Hallo,
ich nehme einmal Ullis Aufruf zum Anlass und stelle eine Leseprobe ein. Da ich nicht weiß, wie lange der Text maximal sein soll, hoffe ich, dass es nicht zu viel ist.
LG
Sheila
Katharina blieb stehen und sah sich um.
Hier war der Saumpfad lediglich einen halben Meter breit. Auf der linken Seite stieg die Felswand senkrecht in die Höhe, rechts ging es genauso steil mehrere hundert Meter in die Tiefe. Auf dem Grund der Schlucht schlängelte sich ein Bach um die Felsbrocken wie eine Blindschleiche.
Vorsichtig schlüpfte Katharina aus den Tragegurten des Rucksackes und stellte ihn neben sich ab. Sie zog die Outdoor-Jacke aus. Der kalte Wind zerrte an ihrer Flanell-Bluse und ließ sie frösteln.
Katharina bückte sich nach einem kindskopfgroßen Felsbrocken und legte ihn in die Jacke. So gut es an der engen Stelle ging, holte sie aus und schleuderte die Jacke mitsamt den Stein in die Klamm. Aus dem Rucksack zog sie ein in Plastikfolie eingewickeltes Päckchen. Kurz presste sie es an die Brust.
Mein Fahrschein in ein neues Leben. Hoffentlich geht alles gut, dachte sie. Unzählige Male hatte sie sich in den dunkelsten Stunden ihr neues Leben ausgemalt. So oft, bis es eine Vision wurde. Etwas, das ihr Kraft gab, alles zu ertragen und durchzustehen. Pläne zu schmieden. Eine Vision, die für sie zu einem Glaubensbekenntnis wurde wie für andere Menschen eine Religion.
Sorgfältig stopfte sie das Päckchen in den Hosenbund. Sie besaß nur noch, was sie am Leibe trug. DAS durfte sie auf keinen Fall verlieren.
Als nächstes entnahm sie dem Rucksack einen alte Walk-Janker und schlüpfte hinein. Dann schloss sie den Rucksack, fasste sie die Schulterriemen und warf ihn ebenfalls in die Schlucht.
Der Schwung brachte sie zu nahe an den Rand. Unter ihrem Fuß löste sich der Boden. Steine polterten in die Tiefe, lösten eine kleine Gerölllawine aus. Für Sekunden schwebte Katharina über dem Abgrund. Schließlich gelang es ihr, das Gewicht nach hinten zu verlagern. Hart schlug sie mit Rücken und Hinterkopf auf die Felswand.
Katharina verharrte, bis der Schmerz nachließ und sich ihr Herzschlag beruhigte.
Sie lachte, bis ihr Lachen in ein trockenes Schluchzen überging. Welche Ironie, wenn die geplante Täuschung Realität geworden wäre!
„Alles, selbst der Tod wäre besser, als so weiter zu leben", flüsterte sie heiser.
Nein, verbesserte sie sich in Gedanken, das ist kein Leben. Ich existiere. Mein Leben beginnt nach diesem verfluchten Pass. Vorausgesetzt, ich überlebe und der Plan funktioniert.
„Es muss klappen."
Eine weitere Chance bekam sie nicht. Das wusste sie.
Dunkle Wolken zogen auf; kündeten von der Schlechtwetterfront, vor der sie die Einheimischen bei ihrem Aufbruch warnten. Im Gebirge schlug das Wetter schnell um und Schnee Anfang Mai auf über 1.500 Meter Höhe kam öfters vor. Der Wind wurde böiger und die Temperatur fiel stetig.
Sie musste weiter. Langsam richtete sich Katharina auf. Sie zitterte. Der Beinahe-Absturz steckte ihr noch in den Knochen. Den Rücken fest an die raue Felswand gepresst, den Blick auf den Boden geheftet, tastete sie sich Schritt für Schritt voran.
Als Katharina sich um die nächste Kurve schob, stöhnte sie. Der Weg, bisher nicht mehr als ein Saumpfad, verengte sich auf einer Länge von mehreren Hundert Meter um die Hälfte der bisherigen Breite.
Zum ersten Mal schwand Katharinas Zuversicht; zweifelte sie, ob das alles eine gute Idee war. Was, wenn sie …
Katharina schüttelte den Kopf und damit den Gedanken ab.
Was für Alternativen hatte sie? Zurück konnte sie nicht. Und hier stehen bleiben, bis sie vor Durst oder Kälte umkam oder vor Schwäche in den Abgrund stürzte, wollte sie nicht. Sie konnte nur vorwärtsgehen.
Mit dem Mut der Verzweiflung ging sie weiter. Der eisige Wind zerrte an Kleidung und Körper. Er machte ihre Glieder steif und gefühllos.
Katharina erreichte die erste der sogenannten Alu-Leitern.
Sie stand auf deutschem Boden!
Nach den drei Leitern, hatte sie im Net recherchiert, wurde der Weg breiter und führte hinab ins Tal.
Ob das hier die Stellen waren, wo einst die SS-Leute den Pfad gesprengt hatten, um den Vormarschen der Alliierten aufzuhalten? Sie hatten gründliche Arbeit geleistet. Die Leitern überspannten drei riesige Löcher im Pfad. Es gab dort nur noch die senkrechte Felswand.
Die Sicht verschlechterte sich. Ob durch Nebel oder tief hängende Wolken vermochte Katharina nicht sagen. Im Grunde war das Ergebnis gleich: Wenn sie noch lange zögerte, sah sie bald ihre eigenen Füße nicht mehr. Zumal bei diesem Wetter die Nacht noch früher hereinbrechen würde.
Katharina betrat den ersten der schulterbreiten Alu-Stege. Ihre steifen Finger umkrallten das glitschig-nasse Drahtseil, mit der anderen Hand stützte sie sich am schroffen Fels ab. Katharina wagte nicht, den Blick von den Tritten abzuwenden. Sie war dankbar, dass ihr der Blick in die Tiefe erspart blieb.
Katharina betrat die letzte Leiter. Der Wind pfiff in ihren Ohren, feinste Eiskristalle bohrten sich schmerzhaft in die ungeschützte Haut von ihrem Gesicht und den Händen. Ihr Janker war schwer vor Nässe; längst nur noch ein fadenscheiniges Alibi und kein echter Schutz mehr.
Die Leiter knirschte und ächzte bei jedem Schritt. Ängstlich beobachtet Katharina die Befestigungen an der Wand. Bewegte sich da eine Verankerung? Stand dort nicht eine Schraube zu weit hervor?
Weiter, kommandierte Katharina. Immer weiter!
Ihr Fuß kickte einen Stein in den Nebel. Katharina atmete erleichtert auf. Sie hatte wieder festen Boden unter den Füßen. Erleichtert atmete sie auf. Allmählich wurde der abschüssige Geröllpfad breiter und der Nebel dichter. Bald fühlte sich Katharina, als watete sie durch Milch. Sie stolperte und strauchelte, weil sie Unebenheiten und Geröllbrocken nicht sah.
Die Furcht, vom Weg abgekommen zu sein, sprang sie wie ein Raubtier an. Im gleichen Moment stürzte sie. Sie kugelte und rutschte in einer Steinlawine einen Abhang hinab. Bei den Versuchen, an dem scharfkantigen Gestein Halt zu finden, riss sie sich die Hände auf. Schließlich prallte ihr Körper gegen einen Felsen. Die Wucht des Aufschlages presste die Luft aus Katharinas Lungen.
Benommen blieb Katharina liegen. Langsam und vorsichtig bewegte sie Arme und Beine. Sie hatte Schmerzen am ganzen Körper, doch gebrochen schien nichts. Die Welt um sie herum versank in wirbelnden weißen Nebelfetzen, aus der sich die Umrisse dunkelgrauer Felsen abzeichneten.
Aus Angst, bei einer unbedachten Bewegung noch weiter abzurutschen, tastete Katharina die Umgebung ab. Sie schien auf einer ebenen Stelle gelandet zu sein und der Felsbrocken gab ihr zusätzlichen Halt.
Das Päckchen im Hosenbund fiel ihr ein. Hoffentlich hatte sie es nicht verloren! Panisch griff sie danach. Mit einem Seufzer der Erleichterung zog sie es heraus. Doch was sollte sie jetzt machen? Der Nebel nahm zu und von Minute zu Minute wurde es kälter und dunkler.
David trat auf die Veranda. Besser, er würde die Geißen früher als sonst in den Stall rufen. Die angekündigte Schlechtwetterfront kam näher, verschlang langsam und unaufhörlich die umliegenden Gipfel der Allgäuer Alpen und kroch die Berghänge hinab. Der Wind transportierte den Geruch von Schnee und eisiger Kälte.
Über zwei Finger stieß er laute und unterschiedlich lange Pfiffe aus.
Kurze Zeit später kam seine kleine Ziegenherde über die Alm getrottet. Siebzehn Muttergeißen mit ihren munteren, stets zu Schabernack aufgelegten Zickerln.
David öffnete den Stall. „Emma, Berta, Nannerl, Geli, Flockerl", leise murmelte er den Namen jeden einzelnen Tieres. „Beckerl, Mona, Gusti …"
Seine Miene verdüsterte sich.
„Sakra, Lilith, du greißliches Lumpaviah! Wo steckst du?" Erneut stieß er den Lockpfiff aus. Das Gemecker aus dem Stall war die einzige Antwort. Weit und breit war nichts von der einhornigen grauen Bergziege zu sehen, die wie ihre mythischen Namensgeberin ebenso unabhängig und abenteuerlustig war.
David zögerte. Sollte Lilith doch draußen bleiben und die Nacht im Sturm verbringen. Vielleicht würde sie das endlich von ihren Extratouren heilen.
Zurück in der Hütte ließ ihn die Sorge um die Geiß nicht los. Wie die anderen Ziegen gehörte Lilith der vom Aussterben bedrohten Ziegenrasse Capra Grigia an. Sie war ein Prachtexemplar ihrer Zucht und ebenso eigenwillig wie intelligent. Aber da war noch mehr.
Lilith war seine Lieblingsziege. Das erste auf der Jenner-Alm geborene Zickerl. Von der Mutter verstoßen, hatte er Lilith mit der Flasche großgezogen und die ersten Wochen rund um die Uhr alle vier bis fünf Stunden gefüttert. Sie war das von ihm ernannte Maskottchen der Jenner-Alm, selbst wenn sie ihn regelmäßig in den Wahnsinn trieb.
David versuchte sich vorzustellen, Lilith läge geschützt und wiederkäuend unter einem Felsen. Vergebens. Das Bild entstand nicht. Statt dessen gaukelte ihm seine Fantasie Bilder einer verunglückten Geiß vor, die verletzt oder mit gebrochenem Bein unterhalb der Felsen lag.
„Jetzt werd net narrisch, David", schimpfte er leise. „Goaßen sind keine Rindviacher. Die sind viel zu intelligent um sich zu versteigen und abzustürzen. Und die Lilith sowieso."
Wieder ging er zum Fenster und sah hinaus. Drei Stunden. Maximal. Dann waren die Wolken hier. Wie ein Backzwetschgerl in der Milchsuppe würde die Alm darin schwimmen.
David hielt es nicht mehr aus. Er zog einen dicken Kapuzen-Pullover an, warf sich die Lodenkotze über und griff nach Bergstock und Rucksack.
Er öffnete die Tür. Der Wind trieb feine Eiskristalle wie Nadeln in seine Gesichtshaut.
„Na wart, du verrecktes Drecksviach, beim diesjährigen Viachscheid in Obersdorf stehst zum Verkauf. Von mir aus sollen’S Salami aus dir machen. Ich bin fertig mit dir. Ich mag nimmer."
Trotz der kernigen Worte wusste David, dass der Ansage keine Taten folgen würden. Hatte er Lilith erst gefunden, wäre alles vergessen. Bis zum nächsten Mal.
David stieg zu den ihm bekannten Lieblingsplätzen der Ziegen auf, soweit er es bei dem Wetter wagen konnte. Immer wieder blieb er stehen und pfiff das Signal. Nichts.
Über die Latschen kroch der Nebel. David musste umkehren. Ohne große Zuversicht stieß er den Pfiff aus und lauschte.
Da - ein Laut. Er ging in die vermutete Richtung. Wieder pfiff er. Erneut eine Antwort. Kein Ziegengemecker - es klang menschlich. Wie zur Bestätigung hörte er ein rhythmisches Klopfen, Fels auf Fels. Hastig stieg David weiter auf.
Bö auf Bö folgte. Zerrte an der Kotze, erschwerte ein Vorankommen. Als halte ein wütender Wettergott David davon ab, ein für ihn bestimmtes Opfer zu entreißen.
„Hallo? Ha-allooo!!!"
Der Wind riss ihm die Worte vom Mund.
„Hier - hier bin ich, bitte helfen Sie mir." Eine Frauenstimme, gefolgt von dem Klopfen. Jetzt weniger rhythmisch, fast panisch.
David sah sich um. Er war in der Nähe eines Felsens, den er für sich ‚Die Nadel’ nannte. Erste Nebelschwaden wirbelten um Kopf und Oberkörper. Sein Selbsterhaltungstrieb brüllte den Befehl zur Umkehr. Niemandem war geholfen, wenn der Berg zwei statt ein Opfer verschlang.
Er ignorierte den Befehl, stellte sich taub und ging weiter. Nur noch bis zur Nadel, sagte er sich. Dort würde er umkehren.
Aus den Wirbeln schälte sich dunkelgrau der schmale hohe Fels heraus. An ihm lehnte eine schluchzende Gestalt.
„Ich … ich bin in den Nebel gekommen und abgestürzt. Bitte, helfen Sie mir."
Natürlich, eine Zuagroasde, eine Touri. Wieder eine, die alles besser wusste und wahrscheinlich sämtliche Warnungen Einheimischer in den Wind geschlagen hatte.
„Sind’S verletzt? Können’S laufen?"
„Gebrochen scheint nichts zu sein, aber laufen kann ich nicht."
Darauf konnte David keine Rücksicht nehmen. Er legte sich ihren Arm über die Schulter und seinen Arm um ihre Taille. „Laufen werden’S wohl oder übel. Wir müssen schnell runter vom Berg, kommen’S."
David ging los. Die Frau an seiner Seite schrie auf, dass es ihm im Ohr gellte.
„Es geht nicht. Können wir nicht hierbleiben, bis das Unwetter vorüber ist?"
„Wollen’S zwei, drei Tag herroben bleiben? Na sehen’s!"
Das half, zumindest die nächsten fünf Minuten schwieg die Frau. Schwer wie ein Sack lag sie in Davids Arm.
Der Nebel wurde dichter.
„Wir sind zu langsam."
„Ich kann nicht schneller."
„Himmeheagodna! Du oide Zipfhenna! Benutz dei Haxn!“, polterte David. „I koa di net d’ ganze Berg runtertrage.”
Von da an ging es besser.
Sie erreichten die Jenner-Hütte im letzten Moment. Wie eine Welle rollte die Nebelwand über die Alm. Aufgeregtes Gemecker empfing sie und harte Hufe scharrten über den Bretterboden. Lilith stand vor der Tür und sah David mit ihren gelben waagrecht geschlitzten Augen vorwurfsvoll an, wie er es wagen konnte wegzugehen, wenn sie kam.
Als David die Tür öffnete, stolzierte Lilith wie eine Diva in den Raum und legte sich auf einen Fleckerlteppich vor den Bullerofen.
David platzierte die erschöpfte Frau in den Schaukelstuhl, zündete die Petroleumlampe an und heizte den Ofen ein.
„Gleich wird’s warm in der Stuben."
Zitternd und mit klappernden Zähnen nickte die Frau. Aus seinem Schlafzimmer brachte David eine Decke und mehrere Handtücher.
„Hier, ziehen’S die nassen Kleider aus, sonst findet Sie der Boandlgramar doch noch. Ich mach’ derweil Wasser zum Waschen heiß."
Er schob einen Sichtschutz vor und ging zur Küchenzeile. Auch dort feuerte er den Herd an. Aus der Quelle vor der Hütte holte er zwei Eimer Wasser. Er füllte einen großen Topf und einen Teekessel und stellte beides auf.
Zuletzt zog sich David im Schlafzimmer ebenfalls trockene Kleidung an. Als er zurückkam, richtete er auf einem Tablett eine Brotzeit. In einem Becher füllte er einen Esslöffel gewürzte Butter, kippte einen kräftigen Schuss braunen Rum dazu und füllte es mit heißem Wasser auf.
„Kann ich kommen?" Hinter dem Paravent ertönte ein Laut, den David als ‚Ja’ interpretierte. „Hier - ich hab was zum Essen gerichtet."
Er schob den Paravent zur Seite. Die nassen Kleider lagen als Haufen auf dem Boden. Die Frau hatte sich wie eine Mumie in die Decke eingewickelt. Zerzaust und schmutzig sah sie aus, die Haare standen ihr wirr vom Kopf ab. Wie ein aus dem Rappenalpbach gefischtes Katzerl, dachte David und stellte das Tablett auf einem kleinen Tisch ab.
„Das Wasser zum Waschen braucht noch ein bisserl." David deutete auf Lilith, die entspannt, den Kopf auf das ausgestreckte Vorderbein aufgelegt, dalag. „Ich muss noch nach die Goaßen schauen."