Fantasy zum Kritisieren

  1. Ein turbulenter Start

Die erste Reise ihres Lebens stand kurz bevor. Dass der Grund dafür eine Beerdigung war, minderte ihre Vorfreude nicht im Geringsten. Aya ging in ihrem Kinderzimmer hin und her. Sollte sie sich die Laune vermiesen lassen, wegen eines Toten, den sie nie kennengelernt hatte? Sie schüttelte den Kopf. Nein! Und, dass er ihr Urgroßvater gewesen war, änderte daran auch nichts.

Sie ließ den Blick über Bett, Schreibtisch und Kleiderschrank schweifen. Letztendlich blieb sie am einzigen weiteren Gegenstand im Raum hängen. Ein nagelneuer Reisekoffer. Sie öffnete ihn und starrte hinein. Der fremde, neue Geruch drang an ihre Nase. Was braucht man, wenn man eine Woche an der Nordsee verbringen wird? Sie ließ die knarzende Schranktür herum schwingen. Die gestapelten Kleidungsstücke, die in den Fächern dahinter lagen, gaben keine befriedigende Antwort. Für jede Jahreszeit und jede Wetterlage war etwas dabei.

Es herrschte Sommer. Doch konnte sie das Wetter am Meer mit dem in Sachsen vergleichen? Sollte sie ihre Lieblingsstücke nehmen? Die alten, geflickten Sachen, deren Stoff so dünn war, dass sie ihn kaum auf der Haut spürte. Oder doch etwas weniger Abgetragenes?

Schwarz. Zu einer Beerdigung trug man schwarz. Besaß sie irgendetwas in dieser Farbe? Das Meiste war braun oder grün. Ihre Mama meinte, etwas anderes könne sie kaum tragen. Mit den Haaren. Sie schielte zu einer Strähne herunter, die gerade so ihre Schulter berührte. Das Problem betraf weniger die Tatsache, dass sie rot und strubbelig waren. Der Knackpunkt lag darin, wie rot sie waren. Ein unnatürlich knalliger Ton. Sie seufzte.

Eins nach dem anderen warf sie irgendwelche Kleidungsstücke in den Koffer. Gerade ließ sie eine braune Socke auf den entstandenen Haufen fallen, als die Zimmertür geöffnet wurde.

Ihre Mama betrat den Raum. Wie manchmal überkam Aya das Gefühl, dass sie etwas Zauberhaftes an sich hatte. Die schönen, langen, roten Haare, die im Gegensatz zu ihren eigenen einen normalen, angenehmen Ton hatten, die fließenden Bewegungen und die blauen Augen verträumt und doch scharfsinnig, in weite Ferne gerichtet und trotzdem aufmerksam. Aya war stolz, Tessa als Mutter zu haben.

Deren Blick fiel soeben auf den Klamottensalat im Koffer. Sie schaute mit vorwurfsvoller Mine auf.

»Och Aya! Wir wollen los. Du kannst doch die Sachen nicht so rein schmeißen. Meinst du nicht, dass man mit dreizehn Jahren wissen sollte, wie man einen Koffer packt?«

»Ich musste das ja noch nie machen.«

Sie setzte sich mit auf den Boden und seufzte.

»Na los, ich helfe dir.« Zärtliche Finger brachten Ayas Haar noch mehr durcheinander. Ordentlich legte sie die zerknitterten Kleidungsstücke zusammen. Gefaltete Shirts, Jacken und Hosen bildeten zwei Stapel im Koffer. Ineinander verschlungene Sockenpaare füllten die Lücken. Aya schaute zu und staunte. Es ließ sich sogar noch etwas aus dem Schrank hinzufügen und der Koffer ließ sich trotzdem schließen.

In die Ruhe rief eine derbe Stimme aus der unteren Etage: »Kommt ihr endlich?!« Es war Ayas Großvater.

Mit dem Klang dieser Stimme verloren die sommerhimmelblauen Augen ihrer Mama einen Teil ihres Strahlens. Sie schob den Koffer Aya hin und sagte klanglos: »Lass uns gehen.« Ohne einen Blick zurück öffnete sie die Tür, nahm ihr eigenes Gepäck, das dort gewartet hat, und schleppte es den fensterlosen Gang entlang.

Auch Ayas Onkel Thomas hatte Valentin gehört und schloss sich ihnen an. Im Gänsemarsch keuchten sie die schmale, abgenutzte Holztreppe herunter in den düsteren Flur. Dort stand Valentin. Er hatte die Arme verschränkt und warf einen demonstrativen Blick auf seine uralte Armbanduhr. Nach einer Kunstpause hob er den Blick, um seine Kinder und seine Enkelin zu fixieren.

»Was wollt ihr denn mit dem vielen Zeug? Ihr wisst genau, dass mein Auto nicht mehr das Jüngste ist!«

Aya kannte die Betonung. Sie schwelte nur ganz leicht in Valentins Worten mit, doch nach dreizehn Jahren auf demselben Hof, hatte sie ein gutes Gespür für dieses kleine Zeichen entwickelt. Sie wusste, dass der Vulkan, der ihr Großvater sein konnte, kurz davor war auszubrechen. Niemand, den Aya kannte, war scharf darauf, dass das passierte. Jetzt kam es darauf an, wie sie, ihre Mama und ihr Onkel sich verhielten.

Keiner, der drei wagte, etwas zu sagen oder sich zu rühren. Verstohlen schielte Aya zu ihren Leidensgenossen. Ihr Onkel starrte auf die dunklen Fliesen. Er schien einfach zu warten, bis etwas passierte.

Ihre Mutter sah auch zu Boden, aber in ihrem Gesicht sah Aya einen verbissenen Ausdruck. Sie schien verbergen zu wollen, wie Ärger in ihr hochkochte.

Aya schaute zu Valentin. Sofort bohrte sich sein Blick in ihren, bis sie weg sah. Immer dasselbe. Immer hatte Valentin das Sagen. Immer beugten sich alle seinem Willen.

Nach einem angespannten Moment der Ruhe stieß er ein verächtliches Schnauben aus der Nase und packte die Tasche seiner Tochter. Etwas Unverständliches grummelnd, trug er sie zur Haustür heraus.

Froh, dass die Sache erst einmal glimpflich ausgegangen war, folgte Aya ihrer Mama und ihrem Onkel. Auf dem Hof stand zwischen pickenden Hühnern der dunkelgrüne VW-Passat, den Valentin so liebte. Er verfrachtete gerade das nächste Gepäck in den geräumigen Kofferraum. Der war schon zur Hälfte mit drei anderen Reisetaschen befüllt. War ja klar, dachte sich Aya. Alle sollten am besten nur die Kleider mitnehmen, die sie gerade trugen, aber Valentin brauchte fast drei große Taschen. Gnädig, wie er war, hat er seiner Frau sicher eine ganze halbe Tasche für ihre Habseligkeiten zugestanden. Die Restlichen zweieinhalb benötigte er natürlich selbst.

Aya verdrehte die Augen. Sie zog ihren Koffer durch die Hühnerkacke, ließ ihn hinter Valentin stehen und beeilte sich, aus seinem Umfeld zu huschen.

In der Mitte des Dreiseitenhofes wuchs eine alte Linde. Sie wurde einst von einer Bank geziert, die den ganzen Stamm umrundete. Die Bank umrundete den Baum immer noch, aber eine Zierde war sie schon lange nicht mehr. Valentin wollte sie schon seit Jahren wegreißen, doch andere Sachen waren immer wichtiger. Aya freute das, denn so konnte sie sich auf die verwitterte Lehne stellen und erreichte den untersten Ast. Wie so oft hielt sie sich daran fest, schwang die Beine nach oben und schon war sie vor den Blicken ihrer Familie verborgen.

Sie brauchte nicht lange, um die Mitte der dichten Krone zu erreichen. Hier hatte sie ein paar Bretter auf die Äste genagelt. Dadurch hatte sie genug Platz, um sich hinzulegen und sämtliche Gliedmaßen auszustrecken. Über den Brettern war eine dunkelgrüne Plane befestigt. So hatte sie sich ein bescheidenes, aber trockenes Baumhaus errichtet.

Das Beste daran war, sie konnte alles, was auf dem Hof geschah, beobachten, ohne selbst gesehen zu werden. Auch jetzt linste sie durch die Blätter und sah, wie ihr Großvater die Tasche seines Sohnes entgegen nahm. Er versuchte sie so in den Kofferraum zu bauen, dass die Klappe noch zugehen würde. Onkel Thomas stand daneben und sah ihm zu. Zumindest tat er so. Aya konnte sehen, wie er die Hand in seine Hosentasche steckte und trockene Brotkrümel auf den Boden rieseln lies. Die Hühner pickten sie glückselig auf. Seine Schwester stand ein wenig entfernt und beobachtete die Szene mit einem kleinen Lächeln.

Aya hörte, wie das Scheunentor aufgeschoben wurde, und suchte sich in dieser Richtung eine Lücke zwischen den Blättern. Aus der Scheune kam ihre Oma. Hinterher lief ein junger, blonder Mann. Aya erkannte Tino aus dem Nachbardorf. Er kümmerte sich in der nächsten Woche bestimmt um Valentins Tiere. Oma schien den Mann gerade in seine Arbeiten eingewiesen zu haben, denn sie wollte von ihm wissen, ob er noch irgendwelche Fragen habe. Er schüttelte den Kopf und wandte sich wieder der Scheune zu.

»Luise! Hast du ihm gesagt, wo er die Telefonnummer findet, falls etwas sein sollte?«, rief Valentin quer über den Hof. Seine Frau sah ihn aus großen Augen an, öffnete leicht den Mund, sagte aber nichts. Valentin stöhnte und murmelte: »Alles muss man selber machen!«

Mit mürrischem Blick trat er seinen Weg an. Aber er kam nur anderthalb Schritte weit, denn er übersah Ayas Koffer, lief genau in ihn hinein, strauchelte, wedelte mit den Armen und landete mit seinem Bierbauch voran im Hühnerdreck.

Ayas Mama schlug die Hände vor den Mund, ob vor Schreck, oder um ein Lachen zu verstecken, konnte sie nicht erkennen. Tippte aber auf Letzteres. Über Onkel Thomas’ Lippen huschte ein Lächeln, dann entfernte er sich ein paar Schritte und warf den Hühnern Brotkrümel zu, als hätte er nichts gesehen. Oma rannte die halbe Strecke zwischen Scheune und Auto auf ihren Mann zu. Dann blieb sie abrupt stehen.

Valentin stieß einen wütenden Schrei aus. Er rappelte sich auf. Wieder auf den Beinen schien er losstürmen zu wollen. Stoppte aber abrupt. Sah sich um. Er schrie Ayas Namen, schimpfte und zeterte und begann, wie ein Hund an der Kette, hin und her zu stampfen.

Als Aya gesehen hatte, wie ihr Großvater stürzte, hatte sie sich einen kleinen Schmunzler darüber nicht verkneifen können. Doch spätestens als er ihren Namen brüllte, verging ihr die Schadenfreude. Sie war froh, dass sie sich in ihrem Versteck befand. Valentin hatte nicht gesehen, wie sie auf die Linde geklettert war. Und selbst wenn ihre Mama oder ihr Onkel wüssten, wo sie sich aufhielt, die beiden würden sie sicherlich nicht verpfeifen. Sie würde einfach so lange im Baum bleiben, bis der größte Teil von Valentins Ärger verraucht war.

Der tigerte hin und her. Blieb stehen und trat gegen Ayas Koffer, dass dieser durch den Hühnerdreck rutschte. Sie wusste, ab jetzt würde sich seine Laune bessern wenn man ihn in Ruhe ließ. Er schnaubte und ging mit ausladenden Schritten ins Haus. Alle anderen schauten betreten zu Boden, nur Ayas Mama zuckte mit den Schultern und setzte sich hinten ins Auto. Das gefiel ihr. Valentin hatte seine Tochter noch nicht endgültig unter seiner Fuchtel.

Als er das Haus wieder verließ, machte er zwar immer noch ein finsteres Gesicht, bewegte sich aber nicht mehr ganz so energisch. Gekleidet in ein frisches Hemd lief er schnurstracks auf Tino zu. Der zuckte erschrocken zusammen, als er mit einer ruppigen Bewegung einen Zettel in die Hand gedrückt bekam. Bestimmt die Telefonnummer. Valentin herrsche seine Aushilfe an, er solle jetzt endlich etwas arbeiten, denn er würde ihn nicht fürs Glotzen bezahlen. Danach stopfte er Ayas Koffer, samt daran klebender Hühnerkacke, in den Kofferraum, knallte die Klappe zu und rief: »Ihr könntet alle schon lange im Auto sitzen, so kommen wir nie an!«

Aya beeilte sich, sich aufzurappeln, hielt aber noch einmal inne. Aus einem hohlen Ast holte sie ein unregelmäßig geformtes Holzkästchen, öffnete es, griff nach ihrem Schatz. Ein Messer verwahrt in einer schlichten Lederhülle. Ohne dieses Messer würde sie nirgendwohin gehen. Die Hupe des Passats drängte. Hastig ließ Aya das Kästchen auf die Bretter fallen. Nägel, Kleingeld, ein kaputter Kompass alles, was sich noch in der Kiste befand, kullerte heraus.

Ihre Zähne gruben sich in das weiche Leder. Mit freien Händen umfasste sie die Äste und kletterte hinab.

Auf dem untersten Ast angekommen, hielt sie sich daran fest und schwang auf die Bank. Ihre Füße berührten die Erde, sie spurtete los.

Valentin hatte den Wagen schon gestartet und fuhr langsam an. Sie rannte hinterher, sprang durch die offen stehende Tür, schlug sie zu und ihr Großvater gab Gas. Während Aya es sich bequem machte und ihr Messer sicher in der Hosentasche verwahrte, wirbelte der Wagen eine Staubwolke auf und verließ den Hof.

  1. Die liebe Verwandtschaft und merkwürdige Geheimnisse

Aya stieß die Tür auf und sprang hinaus. Endlich nicht mehr still sitzen! Und diese unerträgliche Hitze im Auto! Hier war es auch warm, aber wenigstens wehte Wind.

Erst als sie ein paar Schritte gelaufen war, sah sie sich um. Anscheinend war sie auf einem alten Gutshof gelandet. Ihr fiel ein großes Gebäude ins Auge. Es bestand aus unverputztem Backstein. An einer fensterlosen Giebelwand rankte Wein bis zum Dach hinauf.

Daneben stand ein Gebäude, das sicherlich einmal eine Scheune gewesen war. Die Fenster mit Gardinen dahinter verrieten, dass man es nun als Wohnhaus nutzte. Es bestand wahrscheinlich ebenfalls aus Stein, war aber mit rot gestrichenem Holz verkleidet.

Gegenüber der umgebauten Scheune gab es einen langen, flachen Holzschuppen, der sich der untergehenden Sonne entgegen streckte. Auch er präsentierte sich mit Wänden aus roten Brettern aber er hatte nicht, wie die anderen beiden Häuser, rote Ziegel, sondern ein Reetdach.

Die einzelnen Bauten standen weit voneinander entfernt, als bräuchten sie Platz zum atmen, so herrschte zwischen dem kleinen Haus und dem Schuppen genug Raum für die halbrunde, überdachte Holzbank. Wie am Hauptgebäude, rankte auch an ihr Wein empor. In Blickrichtung erstreckte sich eine endlose Dünenlandschaft, hinter der die Sonne verschwand. Die Feuerstelle davor setzte dem Ganzen das i-Tüpfelchen auf. In Aya kroch die Wärme eines prasselnden Feuers empor. In ihren Gedanken saß sie auf der Bank, räkelte sich wohlig und genoss die Geborgenheit im Versteck aus Wein. Doch ihre Neugier ließ sie nicht länger in ihrer Vorstellung verweilen. Es gab so viel zu sehen.

Kleine, gepflegte Blumenbeete, auf denen hauptsächlich Stockrosen wuchsen ließen die drei Gebäude zum Leben erwachen. Links neben dem größten Haus kümmerten einige Obstbäume auf einer versandeten Wiese vor sich hin. Ein Gegensatz zu den Rosen, der einen Hauch Harmonie in sich trug.

Zwischen den Bäumen waren kreuz und quer Leinen gespannt, an denen frisch gewaschene Bettlaken im Wind flatterten als wollten sie die schwachen Bäume anspornen, bestehen zu bleiben.

Eine Mauer aus hellen, glatten Steinen, hielt das weitläufige Grundstück zusammen. Jeder einzelne Brocken besaß seine eigene Form, als hätte jemand sie gefunden, hierher geschleppt und nach Lust und Laune zu diesem Bauwerk zusammengefügt. Auf Türen und Tore hatte derjenige verzichtet. Der schnurgerade Weg, den sie eben gekommen waren, unterbrach den Steinwall einfach. Wiesen, die nicht enden wollten und karge Bäume säumten den Sandweg bis zum Horizont.

Aya drehte sich wieder zu dem größten Haus. Sie kannte ihre Urgroßmutter zwar noch nicht, aber ihr war es egal, wie sie sein mochte; sie wollte diesen wunderschönen Ort nie wieder verlassen.

Eine Hand legte sich zärtlich auf ihre Schulter und befreite sie aus der Versunkenheit. Es war ihre Mama. Sie strahlte über das ganze Gesicht. Waren das Freudentränen in ihren Augen oder doch nur der Wind? Nein. Das wirkte, wie pures Glück. Ein Glücksgefühl, von dem man weinte.

Dieser Anblick sorgte für ein Strahlen in Aya. Sie so ungetrübt zufrieden zu sehen. Das machte diesen Ort noch viel wunderbarer.

»Los jetzt, ich will das Theater endlich hinter mir haben!«, rief Valentin. Er war auf dem Weg zum Eingang des Hauptgebäudes. Aya wurde von ihrer Mama an der Hand geschnappt und in ausgelassenem Tempo zur Tür gezogen. Es fehlt ja nur noch, dass sie Freudensprünge macht, dachte Aya. Sie überholten Valentin, nur noch ein Schritt fehlte zur Klingel. Da wurde die Tür geöffnet.

Heraus trat eine uralte Frau. Oder? Aya war sich nicht sicher.

Ein Gesicht mit einer Falte an der anderen wandte sich ihnen zu. Die roten Haare sahen aus, wie mit Bleiche gewaschen. An den Schläfen begannen weiße Strähnen ihren Weg zu den Schultern. Die Haut an den Händen sah schlaff und schlabbrig aus, lediglich über den vorstehenden Adern straffte sie sich.

Trotz alledem wirkte diese Frau nicht richtig alt. Aufrecht und stolz stand sie in der Tür, das Grün ihrer Augen glitzerte verschmitzt und als die Frau Ayas Mama entdeckte, breitete sich ein unverblümtes Lächeln auf ihrem Gesicht aus.

Augenblicklich wurde Aya losgelassen. Im nächsten Moment hatte sich ihre Mama der Frau um den Hals geworfen. Beide umarmten sich lange und Aya überkam das Gefühl, die Wärme der Verbundenheit dieser beiden Frauen auf ihrer eigenen Haut spüren.

Ein genervtes Stöhnen kratzte an diesem Moment. Valentin hatte gestöhnt. Er trampelte auf die Tür zu, wobei er finster zu Boden starrte. An der Frau und seiner Tochter drängelte er sich vorbei, in Richtung Türschwelle knurrte er: »Hallo, Mutter.«

Aya hatte es geahnt. Diese Frau war ihre Urgroßmutter Beatrice. Und offensichtlich war Valentin auf sie noch schlechter zu sprechen, als auf andere Personen, Aya selbst mit inbegriffen.

»Was soll das denn für eine Begrüßung sein? Bist du etwa immer noch sauer?«

Valentin blieb stehen. Berdohlich verweilte sein Schemen in der Düsternis des Flures. Aya hielt die Luft an. Beatrice hatte zwar enttäuscht geklungen, aber sie hatte Valentin ebenso einen Vorwurf gemacht. Keiner sonst wagte, so mit ihm zu sprechen. Es herrschte die gleiche angespannte Stille, wie am Vormittag, bevor sie los gefahren waren. Wie im Flur auf seinem Hof.Der große Sturm namens Valentin nahte. Würde er ihre Urgroßmutter anschreien? Wieder irgenwo dagegen treten? Würden seine Augen beim Reden immer größer und größer werden?

Aya war froh, dass es sich dieses Mal nicht gegen sie richtete. Gespannt wartete sie wie diese Frau reagieren würde, wenn das Unwetter tobte.

Doch der Sturm schrumpfte zu einer kleinen Böe. Aus dem Dunkel des Hauses hörte sie nur muffeliges Grummeln.

Beatrice drehte sich zu ihnen um. Ihr Lächeln war immer noch voller Freude, außerdem blitzte ein neckischer Ausdruck darin. Hatte sie es etwa auf einen Streit angelegt?

Sie wandte sich Onkel Thomas zu, auch die beiden umarmten sich herzlich. Dann war Ayas Oma an der Reihe. Beatrice legte ihre Arme um sie und schien mit dieser Geste nicht nur Wiedersehensfreude auszudrücken, sondern auch Trost zu spenden. Was von einem dankbarem Lächeln beantwortet wurde. Sie ließen sich los. Beatrice Augen wanderten zu Aya. Die anderen Anwesenden taten es der Hausherrin gleich. Wissende Blicke. Neugierige Blicke. Und Blicke voller Erwartung. Alle musterten sie.

Ärger machte sich in Aya breit. Wieso stand sie auf einmal so im Mittelpunkt? Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, da kam Beatrice ihr zuvor.

»Du hast sicher schon erraten, dass ich deine Uroma bin. Also erspare ich mir das Vorstellen«, einen Moment herrschte Schweigen. »Ich habe seit deiner Geburt darauf gewartet, dich endlich kennenzulernen … was ich von deinem Cousin und deiner Cousine nicht gerade behaupten kann.«

Aya stöhnte auf.

»Sind die etwa hier?«, konnte sie sich nicht verkneifen.

Beatrice schmunzelte. »Ja, die sind hier. Auch sie gehören zur Familie. Ich würde sagen, ihr geht sie gleich mal begrüßen. Nicht, dass es schon am ersten Abend Streit gibt, weil ihr die Elite warten lasst.«

Das gefiel Aya. Offensichtlich konnte Beatrice diesen Teil der Familie genauso wenig leiden, wie sie selbst.

Die Bodners kamen gelegentlich zu einem Besuch auf Valentins Hof. Mit jedem dieser Besuche hatte Aya diese Familie weniger leiden können. Es begann damit, dass sie jedes Mal mit einem anderen Auto vorfuhren. Immer das neueste Modell, immer die neuesten technischen Errungenschaften und immer ein Vortrag darüber, was der Wagen Tolles konnte. Danach ging die Familie naserümpfend über den Hof. Die Hühner, das Haus und die Wohnungseinrichtung betrachteten sie wieder und wieder mit abschätzigen Blicken, genauso wie sie es mit den Bewohnern des Hofes taten. Nur Valentin war von der Geringschätzung ausgenommen.

Und jetzt waren die hier! Aya hätte es ahnen müssen. Genervt folgte sie den Erwachsenen in das Haus. Im Flur bot Beatrice ihnen Hausschuhe an, die Aya ablehnte, wenigstens das Barfußlaufen wollte sie sich nicht nehmen lassen.

Die Gäste folgten Beatrice vorbei an einer Holztreppe, die nach oben führte, entlang an einer Einbuchtung in der Wand, worin Feuerholz gestapelt lag. Bis sie ihnen eine Tür offen hielt. Der Reihe nach gingen sie an ihr vorüber. Beatrice sah sie an wie ein Wächter, der Gladiatoren in die Arena geleitet und sich auf den Kampf freut, weil er sicher ist, dass er richtig gewettet hat.

Das Zimmer, das sie betraten, schien das Wohnzimmer zu sein. Durch die kleinen Fenster gelangte nur wenig Licht, trotzdem wirkte der Raum freundlich. Weder groß noch klein hatte er etwas Gemütliches an sich wenn man die schon anwesenden Personen nicht beachtete. Auf den verschiedenen, zusammengewürfelten Sitzgelegenheiten, die alle einen gewissen Charme versprühten, saßen die vier Bodners, deren Hund und Valentin. Sofort spannte sich die Stimmung. Die beiden Parteien musterten sich gegenseitig mit abschätzigen Blicken. Nur der Hund freute sich über die wechselnde Gesellschaft. Schwanzwedelnd sprang er vom Schoß seines Frauchens und stieß dabei deren Schminktäschchen um.

»Superstar! Du blöder Köter.«

»Velvet« Ayas Tante sah tadelnd zu ihrer Tochter, die mit grimmiger Miene unter dem Tisch abtauchte und ihre verstreuten Utensilien auflas. Superstar ließ sich nicht irritieren. Er trippelte zu Thomas und ließ sich eine Streicheleinheit gefallen.

Wenn das so weiterging, würde diese Woche vielleicht gar nicht so schlecht werden zumindest hoffte Aya das.

Tatjana erhob sich. Onkel Oliver tat es ihr gleich und folgte seiner Frau. Sie reckte den Schwung ihrer Nase noch etwas weiter zur Decke, kontrollierte die filigran verzierten Gelnägel und zog die Mundwinkel so weit nach oben, wie es die Lippenstiftschicht zuließ.

Onkel Thomas unterbrach Superstars Streicheleinheit, um sich zu erheben. Stoisch nickte er seiner großen Schwester zu.

»Hallo, schön dich zu sehen«, sagte Tatjana.

Noch deutlicher konnte man gar nicht heucheln, dachte Aya. Nun reichte sie Thomas die Hand, als verlange sie einen Handkuss. Immerhin. Er schüttelte sie kurz angebunden, woraufhin er sich wieder Superstar widmete. Kein Kuss.

Mit absolut identischen Worten und Gesten begrüßte sie ihre ältere Schwester, deren Augen sich kaum merklich verengten. Bis auf einen kurzen Händedruck blieb sie ihr einen Gruß schuldig.

Ihre Mutter begrüßte Tatjana ebenso. »Hallo, schön dich zu sehen.« Als Antwort ein Händedruck und ein kläglich klingendes ›Hallo‹.

Die Tante gelangte bei Aya an. Sie mochte es nicht, ihr die Hand zu geben, nur ihre Fingerspitzen zu berühren, die gleich wieder weggezogen wurden, als hätte Tatjana Angst, sich schmutzig zu machen.

Tatjana drapierte sich vor Aya und schaute über ihren Kopf hinweg. »Hallo, schön di…«

Aya packte Tatjanas Hand so fest sie konnte, schüttelte sie schwungvoll und sagte: »Hallo, Tante Tatjana, schön dich wieder zu sehen.«

Jetzt wurde sie doch angesehen. Und zwar von allen Seiten. Schweigen breitete sich im Raum aus, bis es jeden Winkel erfüllte. Ihrer Tante stand der Mund offen. Sie machte einen tuscheschweren Wimpernschlag dann reckte sie die Nase nach oben.

»Du solltest dein Kind besser erziehen, Schwesterherz.«

Beide fixierten sich. Die eine mit ärgelichem Gesichtsausdruck, die andere süffisant. Tatjana ließ ihren Blick über die restliche Familie Bodner schweifen. Oliver der noch neben Onkel Thomas stand, richtete mit geübten Griffen den Sitz seiner gestylten, schwarzen Haare. Ein formeller Blick vollendete sein Werk. So gab er jedem die Hand, was er mit einem kurz angebundenem ›Guten Tag‹ abrundete.

Nun legte Velvet ihre Schminksachen beiseite, erhob sich, feilte an ihrer Haltung und dem Sitz ihrer Haare. Als führte ein Laufsteg zwischen Sofa und Sesseln hindurch, ging sie zu ihrer Verwandschaft.

»Guten Tag, Onkel Thomas.« Sie reichte ihm nicht nur die Hand, sie deutete sogar einen Knicks an.

»Guten Tag, Tante Tessa.« So offensichtlich falsch zu lächeln, sollte man verbieten, fand Aya.

»Guten Tag, Oma Luise.« Aya stellte sich vor, wie sie an den blond gefärbten Strähnen zog, um das folgende Jammern zu genießen.

»Guten Tag, Aya.« Die Kriegserklärung, die hinter dem Gruß steckte, hörte Aya deutlich heraus. Da konnte sie sich sicher sein. Sie nahm sie an, indem sie den Handschlag erwiederte. Das Gesicht voller Hohn vollführte Velvet eine elegante Drehung, stolzierte zu ihren Eltern und setzte sich zwischen sie auf das Sofa. Alle drei beobachteten den Auftritt des noch verbliebenen Familienmitgliedes.

Florenz schlenderte auf Thomas zu. Sein Handy ließ er in die Tasche seiner kurzen Hose gleiten. Die wuchtigen Kopfhörer hängte er um den Hals. Breitbeinig, eine Hand in der Hosentasche, baute er sich vor seinem Onkel auf. Aya fand das Gehabe jämmerlich, vor allem, weil Florenz immernoch einen Kopf kleiner war, als selbst ihre Oma. Und das mit vierzehn Jahren.

Doch der folgende wortlose Händedruck ließ ihr Herz in die Hose sinken. Onkel Thomas verzieht das Gesicht. Sie betrachtete ihren Cousin genau. Das weite Trägerhemd ließ freie Sicht auf seine klar definierten Muskeln zu. Ihre Ausprägung deutete auf ein Reservoir an Kraft, mit dem Aya nicht ansatzweise mithalten könnte.

Die Reaktion des Onkels zeichnete sich als Befiedigung auf dem Gesicht des Neffen ab. Er trat an seine Tante heran.

Ayas Mama zögerte. Es hatte vielleicht nicht jeder gemerkt, aber Aya hatte es gesehen. Er sollte ihr nicht weh tun. Doch er tat es. Ihre Mama zeigte Tapferkeit. Nur eine ungerührt klingende Begrüßung gab sie von sich, woraufhin sich sein Blick verfinsterte. Aber als er sich abwandte, öffnete und schloss sie ihre Hand. Er hatte ihr weh getan. Bei seiner Großmutter schien ihm die Lust am Spielchen vergangen zu sein. Sie bekam ein einfaches ›Tag‹ zu hören. Dann erfassten seine Augen Aya.

Dieses überhebliche Grinsen. Die Verachtung. Hier ging es nicht, wie bei Velvet, um eine Kriegserklärung. Florenz forderte Ayas sofortige Kapitulation.

»Hallo, Florenz.« Todesmutig streckte sie ihm die Rechte entgegen. Er packte sie. Der Druck trieb ihr die Tränen in die Augen, das konnte sie nicht verhindern. Aber sie würde nicht aufgeben. Sie hielt sich aufrecht. Immer mehr. Immer fester. Er musste doch bald das Ende seiner Kraft erreicht haben. Die Knochen ihrer Finger pressten schmerzhaft aneinander. Seine einzige Reaktion bestand aus einem Zucken unterhalb seines Auges.

Dann ließ er los. Endlich. Und schon saß er mit verschränkten Armen zwischen seiner Schwester und seiner Mutter, die Kopfhörer auf den Ohren, die schwarzen Haarsträhnen vor den Augen.

Zwei Fronten. Valentin, der zurückgelehnt das Schauspiel verfolgt hatte, als parteiischer Schiedsrichter am Rande.

»Jetzt, wo sich alle begrüßt haben, können wir ja zu Abend essen«, warf Beatrice ein.

Das Abendbrot verlief in Hab-Acht-Stimmung, aber ohne besondere Vorkommnisse. Danach hatte keiner Lust, mehr Zeit als nötig mit seiner Verwandtschaft zu verbringen. Die Erwachsenen begaben sich in das Obergeschoss. Dort befanden sich zwei Gästezimmer mit Doppelbetten für Valentin, Luise, Tatjana und Oliver. Tessa und Thomas teilten sich die ausziehbare Couch in Valentins altem Kinderzimmer.

Unter dem Dach gab es noch zwei spartanische Räume. Beatrice ging voran, die drei Kinder hatten Mühe mit ihr Schritt zu halten. Das lag zum Einen daran, dass Beatrice für ihr Alter recht flinke Füße besaß, zum Anderen, weil sie irgendwie ihre Koffer die schmale Treppe hinauf bugsieren mussten. Schließlich auf dem kleinen Flur angekommen öffnete Beatrice die Tür, die sich der Treppe am nächsten befand. Sie verkündete, dass hier Florenz und Velvet schlafen würden.

»Hier soll ich schlafen!«, rief Velvet entsetzt.

»Hier gibt es doch nicht einmal Steckdosen!«, war Florenz’ erster Gedanke. »Wo soll ich denn meinen Laptop anschließen?«

»Und wo soll ich mich umziehen? Und schminken? Und hier gibt es bestimmt Mäuse und Spinnen!«

»Und was ist, wenn es regnet? Vielleicht ist das Dach undicht!«

»Oder es wird kalt, was dann?«

Neugierig lugte Aya an den beiden vorbei. Der Raum hatte anscheinend keine Lampe, es fiel nur der Lichtstrahl der nackten Glühbirne des Flurs herein. Zwei altersschwach aussehende Klappbetten standen in der Mitte des länglichen Zimmers. An den Seiten, unter den unverkleideten Dachschrägen stapelten sich alte Kartons, niedrige Schränke und sonstige mit Tüchern zugedeckte Gegenstände. Soweit man erkennen konnte, gab es zwei Räume, getrennt von einer Fachwerkwand. Hinter dem türlosen Durchgang herrschte verschlingende Schwärze.

Mit Panik in den Augen drehte sich Velvet zu Beatrice um. Auch Florenz wandte sich ihr zu, unaussprechliche Empörung im Gesicht.

»Das kann doch nicht dein Ernst sein! Du kannst uns doch nicht in einer Rumpelkammer schlafen lassen!«, sagte Velvet.

Beatrice zog eine Augenbraue nach oben und sah ihre verzogenen Urenkel mit Gewinnermiene an.

»Falsch! Ich muss euch nicht hier schlafen lassen. Wenn ihr diesen Raum nicht wollt, könnt ihr es euch auch im Obstgarten gemütlich machen. Neben der Tür findet ihr ein Regal, dort sind Kerzen und Streichhölzer. Gute Nacht.« Mit diesen Worten schob sie die beiden hinein. Ohne Zögern betrat sie den Raum gegenüber, den ebenso Dunkelheit erfüllte.

»Komm mit. Vergiss deinen Koffer nicht und mach die Tür zu.«

Aya beeilte sich, die Anweisungen auszuführen. Sie stellte ihr Gepäck gleich nach der Tür ab, sie konnte sowieso nicht sehen, was sie umgab.

Urplötzlich begann hinter ihr eine Kerze zu brennen. Diffuses Licht erhellte ein wenig die Innenseiten der Dachziegel, das Gebälk des Dachstuhls und eine ebensolche Liege, wie die beiden im ersten Zimmer.

Aya überkam das Gefühl, das irgendetwas an diesem Moment befremdlich war. Aber was? Bevor sie sich ernsthaft darauf konzentrieren konnte, wurden ihre Gedanken unterbrochen.

Ein wütendes Geschrei erklang. Anscheinend drang in Florenz’ und Velvets Bewusstsein, wie Beatrice sie behandelt hatte. Ayas Cousine zog über ihre Urgroßmutter her. Dabei nahm sie kein Blatt vor den Mund.

»Halt endlich deine Klappe und mach Licht an!«, schrie Florenz.

»Mach es doch selbst!«

»Dann mach die Tür auf, damit ich die Kerzen und Streichhölzer finden kann!«, lamentierte Florenz zurück. Ein lautes Rumpeln ertönte.

»Oh, mein Kopf!«, stöhnte Florenz.

»Meine Nase!«, jammerte Velvet. »Scheiße, ich blute! Jetzt mach doch endlich so ein bescheuertes Streichholz an!«

Beatrice drückte Aya die brennende Kerze in die Hand. Sie sah zufrieden aus.

»Du kommst doch sicher allein zurecht. Vielleicht können wir uns ja mal in Ruhe unterhalten«, sagte sie und verdrehte dabei die Augen in Richtung des anderen Zimmers. Dann wünschte sie Aya eine gute Nacht und ging hinaus.

Aya sah sich um. Dieser Raum war kleiner als der nebenan. Es standen ebenfalls Kisten herum, aber längst nicht so viele. Im schwachen Kerzenlicht sah sie die Giebelwand, es gab keinen weiteren Raum. Aber ein Dachfenster. Das lag über Ayas Augenhöhe, doch sie würde hier sicher etwas finden, um sich darauf zu stellen.

Morgen.

Jetzt betrachtete sie den klaren Sternenhimmel und lauschte, wie der Lärm ihrer Nachbarn abebbte. Müdigkeit machte ihre Lider schwer. Sie ging zu ihrer Liege. Hier zu schlafen empfand sie nicht als Problem, sondern aufregend.

Auf den Boden neben ihren Schlafplatz ließ Aya heißes Wachs tropfen und klebte die Kerze an. Sie ging zum Koffer und suchte sich luftige Schlafsachen, die sie anzog. Ihr Messer holte sie aus einer Tasche der ausgezogenen Hose. Aus der anderen kramte sie einen Riemen hervor, den band sie mit dem Messer daran um ihre Hüfte. So gut es ging machte sie es sich auf der Liege bequem und blies die Kerze aus. Die Beine legte sie über die Decke.

Was Velvet nur hatte? Es war Sommer! Hier oben unter dem Dach hatte sich die Wärme so angestaut, dass es schon zu warm war.

Aya warf ihre Decke auf den Boden. Bei der Hitze konnte sie nicht schlafen. Sie wälzte sich hin und her. Irgendwann zog sie ihr Shirt aus. Doch das half nicht gegen die stickige Luft. Nachdem sie sich noch zweimal im Bett gedreht hatte, stand sie auf und ging zum Fenster.

Mittlerweile hatten sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt und ihr reichte das Sternenlicht. Sie öffnete das Fenster so weit es ging und ließ sich den Wind um die Nase wehen. Irgendwie roch die Luft hier anders als auf Valentins Hof. Salzig, frischer und nach Abenteuer. Ob das Meer sehr weit weg war? Ihr hatte keiner gesagt, wo genau Beatrice wohnt. Aber das würde sie schon noch herausfinden.

Sie ging zurück auf ihrem Schlafplatz. Sie lag auf dem Rücken und starrte in die Schwärze über ihr. Sie drehte sich auf eine Seite, dann auf die andere. Als sie auf dem Bauch lag, einen Arm ließ sie von der Liege herunterhängen, fragte sie sich warum Valentin eine so offensichtliche Abneigung gegen seine Mutter hatte. Klar, er kam mit vielen Menschen nicht aus, oder die Menschen mit ihm, aber Beatrice war schließlich seine Mutter. Oder lag es gerade daran? Sie konnte bestimmt schwierig sein. Aya kannte noch lange nicht alle Seiten ihrer Urgroßmutter, daran zweifelte sie nicht.

Als sie vorhin diesen Raum betreten hatten, war auf jeden Fall irgendetwas komisch gewesen. Aya konnte sich nicht erklären, woher diese Ahnung kam, aber sie hatte das Gefühl, kurz davor zu sein das Rätsel zu lösen. Irgendetwas Merkwürdiges war es. Nur was?

Sie setzte sich mit einem Seufzen auf. Sie kam einfach nicht darauf! Vielleicht bildete sie sich auch etwas ein. Und schlafen konnte sie auch nicht. Sie zog ihr Shirt wieder über und ohne bestimmtes Ziel tapste sie in der Dunkelheit zur Tür.

Ihre ziellose Wanderung führte Aya auf den Hof. Vor der Bank prasselte ein Feuer, das einen Ausschnitt der Nacht in orangenes Licht tauchte. Geräuschlos näherte sie sich. Sand und Steine veranstalteten ein Gefühlsfeuerwerk für ihre Fußsohlen. Es kitzelte und piekste, schmeichelte und wärmte. Die schwarzen Blätter des Weines ließen eine feurig leuchtende Lücke, durch die sah sie Beatrice auf der Bank sitzen.

»Du darfst ruhig näher kommen«, sagte die Hausherrin.

Na sowas. Die alte Frau hat erstaunlich gute Ohren. Eigentlich hatte Aya in der Dunkelheit unerkannt bleiben wollen. Versuch gescheitert weiter geht’s! Sie nahm neben Beatrice Platz.

Ein wohliges Gefühl der Gemütlichkeit krabbelte vom Kopf, ihren Hals entlang und breitete sich in der Brust aus. Die runde Bauweise, die Wand aus Blättern und das Feuer machten die Sitzgelegenheit zu einem urigen Plätzchen. Auf Beatrice’ Mundwinkeln saß ein zartes Lächeln. Ihre Blicke trafen sich. Die Falten um ihre Augen drängten sich aneinander. Sie sah richtiggehend zufrieden aus.

»Bist du gar nicht traurig, dass dein Mann gestorben ist?«

So eine Frage. Dafür besaß Aya ein unglaubliches Talent. Valentin nannte das frech. Und er wurde nicht müde, ihr das einzubläuen. Und Beatrice? Kein tadelnder Blick, kein Klaps auf den Mund, kein Schlag auf den Hinterkopf. Sie schien sich an ihrer Neugier nicht zu stören. Im Gegenteil.

»Weißt du, mein Mann, Faust hieß er, und ich, wir sind schon so alt, da ist es doch zu erwarten, dass man früher oder später den Löffel abgibt.«

Aya suchte in ihrem Kopf nach der passenden Schublade, für diese Antwort. Aber da gab es keine. Weder dort, noch in Beatrice’ Gesicht, ebenso wenig in den lodernden Flammen. Warum Beatrice wohl ein Feuer gemacht hatte, in einer so lauen Nacht?

»Doch trotzdem vermisse ich ihn.«

Die Worte holten Aya aus ihrer Versunkenheit. Mit einem Ruck beugte sich Beatrice nach vorn. Sie zog zwei lange Stöcke aus dem Feuer. Einen drückte sie Aya in die Hand, den anderen behielt sie. Sie lehnte sich zurück und stocherte in der Glut, dass die Funken stoben. Einen Moment schwiegen beide. Aya wusste immer noch nichts zu sagen, also tat sie es Beatrice gleich und ließ Licht in den Himmel regnen. Über das Knistern hinweg war ein entferntes Rauschen zu hören. Es wehte gerade kein Wind, also musste es das Meer sein.

»Eigentlich stimmt das alles nicht«, nahm Beatrice wieder das Wort auf. »Ich bin traurig. Aber nicht, weil Faust gestorben ist, sondern weil ich weiß, wenn ich ihn wiedersehe, dann kenne ich ihn nicht mehr. Da wo ich herkomme, glaubt man an Wiedergeburt. Aber lediglich die Persönlichkeit kehrt zurück, nicht die Erinnerungen. Das macht mich traurig. Vielleicht treffe ich Faust schon bald wieder, aber wir werden uns nicht erkennen.«

Aya überkam das Gefühl einen Kurzschluss im Kopf zu erleiden. Darüber müsste sie in Ruhe nachdenken. Aber eins konnte ihr Verstand noch verarbeiten.

»Heißt das, du kommst von weiter weg? Bist du nicht in Deutschland groß geworden?«

»Nein, ich bin hier nicht aufgewachsen. Ich stamme aus einem ganz anderen Land.«

Aya musterte ihre Uroma. Sie sah nicht aus, wie eine Ausländerin. Sie sprach auch nicht anders.

»Wo kommst du denn her?«, fragte sie gerade heraus.

Beatrice lächelte und sah sie von der Seite her an.

»Ich denke, das solltest du selbst herausfinden, ich brauch auf meine alten Tage nicht noch mehr Ärger.«

Aya stand kurz davor, die Augen zu verdrehen. Erwachsene! Das brauch dich nicht zu interessieren; dafür bist du noch zu klein; das geht dich gar nichts an. Immer das Gleiche.

Beatrice beobachtete sie mit einem Schmunzeln auf den Lippen. Aya drehte das Gesicht weg.

»Sei nicht ärgerlich«, lenkte Beatrice ein. »Du musst hier auf dem Hof nur die Augen offen halten. Und jetzt bin ich müde. Du darfst gerne noch hier sitzen bleiben, aber ich muss in mein Bett.«

Damit drückte sie Aya den zweiten Stock in die Hand, erhob sich und verschwand im Haus.

Allein starrte sie in die Flammen des Feuers. Es strahlte kaum noch Wärme ab, die Funken tanzten müde umher. Die alte Frau stellte für Aya ein Mysterium dar, sie begriff sie nicht. Sie schwieg. Und grübelte. Und schnappte nach Luft

Mit der Hand klatschte sie sich gegen die Stirn. Weniger Beatrice verkörperte ein Rätsel, sie hatte ihr vielmehr eins gestellt! Sie soll selbst herausfinden woher Beatrice stammt und sie soll hier auf dem Hof die Augen offen halten. Sie ließ die Stöcke fallen, sprang auf und rannte los. Doch schlitternd kam sie wieder zum Stehen. Vom Zwiebeln in ihren nackten Füßen wollte sie nichts wissen. Sie sah sich um. Ein leichter Windstoß wehte ihr Haar vors Gesicht. Doch sie sah sowieso nichts. Alles präsentierte sich schwarz und noch schwärzer. So konnte sie nichts suchen. Es fehlte Licht. Am besten Tageslicht. Also ab ins Bett!

Ich habe folgende Fragen zum Text:

  1. Wie greifbar sind die Figuren?

  2. Als was für ein Mensch wirkt Aya?

  3. Wie ist das Tempo?

  4. Kommt ihr mit den vielen Figuren zurecht?

Aw: Fantasy zum Kritisieren

Da du direkt fragst:

  1. Nun, die meisten Figuren bleiben blass, aber das liegt wohl daran, dass die Geschichte später noch zur Plastizität beitragen wird.

  2. Ayas Auftreten wirkt am Anfang der Geschichte eher wie 10 statt 13 Jahre. Ich vermute, mit 13 hat ein Mädchen keine Schatztruhe mehr in einem Baum versteckt wie ein Junge es tun würde (platt gesagt). Sie müsste pubertärer sein als sie beschrieben wird (“Mama”?)

  3. Der erste Teil ist sehr gemächlich. Die Geschichte braucht lange, um Fahrt aufzunehmen. Der “lustige” Sturz des Großvaters ist banal, es trägt wenig zur Geschichte bei.

  4. Es werden viele Figuren direkt hintereinander vorgestellt, das ist für mich persönlich anstrengend.

Es entstehen Fragen bei mir nach dem Lesen, aber vielleicht habe ich ein paar Dinge nur überlesen: Wieso macht Aya erst mit 13 die erste Reise ihres Lebens? Bisher keine Urlaubsreisen mit der Familie? Wie realistisch ist es, dass ein 13jähriger Teenager seine Urgroßeltern nie kennengelernt hat? Wieso biss Aya in Leder? Auf welche Bretter fiel der Inhalt ihrer Schatzkiste und warum sammelte sie es nicht wieder auf? Wann kommt der Fantasy-Aspekt? Warum wirken die Erwachsenen nicht wie Trauernde?

Das Verb “aufrappeln” taucht mehrmals auf. Es wird zu oft Lächeln erwähnt, das hat mich irgendwie gestört.

Zum Inhalt kann ich nichts aussagen, ich habe kein Faible für Jugendgeschichten :slight_smile:

Aw: Fantasy zum Kritisieren

Als Neuling hier meine Gedanken:

  1. Nur Aya ist in diesem Ausschnitt schon greifbar. Die übrigen Figuren werden erst angedeutet: Die weibliche Linie vererbt ein Geheimnis. Der Grossvater fühlt sich ver- oder abgestossen davon. Die angeheirateten Bodners sehen nur Status und das Materielle.

  2. Aya ist naturverbunden und eine Einzelgängerin. Sie ist in einer ländlichen Gegend aufgewachsen. Ob sie sich selbst zurückzieht oder von den Altersgenossen ausgeschlossen wird, ist nicht klar. Durch die Unstimmigkeiten zwischen dem Opa und seinen Eltern hat sie ihre Urgrosseltern nie kennengelernt.

So ist der Umstand, dass sie das erste Mal verreist altersgerecht. Ebenso ihr Verhalten.

  1. Das Tempo ist gemächlich. Hauptsächlich werden die Personen charakterisiert. Im Genre Fantasy darf das sein, bei einem Thriller oder Krimi wäre es mir zu langweilig.

  2. Muss eine Beerdigung, zu der die ganze Familie kommt, sein? Kann man nicht die Bodners später vorstellen? Wenn sie für die Handlung unmittelbar danach wichtig sind, ist es in Ordnung.

Teilweise wiederholen sich Worte wie zum Beispiel abrupt. Wenn ich die Stilanalyse über diesen Text laufen lasse, begreife ich, wie schnell das passiert.