Eine Weihnachtsgeschichte
Es sind nur noch wenige Tage bis Weihnachten.
Irgendjemand hatte mal behauptet, die Vorweihnachtszeit sei die schönste Phase im Jahr. Voller Harmonie und Besinnlichkeit, Tradition und Vorfreude. Eine Zeit, in der Rituale gepflegt werden, vom Plätzchen backen, Singen von Weihnachtsliedern bis hin zum Besuch von Weihnachtsmärkten. Abends sitzt man zu Hause mit der Familie, trinkt einen Glühwein oder heißen Kakao und schaut auf den rieselnden Schnee, der alles in Zuckerwatte taucht und wie ein Filter die Geräusche des Alltags verschwinden lässt. Es kehrt Ruhe ein, die Hektik bleibt hinter uns zurück. Ohne Stress freut sich jeder auf das schöne Fest. Es ist die Zeit für Besinnlichkeit.
Es sind nur noch wenige Tage bis Weihnachten.
Die Realität hat die süßen Träume verdrängt. Sie bringt keine Freude, nur Hektik und Betriebsamkeit. Haben wir alle Geschenke besorgt? Steht der Tannenbaum aus Plastik gerade und funktionieren die LED-Kerzen? Sind die Fenster geputzt, damit niemand von der buckligen Verwandtschaft etwas zu lästern hat? Zeit zum Backen von Keksen hat keiner mehr. Warum auch? Die kann man doch kaufen. Genau wie vieles andere. Hier noch ein paar völlig überteuerte Christbaumkugeln, da noch schnell einen Weihnachtspullover aus reiner Synthetikfaser, hergestellt in China. Wenn man Glück hat und die letzte freie Stelle auf dem Supermarktparkplatz ergattert, darf man mit vielen genervten und unfreundlichen Menschen in der Schlange an der Kasse stehen, wo gestresste Kassiererinnen ihren Job machen. Schnell zur Tankstelle und überlegen, ob man nicht doch noch ein paar Tage mit dem Sprit auskommt, weil plötzlich und unerwartet die Benzinpreise um zehn Prozent gestiegen sind. So wie sie es immer zu Feiertagen und in den Ferien tun.
In diesen überhaupt nicht besinnlichen Tagen erinnere ich mich plötzlich, wie es damals war, vor fünfundfünfzig Jahren. Ich war elf, mein kleiner Bruder drei Jahre jünger. Meine kleine Schwester, unser Nesthäkchen und Nachzügler, war noch ein Baby.
Es waren nur noch wenige Tage bis Weihnachten.
Mein Bruder und ich teilten uns ein Zimmer. Es war kalt, eisig kalt. Heizung im Kinderzimmer gab es nicht. Wir hatten dicke, mit Daunen gefüllte Plümos. Ich wundere mich, warum damals kaum jemand im Schlaf erfroren war. Auf den Scheiben der Fenster waren wunderschöne Eisblumen zu sehen – von innen. Wir gingen hin, betrachteten sie eine Weile und drückten dann unsere Hände dagegen. Wenn wir Glück hatten, waren die Abdrücke noch am Abend zu erkennen. Als wir ins Wohnzimmer kamen, füllte Vater gerade die Kohlen, die er aus dem Keller geholt hatte, in den Ofen. Mutter hatte inzwischen das Frühstück vorbereitet. Kaffee für die Erwachsenen, Muckefuck für die Kinder. Dazu gab es Graubrot, das ich mit Butter bestrich und Zucker darüber streute.
Wir freuten uns auf Weihnachten, hauptsächlich natürlich wegen der Geschenke. Aber wir mussten noch zwei Tage warten. Für Besinnlichkeit war keine Zeit. Der Rodelberg wartete. Ich holte den alten Holzschlitten aus dem Schuppen hinter unserem Haus und nahm die Speckschwarte, die meine Mutter mir gegeben hatte. Damit rieb ich die Kufen ein, bis der Rost unter einer Fettschicht verschwunden war. Dann zog ich die Gleitschuhe an, die mir das Christkind im letzten Jahr gebracht hatte, und wir zogen los. Der Rodelberg war etwa zwei Kilometer entfernt, keine nennenswerte Entfernung für uns. Die Straßen waren mit einer dicken Schicht Schnee bedeckt und ein Freund half mir, den Schlitten zu ziehen, auf dem mein Bruder saß.
Unser Rodelberg würde bei den heutigen Eltern ein entsetztes Kopfschütteln verursachen. Am Ende der steilen, schneebedeckten Wiese war ein Stacheldrahtzaun. Dahinter lag ein schmaler Weg. Jenseits dieses Weges war ein Angelteich, der aber im Winter (meistens) zugefroren war. Die Kunst beim Rodeln bestand darin, sich rechtzeitig vor dem Zaun vom Schlitten zu werfen und diesen anschließend vom Eis zu holen, ohne einzubrechen. Die mutigen unter uns rasten mit den Gleitschuhen den Berg hinunter. Das ging so lange gut, bis ich über einen Grasbüschel fuhr, der aus dem Schnee lugte. Das war der Moment meines ersten Saltos.
Endlich war der Heiligabend gekommen. Nach dem Frühstück stellten wir gemeinsam den Tannenbaum auf. Bevor dieser in der Halterung sicher befestigt war, hatte er gefühlt schon die Hälfte der Nadeln abgeworfen. Meine Mutter brachte die Schachtel mit dem Baumbehang und wir begannen mit der Dekoration. Tannenzapfen, Strohsterne und Lametta, ganz viel Lametta. Zum Schluss kamen weiße Kerzen auf die stärkeren Zweige. Echte Kerzen, versteht sich.
Am Nachmittag schickten unsere Eltern uns zur Messe in die Kirche. Gemeinsam mit anderen Jungs aus der Nachbarschaft machten wir uns alleine auf den Weg. Angst vor bösen Menschen hatten wir nicht. Gab es die damals überhaupt? Wir blieben in der letzten Reihe stehen. Auf der rechten Seite, hinter den Männern. Die Frauen saßen alle auf der linken Seite. Seltsame Regel. Noch vor dem Ende der langweiligen Veranstaltung rannten wir voller Vorfreude nach Hause. Wir wussten, dass während unserer Abwesenheit das Christkind die Geschenke gebracht hatte.
Das Wohnzimmer war festlich geschmückt. Die Kerzen brannten und neben dem Baum stand ein alter Zinkeimer mit Wasser. Auf einer Anrichte standen unsere Weihnachtsteller aus Pappe mit herrlichen Leckereien. Walnüsse, Paranüsse, Mandarinen, Leckmuscheln, Nappos und Eiskonfekt. Aber genascht wurde später, erst waren die Geschenke dran. Für mich hatte das Christkind eine warme Kopfbedeckung gebracht. Aus harter Wolle gestrickt, war sie tatsächlich für den gesamten Kopf gedacht. Nur das Gesicht war ausgespart. Kratzig, aber warm. Es war die Retro-Version der heutigen Sturmhauben für Motorradfahrer. Dazu gab es passende Wollsocken und Handschuhe, natürlich ebenfalls aus Wolle.
Artig bedankte ich mich für die nützlichen Sachen und schielte dabei auf die Decke, die auf dem Boden lag und das „Hauptgeschenk“ verbarg. Singular, versteht sich. Es gab nicht wie heute mehrere teure Geschenke, sondern neben den obligatorischen Kleidungsstücken nur eins. In diesem Jahr war es eine Ritterburg. Mein Bruder bekam die passenden Figuren. Wir durften eine Stunde spielen, dann wurde zu Abend gegessen. Traditionell gab es an Heiligabend Kartoffelsalat mit panierten Schnitzeln.
Viele Kindheitserinnerungen verblassen immer mehr. Ich glaube aber, dass es damals weder Vorfreude noch Stress gab. Es war einfach Weihnachten. Es gab keinen Kaufrausch, keine blinkenden Lämpchen in allen möglichen Farben, keine Billigprodukte aus China. Die Familien saßen an den Feiertagen zusammen und unterhielten sich, statt auf ihre Handys zu starren. Es gab kaum einsame Menschen.
War damals alles besser? Wohl kaum. Aber es waren trotzdem schöne Zeiten.