Hallo, bin gerade beim überarbeiten eines Kapitesl auf ein interessantes Dilemma gestoßen:
Eine Frau, die mit ewiger Jugend gesegnet ist, nennen wir sie hier mal Anna, sagt im Gespräch mit Ben über ein Kind, das sie an der Hand hält: “Charlie ist nicht der meine”, und will damit andeuten, dass Charlie nicht ihr Sohn sei. Ben ist der Protagonist dieses Kapitels und ein paar Seiten später denkt er folgenden Satz: Anna hatte selbst gesagt, dass der Junge nicht ihrem Fleisch und Blut entstamme. Die Wahrheit ist aber, dass Charlie Annas Enkel ist, er also doch ihrer Blutlinie entstammt, wenn auch nicht unmittelbar. Dieser Zusammenhang ist in der Geschichte vorerst ein Geheimnis. Ist dies nun ein bloßer Fehler, den ich korrigieren sollte und müsste es richtigerweise aus Bens Sicht heißen: Anna hatte selbst gesagt, dass Charlie nicht ihr Sohn sei ? Oder ist das ein wunderbarer Kniff um den Leser durch ein Missverständnis auf eine falsche Fährte zu locken und eine mögliche Verwandtschaft zwischen Anna und Charlie aus seinen Gedanken zu verbannen?
Szene 1:
Anna spricht mit Ben.
Anna hält ein Kind an der Hand.
Anna sagt: “Charlie ist nicht der meine”.
Anna meint damit, dass Charlie nicht ihr Sohn ist.
Szene 2:
Ben denkt über das Gespräch mit Anna nach.
Anna hat gesagt, dass der Junge nicht ihrem Fleisch und Blut entstammt.
Die Wahrheit ist aber, dass … – Ben weiß also offenbar nicht, dass Charlie ihr Enkel ist.
Wie man es dreht und wendet, Charlie ist nicht ihr Fleisch und Blut. Das sind nur direkte Nachkommen. Ich würde es demnach lassen, wie es ist.
Habe eben folgendes gefunden: jemandes eigen Fleisch und Blut: jemandes leiblicher Nachkomme, jemandes leibliche Nachkommen.
leiblich: unmittelbar verwandt, den Leib betreffend.
Was aus meinem Leib hervorgeht können nur meine Kinder, nicht aber meine Enkel sein. Demnach würde sich diese Redewendung tatsächlich eher nur auf die eigenen Kinder, nicht aber auf Enkel beziehen.
Das ist eigentlich gar nicht wichtig, denn Ben kann - ganz menschlich - jede Aussage richtig oder falsch interpretieren, seine eigene Wahrnehmung reinspielen lassen und sogar ganz andere Dinge im Wortlaut gehört haben, als gesagt wurden. Er darf denken, was immer sein Gehirn daraus gemacht hat. Er sollte nur nicht komplett andere Wahrnehmungen als der Leser haben.
Die Unschärfe geht klar. Der Leser versteht, dass Ben so denken könnte, auch, wenn der Leser selbst vielleicht genauer hingesehen hat und sich selbst nicht sicher wäre/ist.
Nicht verstehen würde der Leser, wenn Ben nach dem Gesagten meint, dass Anne doch klipp und klar gesagt - gar drauf bestanden - hätte, Charlie sei ihr Sohn.
Das passt dann nur zu einem Ben, der eine dicke Wahrnehmungsstörung per Story hat und haben muss.
@Stolpervogel sagt genau das Richtige: Bens Interpretation ist Bens Interpretation, daher lösche ich jetzt mal meinen ersten Textteil und lasse nur den Allgemeinplatz noch stehen:
“Von meinem Fleisch und Blut” ist in meinem Falle meine Tochter.
Aber meine Enkel werden dann immer noch mein “Blut” sein, da liegt vermutlich der Ursprung der ersten Verwirrung: “Blut ist dicker als Wasser” (ob das jetzt für jeden individuell gilt oder nicht), damit beziehe man sich dann wieder auf alle den Stammbaum rauf und runter, Oma wie Enkel.
Ich sehe es ebenfalls wie @Stolpervogel. Wenn du aus Bens Sicht schreibst bzw. er das denkt, darf er denken, was er will. Ein Logikbruch wäre es nur dann, wenn du als auktorialer Erzähler das im Tell behaupten würdest.
Aber - und das ist zugegebenermaßen fortgeschrittene Korinthenkackerei - könnte ein Leser argumentieren:
“Charlie ist nicht der meine” - das lässt auch die Interpretation zu, dass Anna aussagen will, dass Charlie nicht ihr Enkel ist, vor allem, wenn der Leser schon weiß, dass Anna ewig jung bleibt, aber schon ein paar Jährchen auf dem Buckel hat. Wird es deutlich, dass Anna meint “Das ist nicht mein Sohn”?
Zweiter Punkt, der mehrdeutig ist, ist die Formulierung “entstammt meinem Fleisch und Blut”. “Mein Fleisch und Blut” bedeutet in meinem Verständnis “Mein Kind”. Daher kann man den Satz auch so verstehen, dass es um den Enkel geht, der meinem Kind entstammt.
Wie gesagt, ziemlich spitzfindig, aber eine m. E. zulässige Interpretation. Auf der sicheren Seite bist du, wenn Anna eindeutig sagt: “Das ist nicht mein Sohn” und Ben später denkt “… der Junge ist nicht Annas Fleisch und Blut.”
Der Fall zeigt zumindest eines: ein Autor muss gut aufpassen, welche Worte er seinen Figuren in den Mund legt. Danke an alle für die ausführliche Beratung