Erinnerungen

Erinnerungen

Nach vielen Jahren bin ich zurückgekehrt und sitze wieder am Strand von Marina di Venezia.

Der Sand ist derselbe geblieben hellbeige bis weiß, feinkörnig.
Das Meeresrauschen noch wie damals, leise, immer und immer wiederkehrend.
Die endlose Weite des Strandes, die Mole und der Blick nach Venedig.

Ja damals, damals war ich noch ein Kind.
Voll Freude ließ ich den Sand über meinen Körper rieseln, den salzigen Duft der Wellen - wie ein Erstickender sog ich ihn in mich hinein.

Ich erinnere mich an noch an den alten Mann, der mich aufmerksam betrachtete. An diesem Morgen saß er bei den Booten am Strand. Sein Blick voller Trauer, als ob er etwas Wertvolles verloren hätte.
War er die Nacht über hier gewesen?

Ich vergaß ihn.
Andere Dinge lockten.
Die Zeit jagte dahin.

Abends, unter einem strahlenden Sternenhimmel, lauschte ich dem leisen Gesang der Wellen,der von dem rhythmischen Schlag der Boote begleitet wurde, die hier vor Anker lagen.

All dies strahlte Ruhe und Geborgenheit aus, weit weg von zu Hause, unbeschwert.
Ich wanderte durch Weingärten, hörte den Abendgesang der Grillen und von fern die italienischen Schlager.

Niemals, niemals wollte ich wieder nach Hause zurück - und wenn doch, dann aber immer wieder hierher zurückkehren!
Träume eines Kindes.
Doch diese Sehnsucht ist nie gewichen - auch nicht in späteren Jahren.

Als Jugendliche saßen wir dann abends an den Strandfeuern und lauschten den Gitarren, träumten Träume und hatten Visionen. Visionen, wie unsere Zukunft einmal sein würde, Vorstellungen von Kindern, unbeschwert, ehrlich aber naiv.

War das gestern?
War ich nicht gestern erst hier?
Nein - es war vor langer Zeit, zu Beginn meines Weges.

Was ist aus den Träumen geworden?
Was aus den Träumenden?
Alessandro, Giorgio, Nicoletta, Gloria, und die vielen anderen?
Gloria - ich spüre noch ihre weichen Haare, höre ihr glockenhelles Lachen, den melodischen Singsang ihrer Sprache - all dies verzauberte mich.

Erwachende Gefühle, die Phantasie kannte keine Grenzen.
Unsere Träume waren schön, was kannten wir schon von dem wirklichen Leben?
Jedes Jahr wurden wir reifer, wir spürten, wie unsere Jugendkraft zunahm. Irgendwann begann es rückwärts zu gehen aber keiner konnte uns das damals vermitteln.

Nur die Erinnerungen bleiben - Erinnerungen, die um so heißer brennen, je älter man wird, je weiter man sich von der Geburt entfernt.

Wie sehen wohl meine Freunde heute aus?
Ist Gloria noch das unbeschwerte, ja schöne Mädchen von damals?
Die Erinnerung daran bleiben und das ist gut so.

Ich bin nun zurückgekommen und sitze hier allein am Meer - es ist Abend - wo sind die anderen?
Was ist aus ihnen geworden?

Unsere Unbeschwertheit ist versickert wie Wasser im Wüstensand.
Unsere Visionen umspannten die Welt - doch sie sind verblasst.
Vertraute Geräusche, Erinnerungen steigen auf, Szenen, Bilder voller Schönheit, Gefühle voller Wärme.

Könnte ich doch die Zeit nur zurückdrehen, von vorne anfangen.
Aber was dann?
Würde ich alles anders machen?
Einiges bestimmt.
Aber könnte ich auch die Zeit einfrieren?
Nein, keiner kann das.
Und so säße ich auch dann wieder hier, würde um die Zeit trauern, die niemals wiederkehrt.
Wer hat uns nur unsere Träume gestohlen?

Ich höre die Wellen rauschen, der Wind ist kühl, die Sterne sind verblasst, es ist Morgen geworden.
Keiner von damals ist erschienen.
Hoffnungslos.
Ob sie auch manchmal noch von damals träumen?
Lieben sie die Erinnerungen daran?

Ich höre Stimmen - ein Kind und seine Mutter.
Der Junge läuft und wirft sich in den Sand, lässt ihn langsam über seinen Körper rieseln.
„Ich will hier nie wieder weg!“, ruft er seiner Mutter zu.

Sein Traum beginnt.
Unbekümmert saugt er den Geruch des Meeres ein, trinkt wie berauscht den Gesang der Wellen.
Wenn es Abend geworden ist, wird er staunend auf das Meer schauen, dort wo die Lichter der Schiffe auf und ab tanzen und lange mit dem Sternenhimmel träumen.

Nach vielen Jahren wird er zurückkehren und auch hier sitzen und seinen Erinnerungen lauschen.
Ein alter Mann.

Vielleicht wird auch er sich erinnern, an den einsamen Mann, der heute hier saß, den er all die Jahre vergessen hatte. Der Mann, dessen Blick voller Trauer war, als ob er etwas verloren hätte.
Dieser Mann, seine Freunde, seine Träume, seine Erinnerungen und Trauer werden dann schon tot sein.

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Mir hat in deiner Geschichte, die zeitliche Sichtweise gefallen. Davon inspiriert, habe ich eine Kurzgeschichte begonnen, in der sich sozusagen, dein in der Geschichte heute beobachtetes Kind und die Kindheitserinnerung deines Protagonisten selbst, als Personen unterhalten. Es sind zwei ganz andere Protagonisten, ein anderer Ort und Hintergrund, an dem sich die beiden über die Konsequenz von Sichtbarkeit unterhalten. Über ihr Gesprächsthema erschließt sich einem Journalisten, der ihm anfangs, unbekannte Gesprächsteilnehmer.
Die Inspiration durch deine Geschichte, dauerte einige Tage, bis sie Wirkung zeigte und mich eine Neue beginnen ließ. Man liest eine Geschichte, legt sie quasi weg aber sie bleibt gedanklich doch da. Wie die Deinige hier. Ihr inhaltliches Konzept inspiriert.

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