Eine zweite Busfahrergeschichte

Ich möchte euch hier noch eine zweite Busfahrergeschichte aus meiner Geschichtensammlung ‚Der Busfahrer - oder: wie ich die Welt bewege‘ präsentieren. Passend zum Herbst und seiner Melancholie.
Ich hoffe, sie gefällt und dass ihr mit dem fränkischen Dialekt einigermaßen klarkommt.
(Kritik ist natürlich immer gern gesehen)

Weil’s scho worschd is …

Eigentlich sollte diese Geschichte mal wieder eine Haltestellengeschichte werden. Nicht so ausladend, eher kurz und prägnant und den wesentlichen Aspekt des Lebens eines besonderen Menschen beleuchtend. Und hier eines älteren. Aber die ganze Werdung des Geschehens hat dazu geführt, dass sie doch etwas ausladender wurde, als ich es mir zuerst vorstellen konnte.
Und so will ich mich nicht mit langen Vorreden aufhalten und steige hier gleich ein:
Ich schneide in meinen Geschichten selten das Thema Pandemie und Maske an. Und das, obwohl sie zu einem großen Teil in der Zeit der Corona-Epidemie entstanden sind. Ich habe es mich dafür entschieden, weil dies ein Thema ist, das sehr polarisiert. Für die meisten gibt es dabei keine zwei Meinungen.
Auch aus diesem Grund möchte ich hier die Sprache, rein aus meiner eigenen Ansicht heraus, doch noch einmal auf die als so lästige empfundene Maskenpflicht und die Akzeptanz an dieser Vorsichtsmaßnahme bringen.
Und ihr mögt mich nach dem Lesen dieser Geschichte als Prinzipienreiter oder alten Nörgler betrachten, aber ich bin ein Befürworter. Ich finde die Idee, dass man sich mit diesem verhältnismäßig schlichten Mittel vor dieser und einigen anderen Krankheiten in Grenzen schützen kann, recht sinnvoll und ich achte so gut ich kann darauf, dass die Vorschrift in meinem Bus auch beachtet wird.
Hauptsächlich wichtig finde ich die Nutzung der Maske für die riesige Gruppe der Vulnerablen, also der besonders Gefährdeten. Denn gerade diese sollten ausdrücklich ein großes Interesse daran haben, sich gegen den fiesen Virus zu schützen. Zudem wirkt die Maske ja auch Erkrankungen entgegen, die ebenso durch eine Tröpfchen-Übertragung ausgelöst werden. Dazu gehören so ‚banale‘ Krankheiten wie der Allerweltsschnupfen oder die jährlich regelmäßig in dieser Zeit auftretende Grippe. Da bietet sie auf ganz einfache Weise einen grundsätzlichen Schutz.
Doch ist die ältere Generation, die den Hauptteil der Gruppe der Empfindlichen bildet, vielfach nur vergesslich. Sie bemerken nicht, dass sich die Maske noch in ihrer Tasche befindet oder über das Handgelenk und eben nicht über ihren Mund und die Nase gezogen ist.
Und da ich diese Gruppe dann, rein aus sozialen Gründen, daran erinnere, konnte mir gerade eben das passieren, was mich in diesem Fall zwischenmenschlich sehr nachdenklich werden lässt.
Ich befinde mich an der Endhaltestelle Luitpoldhain. Es sind noch acht Minuten, bevor ich mit dem 36er wieder in Richtung Innenstadt mit Endstation Plärrer abfahre. Hier steigen selten, und wenn, nur wenige Fahrgäste zu.
Und es ist seit geraumer Zeit Herbst. Doch am heutigen Tag ist es besonders herbstlich. Es ist kühl, höchstens acht Grad zeigt das Thermometer. Am Himmel wandern eilig viele dicke und dunkle Wolken, die einen feinen Nieselregen auf die Erde schicken und der in jede Falte der Kleidung kriecht. Man findet Unmengen nasses Laub auf den Straßen und die meisten Menschen laufen dick eingemummelt und ohne Blick in wattierten Mänteln und Jacken zu Orten, die mehr Gemütlichkeit versprechen. Auf gewisse Weise ist dies genau das Wetter, bei dem man nicht mal einen Hund vor die Tür jagt. Und ältere Menschen schon gleich gar nicht.
Doch heute ist jemand da. Und es ist ein älterer Herr … na ja, es ist eigentlich ein viel älterer Herr, denn viele sehen ja mich bereits als einen solchen an. Er atmet angestrengt und muss seine ganzen Kräfte aufbieten, den Schritt hoch in meinen Bus zu machen. Ich vernehme einen weiteren schweren Atemzug, während ich zu ihm eile. Aber ich komme zu spät. Mit der rechten Hand hält er seinen abgegriffenen Stock und mithilfe der Türgriffe hat er sich mit der Linken die Stufe hinaufgekämpft.
»Hätten sie doch etwas gesagt«, schimpfe ich ihn mit einem Lächeln in der Stimme, als ich näher an ihn herantrete. »Dann hätte ich ihnen meinen Arm geliehen.« Er steht mittlerweile auf Armlänge vor mir, doch er reagiert nicht. Er dreht mir zwar den Rücken zu, aber ich habe eine kräftige Stimme und bin immer ordentlich zu verstehen … dachte ich bisher … na ja. Ich lasse ihn also sein Ding machen.
In diesem Moment habe ich die Möglichkeit, ihn mir etwas genauer anzuschauen: Über einem karierten Flanell-Hemd, das ein bisschen aus dem Hosenbund gerutscht ist, trägt er eine dunkelgrüne Cordjacke. Seine Beine stecken in einer braunen Cordhose und die Füße in dunklen Schnürschuhen, die schon einige Jahre auf dem Buckel haben. Auf seinem Kopf ist sein weißer Schopf von einem grauen Trachtenhut bedeckt, an dem sich sicher einmal ein stolzer Gamsbart befunden hat. Aber ich kann lediglich die Stelle ausmachen, an dem er in besseren Zeiten wohl mal befestigt war.
Er schlurft mit schlaffem Gang den letzten Meter nach links und setzt sich, den Stock hat er in die Ecke bei dem von ihm anvisierten Sitzplatz gestellt, gleich neben diesen. Er rückt leicht auf die Sitzkante vor und stützt sich mit den Armen auf den vor ihm angebrachten Querbalken aus von einer weichen Plastikschale ummantelten Metall. Und wieder höre ich das schwere Atmen.
»Geht es ihnen gut?«, frage ich ihn, meiner Fürsorgepflicht nachkommend. Er kommt mir sehr erschöpft vor.
Jetzt sieht er mich das erste Mal an. Und ich ihn. Auge in Auge. Es sind grüne, alte, müde, traurige Augen, die mich mustern. Sie schauen aus einem Antlitz, das nur aus Falten zu bestehen scheint. Schmale Falten, die jeder Linie seines abgezehrten Gesichts folgen. Seine kleine Nase verschwindet fast dazwischen. Ebenso sein Mund, bei dem die dünnen Lippen nahezu wie seine Falten wirken und nicht hoch über einem kurzen Kinn liegen.
Er nickt flüchtig und atmet wieder schwer ein und aus.
»Geht es ihnen wirklich gut?«, wiederhole ich meine Frage. Er schaut mich mit reglosem Gesicht an.
‚Hm, wenn sie mir nicht antworten, dann kann ich ihnen auch nicht helfen‘, denke ich bei mir, nicke ihm kurz zu und zucke beim Abwenden leicht mit den Schultern. Doch da fällt mir etwas Wichtiges ein und ich drehe mich noch einmal um:
»Aber setzten sie bitte eine Maske auf, wenn sie im Bus sind«, spreche ich zu ihm hinein.
Er schaut mich mit traurigen Augen an.
»Hier draußen ist es zwar leicht ungemütlich, aber dafür ist die Luft hier ungefiltert, während sie auf die Abfahrt warten.«, ergänze ich milde lächelnd und versuche, die Situation locker zu halten. Ich schaue auf meine Uhr. »Noch 6 Minuten habe ich hier Standzeit«, gebe ich ihm die passende Zeit dazu. Aber keine Reaktion kommt vorerst von ihm. Nur der gleiche traurige Blick wie eben.
»Is doch scho worschd«, höre ich dann plötzlich eine ruhige, warme Stimme aus seinem Mund. Keine Schwäche und kein Zittern klingt darin mit.
»Was ist ‚scho worschd‘?«
»Na, des mid denne Maskn da.« Seine Stimme bleibt ruhig und klar.
Ach, wieder eine dieser Grundsatzdiskussionen. Mir missfällt diese Androhung einer Auseinandersetzung.
»Aber das ist doch vorgeschrieben.«
»Des weiß ich scho … und des is mer worschd.«
Ich atme schwer durch. Also gut, denke ich, wenn er es so haben will. Eine Diskussion. Wir haben ja noch Zeit.
»Sie …«
»Des is mer worschd«, fällt er mir ins Wort. Er spricht nicht aggressiv, aber bestimmt.
»Es geht doch auch um ihre Gesundheit«, bekomme ich den nächsten Satz ohne Unterbrechung zu Ende. »Und um die der anderen Fahrgäste. Und sie sind ja nicht mehr der Jüngste, oder?«
»Freili ned. Neunaachzg bin i grad worn. Un deshalb is mers worschd.«
»Aber sie wissen schon, dass sie eine Maske aufsetzen müssen, wenn wir losfahren.« Dann versuche ich es weiter mit etwas Milde. »Jetzt, wo die Tür offen steht, geht es schon noch.«
»Ach …«, sagt er und winkt mit lahmem Arm und gelangweilter Miene ab.
»Wie ach?« Mit so viel Engstirnigkeit habe ich meine Probleme.
»Aber …«, starte ich den nächsten Probelauf. »Aber es geht doch auch um die anderen Leute im Bus.«
»Ach …«, winkt er erneut ab.
Eine lange Minute vergeht, in der ich versuche, ein Argument zu finden, das ihn noch umstimmen könnte. Denn rein rechtlich gesehen und den Vorgaben des Unternehmens folgend, darf ihn so ja gar nicht mitnehmen.
»Wie weit müssen sie denn?«, versuche ich von ihm zu erfahren.
»Nur bis vor zur Peterskirch.«
»Hmmm.« Ich denke nach.
»Wissens«, unterbricht er meine Gedanken mit seiner warmen Stimme. »Meina Frau is vur drei Monadn gstorbm. Meina Hüfdn sin beida neu. Meina Händ könna nix mehr richdich haldn. Un ich hob kann mehr, dea wou si um miich kümmerd. Die Kinner sin erchadwou inner Weld unnerwegs. Was soll iich no machn? Was soll iich no doa? Kanner brauchd miich mehr. Deswegn is mers worschd. Verstehns?«
Und nun bräuchte ich wirklich dringend einen richtig guten Tipp, wie ich das hier und jetzt handeln soll.
Am besten ich nehme ihn einfach die vier Haltestellen mit.

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@a-i-brecht
Wunderbar geschrieben und dergleichen kenne ich auch aus meinem Arbeitsalltag.
Es ist noch nicht lange her, da hatte ich eine Kundin um die 70, die in der Apotheke geweint hat, weil sie immer alles vergisst. Sie wollte sterben, weil sie das Gefühl hatte, ihren Kindern eine Last zu sein.
Ich sagte zu ihr:„Ihre Kinder wären traurig, wenn sie das wüssten.“
Sie antwortete:" Und woher wollen Sie das wissen?"
" Weil ich eine Mutter hatte, der es ähnlich ging und ich hoffe, sie hat nie geglaubt, eine Last für mich zu sein", sagte ich.

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Ich wünschte sie wäre mir noch „Last“, ein oder zwei Tage nur. Sie könnte nicht zu schwer sein und wie gerne würde ich sie tragen…

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Das verstehe ich nur zu gut!

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Danke für dein Lob :blush:
Insgesamt achten wir viel zu wenig auf Vulnerable.
Sie werden immer gesunder alt (zumindest körperlich) aber die seelische Gesundheit wird dabei komplett außer Acht gelassen.

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Da spricht jemand aus Erfahrung :fist_right:t3::fist_left:t3:

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Lieber @a-i-brecht,

ich verstehe fränkisch erschreckend gut. Aber im Text muss ich manches zweimal lesen. Möchte raten: Übertreibe es nicht mit dem Dialekt.

Du startest mit „Vorgeplänkel“, sagst dann „Schluss damit“, und machst weiter mit deiner eigenen Meinung. Hm. Bevor die Geschichte losgeht …

Das ist alles legitim - wenn du es so machen möchtest.

Ich werde mehr und mehr Freundin von Geschichten, die komplett für sich selber sprechen.
Dass es gut geschrieben ist, weißt du ja schon von den anderen. :wink:

Komma

Nee, nicht erneut … Seine Stimme bleibt ruhig …

Kann man als Schluss gut finden - muss man aber nicht. Was die Dramaturgie angeht, könntest du ruhig ab und zu ein wenig flunkern. Künstlerische Freiheit - yeah.

Einen lieben Gruß :dizzy:

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Selbst für eine Stunde dieser Last würde ich alles geben, was ich zu geben habe.

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Das ist eine wunderschöne Geschichte. Traurig aber wirklich schön.

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Hallo meine liebe @Kick

Nein, nein, tue ich nicht. Es gibt bisher nur 5 Geschichten, in denen ich Dialekt gebrauche. Dabei geht es immer um lokale Unikate. Im Hinterkopf schwirren dann immer Waltraud und Mariechen in meinem Kopf herum. Und da es natürlich nicht jeder versteht, findet man die Geschichten im Anhang in Schriftdeutsch.

Das ist aber nicht das Ziel meiner Geschichten. Ich möchte mich selbst, den Beruf Busfahrer und alles, was drumherum entsteht, vermitteln. Dazu gehören auch meine ganz persönlichen Gedanken.
Also: Alles volle Absicht :wink: (obwohl es hier schon lang geraten ist)

Nein, das ist eine Frage :wink:

Danke, klingt viel besser :smiling_face:

Meine Geschichten sind so echt, wie ich es ermöglichen kann. Ich flunkere nur zum Schutz meiner Protagonisten, wenn eine Eigenart zu auffällig wäre. Dann nehme ich mir die Freiheit.

Danke trotzdem, dass du es erwähnst. Tut gut. :smiling_face_with_three_hearts:
Und danke für deine ehrlichen Anmerkungen. Sie haben ja etwas bewirkt.

Liebe Grüße aus Nürnberg :oncoming_bus:

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Hallo @HannahK

Ach, das tut gut :smiling_face_with_three_hearts:
Es ist so schön zu sehen, dass ich immer wieder Leser auf meinen Reisen mitnehmen kann. Und noch dazu welche, die selbst schreiben.
Freut mich, dass es auch bei dir geklappt hat.
Aber siehe, unsere liebe @Kick sieht das unter einem gänzlich anderen persönlichen Brennglas. Sie will es :dizzy: und :fire:
Ich danke dir. Aber wenn dir noch etwas auffällt: nur raus damit.

Grüße aus Nürnberg :oncoming_bus:

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