder. Wedelte hektisch mit den Armen. In seinen Händen flatterten bunt bedruckte Papierstücke.
„Und ich hab mich schon gefragt, wo du geblieben bist“, versuchte Jülide ihn erfolglos einzubremsen.
„Herzlichen Glückwunsch, mein Herz! Ich lieb dich so! Das ist für dich!“, schrie Agnus beinahe.
Saraih, vollkommen überrannt, zuckte mit aufgerissenen Augen den Kopf zurück. Ließ sich das Gesicht von ihm abküssen.
„Was ist passiert?“, quetschte sie, mehrfach von schmatzenden Liebkosungen unterbrochen, aus aufgeschürzten Lippen zwischen seinen Händen heraus. Die Papiere klatschten auf ihre Haare und raschelten am Ohr.
„Eine Wahnsinns-Überraschung für dich! Das hat mich einiges gekostet!“
Agnus ließ von ihr ab und fiel schwer schnaufend vor ihr auf die Knie. Faltete mehrere Hochglanz-Papierstücke auf, die sich als Eintrittskarten entpuppten.
„Für dich ist mir nichts zu viel. Siehst du Liebes? Tickets! Es war ausverkauft, ich hab sie unter der Hand ergattert, zu einem horrenden Preis …“ Aufgeregt nestelte er sie zwischen den Fingern herum, hielt ihr dann den Fächer mit glühenden Augen entgegen.
Alle anderen standen mit offenem Mund wie Statisten in der Szenerie.
„Das Untold Festival! Stell dir vor! Das Untold Festival! Mit Robbie Williams. Armin van Buuren, dem King of Trance. Und Stormy, dem Crime Rapper und noch einige mehr!“
Jülide verstand, wie mehrere der anderen Gäste, eigentlich nichts - nach Robbie Williams war sie geistig bereits ausgestiegen. Aber Saraih kam allmählich mit und sprang darauf an. Ihr Gesicht weitete sich in einem breiten, lustvollen Grinsen.
„Oh mein Gott, oh mein Gott!!“
Aufgeregt, wie ein kleines Küken warf sie sich quietschend und zappelnd Agnus um den Hals. Die beiden Liebenden gaben sich dem Freudentaumel hin, die Verwandten und Gäste freuten sich etwas reservierter, aber sie freuten sich von Herzen für das junge Pärchen.
„Zeig her, komm zeig nochmal!“ Saraih griff nach den Eintrittskarten. “Wieviele hast du denn?“, zählte sie die Tickets durch.
„Vier“, brüstete sich Agnus stolz. „Für uns beide und für Jülide und ihren Mann.“
„Ehrlich?“ Mit großen freudestrahlenden Augen wandte sich Saraih an ihre große Schwester. „Ihr kommt doch mit, oder?“
Ehrlich? schoß es bei Agnus Angebot sofort ebenfalls, aber schmerzhaft durch Jülides Gedankenwelt. Was sollte sie da? So sehr sie Saraih und ihren Gesang liebte, es war bei Weitem weder ihre noch Geromes Welt, ein Festival zu besuchen.
„Oh, ich weiß nicht. Ich glaub, wir sind aus dem Alter allmählich raus. Außerdem ist Gerome wahrscheinlich sowieso wieder auf Geschäftsreise …“
„Ach bitte, bitte, bitte“, drängelte Saraih. „Du bist doch nicht alt, und wenn Gerome nicht kann, nimmst du eine Freundin mit. Bitte, bitte! Tu’s für mich. Ich würde mich so freuen!“
Alle Beistehenden amüsierten sich und forderten Jülide überschwänglich auf, selbstverständlich mit auf die Tour zu gehen. Nach dem Motto‚ einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul‘. Wie Jülide diese Art von Phrasen hasste. Dem Welpenblick des goldigen Nesthäkchens konnte Jülide totz großer Mühen nicht standhalten, knickte ein und gab schließlich nach.
„Also gut. Dann soll es so sein …“ Sie strich sich seufzend die Haare aus dem Gesicht. „Wo findet das denn überhaupt statt?“
„Klausenburg“, nuschelte Agnus.
„Hmh? Sagt mir gar nichts“, forderte Jülide Agnus zu einer genaueren Antwort auf.
„Eine Hauptstadt…“, zögerte er, „in Rumänien…“
„RUMÄNIEN? Grundgütiger!“, entfuhr es Jülide unkontrolliert und etwas zu laut.
„Jaaha! Es ist eine sehr schöne Gegend!“ verteigte sich Agnus. „Und die Reise ist sozusagen als Bonbon auf das Festival obendrauf!“ Er hatte es sich leichter vorgestellt, Jülide mitzunehmen, damit Saraih auf jeden Fall Ja sagt.
Saraih zitterte vor Freude, alle anderen strahlten feist um die Wette. Jülide wurde bewusst, dass sie aus dieser Nummer nicht mehr entkommen konnte, und willigte notgedrungen und unglücklich ein. Dieser windige, durchsichtige Manipulator! Es war vorbei. Wie könnte sie auch mit einer Absage den Geburtstag ihrer kleinen Schwester ruinieren? Allesamt nichts ahnend, dass das damit aufkommende Unglück, hier, in diesem Geschenk, seinen Anstoß fand.
Der Tag war gekommen und sie machten sich auf den Weg nach Klausenburg. Gerome war wie erwartet erneut geschäftlich auf Reisen, nachdem er gnädig lächelnd die Einladung ausgeschlagen hatte. Eine Freundin ließ sich nicht mobilisieren und so gab Jülide freundlicherweise die Kosten für das überzählige Ticket an Agnus zurück, da sie sich nicht vorstellen konnte, dass das Geld vor Ort wieder reinzuholen war.
Die lange Fahrt gestaltete sich zu ihrer Überraschung als äußerst angenehm und kurzweilig. Es dämmerte bereits, als sie das Ortsschild Cluj-Napoca, Klausenburg, passierten. Sie hatten sich im Vorfeld noch einen der Trailer am Rande des Festivalgeländes anmieten können. Denn obwohl die Tickets ausverkauft waren,
standen noch ein paar freie Wägen zur Verfügung, die der Jugend offensichtlich zu teuer erschienen.
Nun stromerten sie auf dem Gelände herum und machten sich auf die Suche nach ihrer Unterkunft. Erschöpft fanden sie ihn endlich, machten es sich für den Abend mit ihren wenigen mitgebrachten Utensilien einigermaßen bequem. Tranken zum Abschluss des Tages gemeinsam mehrere Gläser guten Wein. Prosteten sich zu, wünschten sich gegenseitig einen wundervollen morgigen Tag und wälzten sich dann auf den eher durchschnittlichen Betten durch die Nacht.
Völlig gerädert, nach längerer Anlaufzeit als gewöhnlich – vor allem für das Herrichten - quollen zuerst Jülide, danach Agnus mit Saraih im Arm aus dem Trailer auf das Gelände. Es war noch Zeit bis zum Festivalbeginn am Abend. Mit ihren hohen Absätzen, das Schuhwerk mehr als ungünstig gewählt, stolperten die Damen durch die Gegend.
Die Sonne hatte über die Jahre ganze Arbeit geleistet und überall Narben auf den alten Beton gebrannt. Und es roch unangenehm.
„Du meine Güte, wie das hier aussieht…“, flüsterte Jülide ernüchtert vor sich hin. Saraih bestätigte leicht nickend.
„Typisch rumänisch“, schob Jülide nach.
Agnus war nicht fähig, den Aussagen der Frauen etwas entgegenzusetzen. Dass das Land an sich wunderschön war und nur dieser Platz, eigens für die Veranstaltungen, etwas aus dem Rahmen fiel. Er wollte keine schlechte Stimmung riskieren und ließ sie daher für sich alleine weiterschmollen. Seine Meinung würde eh nichts daran ändern. Saraih blieb an seiner Seite und Jülide wich etwas von ihnen ab, als eine dunkle Limousine an ihnen vorbeirollte und nur wenige Meter hinter ihnen stehen blieb.
Zwei Anzug-Herren stiegen aus und liefen zielstrebig in ihre Richtung. Unglücklicherweise verfing Jülide sich genau in dem Moment mit ihren Absätzen in einer Betonrille, als einer der beiden neben ihr lief und sie reflexartig abfing. Sie strauchelten beide noch einige Schritte, bevor sie sicher zum Stehen kamen.
„Sowas, das ist mir aber peinlich …“, lächelte Jülide verstört den durchtrainierten, dunkelhaarigen Mann an. Die vorherige Frustration war völlig vergessen.
„Ich … ich hab einen Schuh verloren …“
Ohne ein Wort lief er zur Rille und zog ihren Schuh aus den rissigen Betonfalten. Auf seinem Rückweg blinzelte er nicht ein einziges Mal, beobachtete Jülide, wie sie die auffallenden Haare aus ihrem Gesicht wieder zur Raison brachte und das hübsche Kleid auf ihren wundervollen Proportionen ausrichtete.
Was für eine Frau!
Er ging vor ihr in die Hocke, griff mit seiner großen, wärmenden Hand nach ihrer schlanken Fessel und schob ihr den Schuh galant auf den Fuß. Eine derartige Hilfestellung hatte sie nicht erwartet. Die Hitze seiner Berührung wanderte prickelnd bis zu ihrem Schenkel hoch und brachte Jülide völlig aus der Fassung. Bis er sich zu seiner gesamten Größe aufgerichtet hatte, war sie immer noch nicht ganz gefestigt. Sie folgte ihm mit ihrem Blick - der von seinem Brustkorb ausströmenden Wärme mit dem aufsteigenden, berauschenden Duft - nach oben, bis ihr Kopf sich nach hinten neigte, um in seinen bernsteinfarbenen, von vollen Wimpern verschatteten Augen zu versinken. Dieser Mann zog sie derart an, dass sie Mühe hatte, nicht nach vorne zu schwanken und mit ihm zusammen zu stoßen.
Was für ein Raubtier!
„Was tun Sie hier, außer mein Retter zu sein?“
Sinnvolleres brachte Jülide nicht zusammen, ihr Hirn übte anscheinend für den Freischwimmer irgendwo in anderen Sphären und es war ihr nicht einmal peinlich.
„Das Festival heute Abend. Ich bin einer der beiden Manager für dieses Event.“
Er deutete auf den anderen Mann im Anzug. „Das ist mein Bruder Wübbo. Mein Name ist Zev.“
Er nahm wie selbstverständlich ihr Handgelenk und zog ihren Arm unter seinen.
„Begleite mich“.
Wohlig hakte sich Jülide bei ihm ein. Auf seine Frage hin verriet sie ihm auch ihren Namen.
Mit großen Augen und schweigend folgten Saraih und Agnus händchenhaltend den beiden mit etwas Abstand. So losgelöst, weich und berührbar kannten sie Jülide überhaupt nicht.
Zev ließ Jülide nicht mehr los. Während der Nachmittag verging, zeigte er ihnen das Gelände, gewährte Einblicke hinter die Kulissen und ins Innerste des gesamten Aufbaus. Die ersten Bands und DJ’s bereiteten sich für ihre Auftritte vor. Der Platz füllte sich allmählich mit angereisten Gruppen. Diejenigen, die sich als die größten Fans wähnten, drängten nach vorne, um später ihren Idolen so nah wie möglich zu sein.
Der Beginn des Festivals war bereits abzusehen, ließ aber gefühlt eine Ewigkeit übrig. Jede Berührung löste eine statische Entladung aus. Beschleunigte den Herzschlag. Stellte Härchen auf. Brachte Wallung in ihre Körper und fachte mit knisternder Spannung Wunsch und Gier zwischen Zev und Jülide an.
„Was bedeutet dein Name?“
„Wolf! Meine Eltern hatten ein sehr spezielles Verständnis für Namen, hielten es nicht nur für Schall und Rauch. Wir kommen aus sehr schwierigen und harten Verhältnissen. Sie fanden, wir brauchten einen Namen, der uns gemeinsam alles durchkämpfen lässt und nannten uns deshalb Zev und Wübbo. Beides bedeutet Wolf“, erklärte Zev.
„Ich dachte schon, es deutet in Richtung Vampir oder so…“ Lachend schmiegte sich Jülide fester an seinen Arm.
„Nein!“, lachte Zev ebenfalls lauthals. „Wir sind hier zwar in der inoffiziellen Hauptstadt von Transsilvanien, da liegt der Blutsauger nahe, aber beides steht für einen Wolf.“
Jülide hing an seinen Lippen und den wunderschönen Zähnen, die er beim Lachen entblößte. Mit seiner kraftvollen Art und seinen beinahe martialischen Eckzähnen lag er vom Wesen her tatsächlich näher am Wolf als beim Vampir, wobei er sie eher an einen gepflegten Werwolf erinnerte. Die Bedeutung ließ Jülide vollends dahinschmelzen.
Sie überließen Saraih und Agnus sich selbst und zogen sich aus der zunehmenden Menschenmasse zurück. Eng umschlungen schlenderten sie über das Gelände zurück zum Trailer und verschwanden darin.
Die Dämmerung, die den Horizont bereits in alle Abendlichttöne verwandelt hatte, ergraute und dunkelte sanft aus, als Zev mit Jülide wieder auf dem mittlerweile ausgeleuchteten Festival-Areal auftauchte.
Demnächst würde es losgehen und der Platz wimmelte vor Menschen. Die Masse wirkte – außer lautstark – gleichzeitig noch wie ein visuelles Megaphon. Viele trugen schrille Farben, die einen zusätzlich regelrecht anschrien.
Beide suchten nach Jülides Schwester und deren Freund. Von links ertönte eine Frauenstimme, sie sang etwas Bekanntes und um deren Lied wurde es ruhiger.
„Das ist Saraih!“, erkannte Jülide sofort und zog Zev mit sich in die Richtung, wo sich allmählich eine kleine Menschentraube bildete. Sie reihten sich in das Grüppchen ein. Zev lauschte ihr gebannt.
„Es gibt nachher einen Contest für junge Künstler auf der kleinen Extra-Bühne da drüben“, rief er Jülide zu. „Geh zu deiner Schwester, sag ihr, dass sie da hin kommen soll! Unbedingt!“
Er griff ihr an die Hüften und schob sie sanft in Saraihs Richtung.
„Da warte ich auf euch. Ich mach den Auftritt für sie klar! Die Chance darf sie sich nicht entgehen lassen! Los! Sie wird gleich als Erstes singen!“
Eine junge Frau drehte ruckartig ihren Kopf mit langen blonden Rastazöpfen in seine Richtung, starrte ihn fassungslos, beinahe angewidert an. Sie sahen es nicht. Jülide hatte sich schon in Bewegung gesetzt, um zu ihrer Schwester durchzukommen, und Zev hatte sich Richtung Tribüne abgewandt. Damit verschwand sie lautlos in der Masse.
Saraih hatte sich einfach nur die Langeweile vertrieben, nachdem alles besichtigt und die vielen Menschen ausreichend beobachtet waren und mit Agnus als Gitarrenbegleitung angefangen zu singen. Sie war gerade mit ihrem Song fertig, als Jülide sich zu ihnen durchgedrängt hatte.
„Kommt mit!“, rief Jülide Agnus zu, der dichter zu ihr stand und winkte ihnen energisch zu. Beide trotteten mit ihr weiter in Richtung der Bühne.
„Zev hat dir zugehört. Stell dir vor, er macht euch einen Gig klar. Nach dem Konzert könnt ihr hier drüben auf der Extra-Bühne auftreten!“ Ungläubig starrten Saraih und Agnus sie an. Freude oder Begeisterung hatte sich Jülide anders vorgestellt. Beide wirkten eher paralysiert.
„Okay… Ich hätte mir deinen ersten öffentlichen Auftritt vielleicht auch etwas mehr konzertant vorgestellt. Aber das ist doch eine einmalige erste Chance!“
Keiner der beiden reagierte. „Was sagst du dazu?“, kreischte Jülide wegen des anschwellenden Tonpegels Agnus beinahe an. Der zuckte mit den Schultern.
„Wärst du denn bereit dafür?“, rief er in Saraihs ungläubiges Gesicht.
„Ich glaub, das kann ich nicht …“, zuckte diese mit den Schultern zurück. „Es sind so unglaublich viele Menschen hier, das ist ´ne ganz andere Nummer als bei uns zu Hause in der Karaoke-Bar …“ Sie war ziemlich bleich geworden. „Von da oben … das pack ich nicht … da bin ich gar nicht gut genug für.“
„Liebes, das stimmt doch gar nicht. Komm wir gehen da rüber, da ist es ruhiger!“ Jülide zog sie leicht herrisch hinter sich her. „Du weißt doch noch, früher, von Mama und Papa. Für deine Auftritte in den Bars, da haben sie dir die Macht der Autosuggestion gezeigt. Das hier ist nichts anderes. Du musst einfach nur die gleichen Sätze von damals immer wiederholen. Weißt du sie noch?“
„Ja klar, schon. Aber …“
„Ne, ne, ne. Kein Aber mehr! Geh einen wichtigen Schritt voran. Sag dir die Sätze auf! Das wird!“
Jülide und Agnus konnten sehen, wie Saraih nachgab, sich in sich selbst zurückzog und konzentrierte, anfing, beide Schläfen zu massieren.
„Es bleibt ja noch eine ganze Menge Zeit, bis alle Künstler aufgetreten sind. Die kannst du für dich nutzen!“, bedrängte Jülide Saraih noch und gab dann Ruhe.
Das Konzert ging mit einem rauschenden Erfolg dem Ende zu. Zev trat vor das Publikum und kündigte den Contest für junge Künstler auf der Extra-Bühne an. Er lächelte wissend zu Jülide zwischen all den Leuten und winkte ihr zu.
Saraih stellte sich mit Agnus am Bühneneingang auf. Jülide entdeckte beide schräg hinter Zev. Sie waren bereit und strahlten derart, dass ein Fernsehbreitbildschirm neidisch werden konnte. Jülide überlegte kurz, ob ihre feurige Trailer-Nummer mit einem der verantwortlichen Manager wohl mit dazu beigetragen hatte, dass Saraih einen Auftritt nach einem hochkarätigem, mit Superstars der Szene besetzten Musikfestivals bekam - da rief Zev auch schon Saraihs Namen ins Publikum.
Beide traten in den Vordergrund, nahmen auf zwei Barhockern vor den Mikrofonen Platz - und alle weiteren Gedanken verschwanden. Agnus spielte die Melodie an und Saraih sang ein ganz unglaubliches, fast überirdisch wirkendes Lied, füllte erst die Bühne, dann das gesamte Gelände aus und zog das Publikum vollkommen in ihren Bann. Wie wunderschön sie aussah.
Das Lied klang aus. Zu ihren Füßen war es still. Alles schwieg. Die Menschen schienen benebelt und brauchten einen Moment, um sich zu fassen. Dann flutete brandender Applaus das Areal. Agnus konnte wie immer, auch während des Auftritts, die Augen nicht von seiner Saraih lassen. Es krachte im Boden. Wegen des Jubels war es eher unter den Zehen zu spüren als tatsächlich zu hören.
Ein Wimpernschlag, der die Welt veränderte und Saraih verschwand vor seinen Augen einfach in einem Loch. Sägeraue, fingergroße Splitter ragten zackig aus dessen Rändern, schlitzten beim Sturz Saraihs Halsschlagader der Länge nach auf. Während Agnus noch immer lächelnd die Finger auf den Saiten seiner Gitarre hielt, klatschte ein Blutschwall von ihr auf seine Schuhe. Keiner begriff irgendetwas.
Es war vorbei.
Gerome kümmerte sich um alles. Holte seine Frau und Agnus ab und sorgte dafür, dass Saraih überführt wurde. Jülide sah Zev nie wieder. Ermittlungen ergaben, dass das Gebälk der Bühne manipuliert wurde. Neider unter den Künstlern, angeführt von einer Sängerin mit langen Rastazöpfen, hatten mehrere Trägerhölzer angesägt, um den Auftritt der ersten Sängerin zu vermasseln. Mit einem so späten und dann kompletten Einbruch durch die Bühnenbretter hatten sie allerdings nicht gerechnet.
Die Beerdigung und die Zeit seither waren unerträglich. Agnus verschwand und es gab Gerüchte, er hätte sich das Leben genommen. Gerome lenkte sich ab und ging alsbald wieder auf Geschäftsreise. Eine Verbindung zwischen ihm und Jülide bestand viele Jahre nicht mehr wirklich. Die vergeblichen Versuche, eine richtige Familie durch ein Kind zu werden, brachten sie auseinander.
Jülide war nur noch ein Geist. Ihr Blick… blind wie ein Stein. Blieb sich selbst überlassen. Hohl, lautlos.
Mit Albträumen, aus dumpfen und unterdrückten Erinnerungen … das verlorene Treiben einer silbrigen Trailer-Silhouette. Wolfszähne. Blut …
Entsetzlich einsam in einem schrecklichen Frieden.
Das Morgenlicht gleitet von ihrem versteinerten Antlitz weiter. Hinüber zur gläsernen Spiegelablage. Glimmt auf dem thermometerähnlichen, sterilweißen Plastikgehäuse. Das uringetränkte Filzfenster ändert sich. Zeigt einen unglückseligen zweiten Strich, der sich, einer Splitterscherbe gleich, ins Leben drängt - und diese lächerliche Eieruhr summt in ihren Händen.
Es ist vorbei