Fast eine 68erin

Ich musste ihn nicht kämpfen. Diesen offiziellen Kampf. Auf der Uni und in den Häuserschluchten der großen Städte. Der war vorbei, als ich in das Alter kam. Immer 5 bis 10 Jahre zu jung, um dabei zu sein. Und irgendwie immer zu weit weg. Die Revolte der Studenten. Unerreichbar fern, aber nicht ohne Wirkung. Rudi Dutschke hätte mir gefallen. Der hatte was. Da wäre ich sicher mitgelaufen. Aber ich war zu jung. Und er wurde niedergeschossen. Von einem Rechtsradikalen. Einem von der anderen Seite, wie ich es damals schon empfand.

Dann die Konzerte von Janis Joplin und Jimi Hendrix. Janis, meine Janis. Vom ersten Ton, den ich von ihr hörte, gehörte sie zu mir. Ob himmelhochjauchzend oder zu Tode betrübt, ihr Cry Baby war immer dabei. Ich hätte sie so gerne live gesehen, damals in Frankfurt. Aber ok, ich war noch zu jung und wurde auf das nächste Mal vertröstet - das dann aber niemals kam. Im Jahr darauf war sie tot. Wie auch Jimi Hendrix, mit seinem satten Gitarrenklang und der vollen Stimme. Und wie Jim Morrison, der Verpeilte, wegen dessen Riders on the storm ich mir morgens den Wecker früher stellte, um es im Transistorradio zu hören.

Kommunen, Sex und freie Liebe. Promiskuität als Lebensmodell. Wer zweimal mit der gleichen pennt, gehört schon zum Establishment. Die männliche Formulierung scheint mir hier Programm.

Wer träumte noch von der großen Liebe, dem Märchenprinzen. Junge Frauen schon, aber höchstens heimlich. Austausch von Körperflüssigkeiten mit irgendwelchen Partnern war angesagt. Keine Lust auf sowas? Ziel verfehlt. Mann konterte mit frigide. Prüde sein war ja verpönt. Selbst diese Generation hatte ihre Regeln. Mit Glück gabs nur Chlamydien, mit etwas Pech gabs Kinder. Und wieder war der Mann im Vorteil. Die Frau schwankte zwischen Mutter werden oder Engelmacherin. Die Entscheidung für Leben oder Tod, für eine, oft auch beide.

Immerhin, bei lokalen Demos lief ich mit. Mitmarschieren! Solidarisieren! Schuleschwänzen zum Wohle der Gesellschaft. Gibts heute auch wieder. Muss was dran sein. Damals gabs Hausarrest, wenn ich denn erwischt wurde. Aber das gute Gefühl war’s allemal wert.

Kämpfen für das Gute. Für Gleichberechtigung. Gegen Bonzentum und Unterdrückung. Das große Feindbild war Franz-Josef Strauß. Er stand für alles, was uns widerwärtig war. Wohl gleichermaßen wie wir ihm. Beate Klarsfeld haben wir gefeiert. Den deutschen Bundeskanzler für sein Nazi-Sein zu ohrfeigen, das hat uns imponiert. Entnazifizierung und Antifaschismus waren das große Ziel.

Demnächst bin ich tatsächlich eine 68erin. Und diesmal bin ich nicht zu jung. Diesmal kann mir keiner was verbieten. Und das ist gut so. Denn nach über 50 Jahren sind sie wieder da. Hässlich, laut und ohne Scham ziehen sie wieder durch die Straßen. Genau wie ich. Immer noch. Und wie immer auf der anderen Seite.

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Klingt nach einem Leben voller Lebenslügen. :thinking:

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Nach so einem Kommentar hat man richtig Lust seine Texte einzustellen. @Rapyuta

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Auf der richtigen Seite.

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Und ich dabei. Immer auch 5 - 10 Jahre zu jung, aber dabei, wo’s nur ging. Janis und Jimmi hab ich auch nicht live gesehen und dennoch rauf und runter gespielt immer wieder bis meine Mutter die Schallplatten bei Fenster raus warf… Auch Pink Floyd und Santana. Die habe ich live gesehen. Die Stones, Bob Dylan und Joan Baez auch. Polidick und doof erst Mitte der Siebziger. Dann aber richtig: Schwarz plakatieren gegen Zwentendorf (unvergesslich: der frierende Josef Hader auf meiner auffrisierten Zündapp!), der Friedensmarsch in Köln, Hausbesetzung in der Gassergasse und im WUK. Einen auf Klampfenpolitiker gemacht. Schmetterlinge, Ton Steine Scherben, F.J. Degenhardt und Hannes Waader als Vorbilder, mit Sigi Maron sogar aufgetreten. Dazwischen Nazis verprügelt, den dicken Gusenbauer geärgert, Sozialistische Jugend, mal nach ganz links geschnuppert und angeekelt wieder abgezogen. Dann plötzlich Vater mit 22. Und alles ist anders.
Ja, das kenn ich gut, @Anachronica . Allein: Wir sind nicht alt, nur schon lange jung. Für immer jung!

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Der stärkste Satz für mich in einem insgesamt sehr starkem und ausdrucksvollen Text. Inhaltlich & formell! Einige beeindruckend gute Formulierungen und Sprachbilder.
Portrait einer Zeit mit aktueller Referenz.
Sehr gelungen!

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Ich kann inhaltlich nichts dazu beitragen, außer dass ich zu der Zeit noch Quark im Schaufenster auf einem anderen Planeten in diesem Universum war.
Dein Text gefällt mir, auch vor allem darum, weil ich dadurch einen Eindruck in ein völlig anderes Leben bekommen habe.
Darum geht es ja in der Schriftstellerei. :blush:

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Danke, dass ihr den Text so gut annehmt. Ich war mir nicht sicher, ob es dafür Interesse gibt, aber er musste einfach raus.

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Schöner Text mit Echo.

Auch ich zu jung, aber ob ich mittendrin gewesen wäre? Wer weiß das schon? Vielleicht wäre ich es gerne gewesen, wenigstens teilweise. Doch ich war nie da, wo alle waren, nur da, wo ich war – bis heute.

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Runterschreiben ist immer gut.
Meine wichtige Jugendzeit war begleitet von modern talking und co , das war auch schlimm.

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Du hast mein Mitgefühl.

Ich bin selber Fast-68er. Leider durfte ich mit 10 weder auf Demos noch auf Konzerte. Also auch den ganzen Spaß um 5-10 Jahre verpasst.
Dafür war dann später die Musik besser. Ich besuchte Liveauftritte von Genesis, Manfred Mann, Stones usw.

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Lieber solidarisch als solide arisch :heart:

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Ich musste ihn nicht kämpfen. Diesen offiziellen Kampf.

Ja, so meinen wir der Geschichte hinterherzulaufen, doch ohne es zu merken, fetzen wir bisweilen mittendurch, wenn man mal vertiefter drüber nachdenkt, ein Vorgang übrigens, den dein Text unmittelbar angeleiert hat. Wenig dogmatisch, aber schon mit etwas restrebellischem Blut in den Adern.
Vielen Dank dafür, das Lesen hat Erinnerungen geweckt. Das reinste Familientreffen. :smiling_face:

Sehr cool. Wirklich!

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Ich war sofort voll drin, voll dabei.
Kenne ich nicht gänzlich hautnah, aber einiges davon. Die Stimmung war früher komplett anders. Wahrscheinlich unwiederbringlich - Vergangenheit eben.
Und: Ne echt coole Zeit.
Danke für den kleinen Trip :sunglasses::sparkles:

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Liebe Anachronica,

auch ich finde deinen Text stark. Ich war Mitte Zwanzig, als die Mauer fiel …und aufgewachsen im Harz im Osten. Aufmärsche kannte ich auch, aber eben ganz anders. Mit Fähnchen, Pionierhalstuch…ect. Hatte trotzdem eine sehr schöne Kindheit und Jugend. Hatte auch nichts vermisst, das kam erst später. Ich liebe die Musik von Janis ebenso, wie Jim Morrison, Curt Cobain und bin großer Stones Fan. War so froh, dass wir die dreimal live sehen durften…! …und ja, du hast recht, es geht wieder los. Leider.

Danke für dein Text, liebe Grüße :+1: :+1: :grinning:

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Déja vue. Danke! Auch wenn mir der Accent über dem a abhanden gekommen ist.

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