Fensterblick, eine literarische Standardgeschichte

Die alte Frau am Fenster

Freitag ist Waschtag, das ist seit ewiger Zeit so.
Und so steht sie auch heute in jener alten Waschküche, in der sie seit über fünfzig Jahren ihrer Hausfrauenpflichten nachkommt. Sie war alt geworden in diesem Haus.
Ihre Falten waren so tief wie ein frisch gepflügtes Kartoffelfeld im Spätsommer.

Ein alter Wäschekessel der durch einen kleinen Holzkamin beheizt wurde, brachte die Lauge zum Köcheln, in welcher sich die weißen Bettlaken befanden.

Es blubberte und zischte, dass man glauben konnte, hier hielt eine Hexe eine okkulte Messe ab.

Sie blickte über ihre alte Brille aus dem beschlagenen Fenster, ihr Gesicht hellte sich etwas auf, als sie die bunten Punkte hinter der beschlagenen Fensterscheibe wahrnahm. Mit der Faust hielt sie den Zipfel ihres Ärmels fest, bevor sie mit den Unterarm über das Glas fuhr.

Nein, ich würde sie nicht als hässlich bezeichnen, vielmehr war sie wie ein altes Haus, Risse an der Wand, an einigen Stellen fehlte schon der Verputz, und der blanke Stein schimmerte hervor.

Ihr Lächeln gab die letzten verbleibenden Zähne frei, zerbrochen wie ein Fels der vom Berg fiel. Nein, eine Schönheit war sie auch nicht . Sie war es nie gewesen.
Doch in diesem Haus, in dem Sie bereits ihre Kindheit verlebte, war sie das Fundament der Welt!

Da stand sie nun an jenem alten Fenster, wie schon so viele male.
Einen kurzen Moment blitzte so etwas wie Güte in ihren meist strengen Blick auf.
Sie hatten ihn nicht vergessen, ihren 80. Geburtstag!
Die Enkelkinder hatten ihr Sonntagsgewand an, und waren adrett gekämmt. Die Tochter trug einen Blumenstrauß, der Schwiegersohn einen Geschenkkorb mit großer Schleife!
Eigentlich hatte die alte Frau es noch nicht ganz verwunden, dass die einzige Tochter nach einem heftigen Streit auszog, und weg in die Stadt ging.
Viele unschöne Worte fielen damals !

Sie wäre eine schrecklich jähzornige alte Frau, schleuderte ihr Susannchen ins Gesicht, als sie rasend vor Zorn mit ein paar Habseligkeiten zur Tür stürmte.

Susannchen, rief sie noch hinterher …. !
Ich weiß, versuchte Sie noch besänftigend zu äußern, ich war nicht immer die gütige Mutter, die du verdient hast !
Manchmal war ich zu ungeduldig für mein Sensibelchen !

Susanne kochte vor Wut:

Susannchen, Sensibelchen !? Was für ein grausamer Zyniker du doch bist !
Ich bemühte mich so sehr, ein Herz unter deinen Busen zu finden, suchte stets nach einer Entschuldigung für deine grobe Art, war doch Vater von rauer Natur und brachte oft das karge Einkommen mehr in die Kneipe, als in den Haushalt. <<

Aber du bist auch eine Hexe schrie sie noch, dann fiel die Tür krachend ins Schloss und Susannchen meldete sich nicht mehr.
Es hatte sie tief getroffen, als sie erkennen musste, dass ihre Tochter nun ihren eigenen Weg ging, und Mutter nicht mehr gebraucht wurde .
Und nun steht sie am Fenster, ihr Herz poltert wie der Dorfpfarrer bei der Sonntagspredigt, Sie ist aufgeregt wie ein junges Mädchen bei ihrem ersten Rendezvous. Eine hinterhältige Träne hatte sich unbemerkt auf ihrem Gesicht platziert.
Wütend wischte Sie sie weg.

Das karge Leben auf dem Land hatte sie hart gemacht, vielleicht ein wenig verbittert.
Plötzlich erstarrte sie: „Oh Gott, wie ich aussehe!“
Sie riss sich die Schürze vom Leib, fuhr hastig durch ihr schneeweises Haar.
Dann trat sie wieder ans Fenster-
und sie weinte vor Glück!

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Du hast sanft, mit einer ans Herz gehenden Zärtlichkeit geschrieben. Dennoch scheinbar wertungsfrei. Beide Frauen können dadurch beim Leser zum Sympathieträger werden. Ist es eine autarke Erzählung, in sich abgeschlossen, ein Teil einer Geschichtensammlung oder der Beginn eines Buches? Danke für die Geschichte