Nun, Patrick Rothfuss ist natürlich ein begnadeter Schriftsteller, der geradzu magisch mit Worten umgehen kann. Das dürfte einer der Gründe sein, warum du diesen Prolog immer und immer wieder lesen kannst, Lisella. Patrick Rothfuss wäre vermutlich in der Lage, auch die deutsche Steuergesetzgebung so zu schreiben, dass man sich darin verlieren kann. Es ist wirklich eine Schande, dass er - wenn man seiner Lektorin glauben darf - seit Jahren nicht ein einziges Wort mehr zu Papier gebracht hat und es mehr als in den Sternen steht, ob er seine Trilogie jemals zu Ende bringen wird.
Ansonsten ist ein Prolog natürlich gerade im Fantasy-Genre sehr üblich geworden - dabei kann man vermutlich mindestens 50% von den Prologen, die es da draußen gibt, gut und gerne das Existenzrecht absprechen. Viele Autoren scheinen zu glauben, dass sie in einem Fantasy-Roman zwingend einen Prolog brauchen - und schreiben einfach über ihr erstes Kapitel “Prolog” drüber, obwohl es eigentlich nicht mehr als eben das erste Kapitel ist. Ein erstes Kapitel in einem Fantasyroman kann ruhig auch erstes Kapitel heißen, wird aber häufig einfach Prolog genannt.
Ein richtiger Prolog, der diesen Namen auch verdient, erfüllt dagegen einen bestimmten Zweck. Er ist nicht nur einfach das erste Kapitel der Handlung. Häufig kann ein Prolog dazu dienen, den Kosmos und die Mythologie einer Welt zu erklären. Dann läuft man aber schnell Gefahr, den Prolog zu einem Infodump verkommen zu lassen. Häufig spielt der Prolog auch Jahrzehnte, Jahrhunderte oder Jahrtausende vor der eigentlichen Handlung. Auch dann in es gerechtfertigt, ihn Prolog zu nennen. “Das Rad der Zeit” wurde in diesem Thread ja bereits erwähnt, und hier trifft das zu. im “Lied von Eis und Feuer” von George R. R. Martin hingegen dient der Prolog (des ersten Bandes) dazu, das große Mysterium, das erst später im Buch wirklich handlungsrelevant wird, bereits einzuführen, um den Leser ein “foreshadowing” zu geben - bevor dann die Haupthandlung losgeht und erstmal in eine andere Kerbe schlägt. Auch hier ist es daher durchaus gerechtfertigt von einem Prolog zu sprechen.
“Der Name des Windes” ist tatsächlich schon etwas fragwürdiger, würde ihm aber nicht den Titel als “Prolog” absprechen wollen. Es ist nicht einfach ein erstes Kapitel. Die Handlung startet bei Rothfuss nicht mit dem Prolog. Zwar dient der Prolog auch nicht, um eine spätere Handlung anzukündigen oder in die Mythologie einzuführen oder eine tausendjahre alte Episode zu erzählen, die auf die Gegenwartshandlung Einfluss haben wird… aber bei Rothfuss hat der Prolog einen anderen Zweck: Er dient dazu, die Stimmung und Atmosphäre für das Kommende aufzubauen. Mehr, als es das erste Kapitel in der Lage ist, das dann nämlich relativ schnell in einen Dialog geht. Deswegen würde ich in diesem Ausnahmefall sagen, dass der Prolog durchaus seine Berechtigung hat - und sich auch so nennen darf. Das funktioniert aber nur - und so schließt sich der Kreis - weil eben Rothfuss so gut schreiben kann, dass er mit diesen 1 1/2 Seiten zu Beginn in der Lage ist, eine Stimmung zu erzeugen, die sich dann auf das ganze Buch zu legen vermag.