Liebe Kollegen,
momentan beschäftige ich mich mit Korrekturen und ordne ein altes, sehr umfangreiches Projekt neu. Dabei gelangte ich zu einem meiner Lieblingskapitel, das ich gerade überarbeitet habe.
Ich möchte es mit euch teilen. Mich würde interessieren, ob ihr sachliche Fehler findet (habe vom Segeln, Navigieren und historischen Schiffen keinen Schimmer) und was euch zu den Hauptfiguren (Loic, Lale, Gida/Gidjon) einfällt.
Also dann, ich hoffe auf euer Feedback.
Das Kapitel beginnt damit, dass die erste Prise der Dragonmar dem Untergang entgegen segelt. Die Handlung des Kapitels findet auf der Dragonmar statt.
Kapitel 22
Im Sturmmeer vor der Küste von Orman
Mit brennenden Segeln schaukelte die Wylie am blutroten Horizont den aufgehenden Sonnen und ihrem eigenen Untergang entgegen. Der böige Wind nahm die Schreie der Verlorenen mit sich.
„Die Ladung ist unter Deck, Cannard.“ Locan und kletterte die Stufen zum Achterdeck hinauf.
„Schäden?“, fragte Loic und musterte das schwarz verschmierte Gesicht des Zweiten.
„Ein Riss im Vorsegel.“
„Junias soll sich darum kümmern!“
„Aye.“
„Und die Mannschaft?“
„Ein paar Kratzer. Nur der Bursche … “
Sie schauten hinunter auf das Hauptdeck. Die Männer hatten sich verstreut. Es herrschte Stille. Sein Blick blieb am Körper des Schiffsjungen hängen. Er lag in einer Blutlache, seine Glieder seltsam verdreht.
„Nichts mehr zu machen“, murmelte Locan.
„Wir werden letzte Worte für ihn sprechen … Wenn das Deck gereinigt ist, schenkt jedem eine doppelte Ration Deoch aus.“
„Aye, Cannard.“
„Heute Abend werde ich jedem seinen Anteil geben. Den Rest werden wir verkaufen. … In Alata.“
„Alata? Kenn ich nicht. Wo ist das?“
Der alte Seebär wandte sich um. Eine dicke Schicht geronnenen Blutes, Ruß und Schmutz verklebte Loics Züge. Seine meergrünen Augen musterten Locan mit stechendem Blick. „So heißt der Hafen von Almanbay.“
„Almanbay? Bist du verrückt geworden?! Die Assai werden ihren unersättlichen Schlund öffnen und uns alle mit Haut und Haar verschlingen!“
„Hast du eine bessere Idee? Wir können die Ladung der Wylie wohl kaum in MunaFadhan, Lochadhara oder auf den nördlichen Inseln verkaufen.“
„Munburt!“
„Munburt? Es wird Winter und wie immer zu dieser Zeit, macht das Sturmmeer seinem Namen alle Ehre.“ Loic zeigte auf den Horizont. „Sieh dir den Himmel an! Es braut sich schon wieder was zusammen.“
„Die Dragonmar fliegt mit dem Sturm, Cannard. Dafür ist sie gebaut. Lieber vertraue ich mein Schicksal diesem Schiff und unserem Können an, als den wankelmütigen und gierigen Assai!“
„Es ist zu weit nach Munburt. Dafür müssten wir neue Vorräte aufnehmen.“
„Dann tun wir das!“
„Und womit willst du zahlen?“
Locans Blick flog zur Luke des Laderaums.
„Mit der Beute der Wylie? Vergiss es!“ Loic winkte ab. „Sie kämen uns sofort auf die Schliche. Außerdem liegt der Hafen von Akmina längst hinter uns. Auf dieser Seite des Meeres kommt kein Weiterer mehr.“
„Dann schnallen wir eben den Gürtel enger. Lieber riskiere ich die Überfahrt nach Munburt als …“ Er seufzte. „Loic, wer mit den Assai handelt, wird früher oder später von ihnen gefressen.“
Der Cannard zog sein Pfeifchen aus der tiefen Tasche des Mantels und steckte es an. „Ich denke darüber nach.“
Lionrock leerte schwungvoll einen letzten Eimer Wasser und sah zu ihnen hinauf.
„Es ist so weit“, sagte der Alte und wies mit seinem Stummelfinger auf den Leichnam des Schiffsjungen. Mit groben Stichen verschloss der Takler das Segeltuch über dem zerstörten Gesicht des Jungen.
„Alle Mann an Deck!“, rief Locan.
Die Mannschaft versammelte sich. Eine Möwe setzte sich auf die Mastspitze über dem Krähennest und äugte mit schiefgelegtem Kopf in die Tiefe. Jax der Zimmermann tauchte an Deck auf und legte eine schmale Planke neben den Körper auf den Boden.
„Fass mal mit an!“, sagte er zu Junias.
Der Takler nickte knapp. Gemeinsam hoben sie das Brett auf die Reling und warteten schweigend.
„Nun denn“, murmelte Loic. Er versenkte sein Pfeifchen wieder in den Taschen des Mantels und schaukelte zu seiner Mannschaft. „Ich kannte ihn kaum. Daher weiß nicht viel über ihn zu sagen. Doch er war einer von uns und so erweisen wir seinem Opfer den gebührenden Respekt“, rief der Cannard mit fester Stimme und hob seinen Becher.
Die Männer schwiegen. Über ihren Köpfen knatterte laut das feuerrote Leinen der Dragonmar. Der Rudergänger korrigierte den Kurs. Das Schiff neigte sich sanft und die Segel verstummten.
„Wo er jetzt ist, möge er in alle Ewigkeit vor Schmerz und Leid beschützt sein. Stoßen wir an mit dem Wasser des Lebens auf unseren Kameraden und übergeben seinen sterblichen Leib dem Meer“, fuhr Loic fort.
Die Männer traten an die Reling und hoben ihre Becher. Leise sirrend rutschte die Leiche des Schiffsjungen hinunter. Die Schatten der Tiefe schluckten gierig das helle Segeltuch. Luftblasen stiegen wie Perlen an die Oberfläche. Sie bildeten eine silbrig schimmernde Kette, die nicht abriss und deren Glieder größer und größer wurden.
„Bei den Wassergeistern! … Was ist das?“ Flüsterte Dagur.
Beunruhigt starrte die Mannschaft in das aufgewühlte Wasser. Das Meer brodelte, als würde es kochen.
Etwas Diffuses, eingehüllt in einer gigantischen Luftblase, löste sich aus der Finsternis und stieg empor. Wie ein Mann wich die Crew zurück und bildete in sicherer Entfernung eine schweigende Mauer. Doch den Cannard zog das unheimliche Schauspiel mit unwiderstehlicher Kraft an. Er beugte sich weit über die hölzerne Bande und beobachtete mit angehaltenem Atem, wie ein riesiger Wirbel die Wasserfläche schaumig rührte und einen kegelförmigen Strudel erzeugte.
Das Ungetüm durchbrach laut donnernd die Oberfläche. Eine Wasserfontäne schoss zwanzig Fuß in den Himmel und ergoss sich auf das Deck. Mit einem Aufschrei stürzte sich die Möwe von der Mastspitze in die Tiefe, fing sich eine Handbreit über dem Wasser und flog schimpfend aufs offene Meer.
Die Männer schrien durcheinander und suchten ihr Heil in der Flucht. Nur der Rudergänger rührte sich nicht vom Fleck. Er umklammerte das Steuerrad, als hielte er sein Leben in den Händen und steuerte blind hin und her. Die Dragonmar krängte.
Endlich gelang es Loic, sich loszureißen. Er stürmte zum Achterdeck hinauf. „Aufschießen!“, schrie er, mit einer Stimme laut grollend wie ein Donnerschlag. „Legard!“
Der Mann am Steuer riss die Augen auf.
„Aufschießen!“
Der Rudergänger reagierte nicht. Mit einem Fausthieb schickte Loic den erstarrten Mann zu Boden und riss das Steuerrad herum. Augenblicklich kam das Schiff zum Stehen.
„Jorvic, Thorve Treibanker!“
Die Männer sammelten sich in einer Traube auf dem Deck und sahen mit schreckgeweiteten Augen zu ihm hinauf.
„Los doch!“, schrie Loic.
Der alte Lionrock reagierte zuerst. Nachdem der Anker im Wasser war, lugte er über die Reling und blieb gebannt stehen.
„Refft die Segel!“, befahl Locan mit heißen Wangen und übernahm das Steuer.
Das Meer hatte sich beruhigt. Auf sanften Wellen schaukelte triefnass eine kleine Jolle. Das Deck war leer gefegt und der Mast gebrochen. Wie Schneeflocken taumelten die Überreste des Segels im Wasser, bevor sie in der Tiefe versanken.
„Bei allen Seegeistern! Woher hast du das gewusst?“, fragte Locan seinen Cannard.
„Ich wusste es nicht. Aber mein Vater hat mir einmal von einem Segelboot erzählt, dass gekentert und gesunken ist und nach einiger Zeit unversehrt wieder auftauchte. Damals war ich ein junger Bursche und ich hielt es für Seemannsgarn. Doch wie es aussieht …“ Er grinste. „Legard, übernimm das Steuer! Und halte die Augen auf!“
„Aye, Cannard“, sagte der Mann kleinlaut. Er rappelte sich auf und spuckte einen Zahn aus, der leise klackernd über das Deck rutschte.
„Na, was ist? Kommst du?“, fragte Loic. Doch er wartete die Antwort des Ersten nicht ab und lief voraus.
„L-o-r-a-y-n.“ Buchstabierte Jax und sah fragend zu seinem Cannard auf.
„Lorayn? Aber - “ Locans Blick sprang zwischen der Jolle und dem Kapitän hin und her.
„Richtig!“ Loic grinste so breit, dass sein Pfeifchen den Halt verlor. Er fing es mit einer Hand auf und steckte es wieder in seinen Mund. „Das Beiboot der Libet. Mit diesem Boot segelte deine Nichte in den Sturm.“ Er nahm genüsslich einen tiefen Zug und paffte den Rauch direkt in Locans Gesicht. „Aber weißt du, was wirklich verrückt ist?“
Stumm schüttelte der Zweite seinen dunklen Kopf.
„Es ist dasselbe Boot. Die Lorayn ist ein weiteres Mal gesunken und wieder aufgetaucht.“
Das Niedergangsluk polterte vernehmlich auf die hölzernen Planken der Jolle. Die Männer verstummten zu atemlosen Schweigen. Ihre Köpfe fuhren herum und die Hände an der Reling schnellten zurück, als hätten sie sich synchron verbrannt. Eine gesunde und eine Klauenhand glitten suchend über den nassen Boden. Sobald sie Halt fanden, kletterte eine zierliche Gestalt heraus. Nach ihr erschien ein zerzauster Lockenkopf. Fette Schultern zwängten sich durch die kleine Öffnung, kräftige Arme ruderten in der Luft, um sich aus dem engen Gelass zu befreien. Mit dem satten Plopp eines Korkens, der aus dem Flaschenhals gezogen wird, wand sie sich, gestützt auf ihre Hände ans Tageslicht. Das Riesenweib blinzelte den Rumpf der Dragonmar empor, bis ihr Blick an Loic hängen blieb. „Duuu?“, fragte sie. Und nachdem sie sich wieder gefasst hatte, fuhr sie fort: „Willst du deiner Nichte nicht die Gastfreundschaft deines Schiffes anbieten?“
„Sei gegrüßt Lale. Wie schön, dass du dein …äh, Abenteuer unbeschadet überstanden hast und bei guter Gesundheit bist.“ Nachdenklich musterte Loic die abgerissenen Gestalten. Das Kind lag zusammengerollt wie eine Assel auf den nassen Planken und lauschte Lales Worten mit halb geschlossenen Augen.
„Mir steht nicht der Sinn nach Höflichkeiten. Also machen wir es kurz. Erlaubst du uns, an Bord zu kommen oder nicht?“
Die Lorayn schwankte. Lale verlor den Halt und rutschte über das feuchte Deck. Die kleine Hand des Kindes hielt sie fest.
„Setzt euch, Kansala. Ihr habt lange nicht gegessen“, flüsterte das Mädchen.
Die große Frau lehnte sich an das Süll und schloss erschöpft die Augen.
„Besitzt du noch das Schreiben, welches du mir als Gegenleistung für meine Hilfe geboten hast?“, erwiderte Loic.
„Rette uns oder lass uns sterben, Onkel. Aber ich habe nichts, dass ich dir dafür geben könnte.“
Locan musterte die unbeweglichen Züge des Cannards. „Zwei Esser mehr, noch dazu ein Weib. Das bringt nur Ärger. Und das Boot ist ziemlich ramponiert. Wer weiß, ob es sich reparieren lässt. Sie hat Recht. Sie kann uns nichts bieten. Wir sollten weitersegeln“, raunte er.
Loic schaute zum Horizont. Verloren blinzelte Aldhabi über einen grauen Wolkenberg. Das Meer dehnte sich tiefschwarz, so weit das Auge reichte. Ein neuer Sturm kündigte sich an. Ohne Ruder und ohne Segel wäre die kleine Jolle den Elementen hilflos ausgeliefert.
„Mag sein, dass sie nichts hat … Aber dafür ist sie. Nämlich alles, was von meiner Familie übrig blieb, Blut von meinem Blut.“
„Blutsbande? Sie haben dich davon gejagt, weißt du nicht mehr?“
„Und jetzt sind alle tot. Lale trifft daran keine Schuld. Als ich mein Elternhaus verließ, war sie gerade geboren.“ Die Gestalt des Cannard straffte sich. Mit befehlsgewohnter Stimme wandte er sich an seine Männer.
„Macht das Beiboot klar. Nehmt zusätzliche Ruder mit. Jax, sieh nach, wie schwer die Jolle beschädigt ist. Junias, du überprüfst die Takelage. Dagur, du bringst meine Nichte und das Kind auf die Dragonmar. Dann ruderst du wieder zum Boot zurück.“
„Aye, Cannard.“
Sein meergrüner Blick maß den zerzausten dreckigen Haufen an Deck seines Schiffes. Er grinste breit. „Dies ist ein Zeichen, seht ihr das nicht? Unser erster Raubzug war ein voller Erfolg. Die Dragonmar ist unversehrt. Wir haben Ersatz für den Burschen. Vielleicht bekommen wir sogar ein schnelles Beiboot. Dieser Tag muss gefeiert werden!“ Er hob seinen Becher und die Mannschaft jubelte ihm zu.
Locan stand an der Reling und schaute über das Wasser. Der Wind hatte aufgefrischt. Kleine Schaumkronen tanzten auf den dunklen Wellen. Loic gesellte sich zu ihm. „Stoß auf uns an, mein Freund!“ Er drückte einen gefüllten Becher in Locans Hand.
„Hoffentlich tust du das Richtige. Dieses Weib scheint Ärger anzuziehen, wie Scheiße einen Fliegenschwarm.“Der starke Deoch brannte in seiner Kehle.
Loic lachte. „Ich dachte, du kennst sie nicht.“
„Sei vorsichtig, Cannard. Eine falsche Entscheidung und wir könnten alles verlieren.“
„Wer nichts riskiert, kann nichts gewinnen.“
Sie sahen zu, wie Lale an Junias Hand ins Beiboot stieg und das Kind hinterher sprang. Dagur legte sich in die Riemen. Das kleine Boot lag tief im Wasser. Unter den trunkenen Rufen der Männer kletterten die Geretteten die Jakobsleiter hinauf und über die Reling.
„Und wer zu viel riskiert, kann alles verlieren“, murmelte Locan.
Aber Loic hörte es nicht. Er sah sich nicht einmal nach ihm um.
Trotzig und von oben herab erwiderte Lale den Blick des Cannard, mit Augen so grün wie Jade. Doch er sah die Hungerfalten an ihren Mundwinkeln, die trockenen Lippen mit den blutigen Rissen. Unter ihrer blassen Haut schimmerte blau das Netzgeflecht ihrer Adern. Sie zitterte. Ihre Arme legten sich um die bebenden Schultern ihres kleinen Gefährten und zogen ihn an sich. Dennoch wirkte es, als stützte sie sich auf das Kind.
„Kommt mit.“ Loic führte sie unter Deck zu seiner Kajüte. Der Raum war niedrig. Die großen Fenster am Achterdeck fingen den mageren Sonnenschein ein und tauchten ihn in behagliches Licht. Die warme Luft roch nach Pfeifentabak, Seife und Staub.
„Nein, lass sie zu“, unterbrach Lale seinen Weg. „Es ist das erste Mal seit Tagen, dass wir nicht frieren.“
Lionrock erschien in der Tür. In den Händen hielt er ein Tablett. „Ihr seid sicher hungrig. Wir haben nicht viel, etwas Fischpastete“, nuschelte er.
„Gut, gut … daran habe ich gar nicht gedacht. Stell es auf den Tisch“, sagte Loic.
Lale und das Kind sanken auf die hölzerne Bank und stürzten sich auf den dampfenden Topf.
„Bleibt vorerst hier und ruht euch aus. Morgen sehen wir weiter.“
„Onkel?“
Der Cannard wandte sich in der Tür um. Der trotzige grüne Blick hatte sich gemildert. „Danke.“
Eine hitzige Röte stieg aus seinem Hemdkragen auf und überzog seine Wangen. Er räusperte sich und nickte knapp. „Bis morgen, dann.“
Die Männer waren an Bord zurückgekehrt und die Dragonmar nahm wieder Fahrt auf. An einem dicken Tau hüpfte die Lorayn im Fahrwasser des Segelschiffes, wie ein übermütiges Fohlen, das seiner Mutter auf die Weide folgt.
Loic gesellte sich zu seinen Männern. „Was meinst du?“, wandte er sich an den Schiffszimmermann.
„Das ist ein grundsolides Boot. Eine gute Arbeit“, lobte Jax.
„Mein Vater hat sie gebaut. Für seine große Liebe … Als Vater und Ehemann hat er nichts getaugt. Doch er war der beste Bootsbauer entlang der Küste. Aber das meine ich nicht. Wie schwer ist das Boot beschädigt?“
„Ist nicht wirklich viel passiert. Der Bootskörper ist intakt. Es ist kein Wasser eingedrungen. Aber die Takelage ist zerstört. Sie braucht neue Masten, Spieren, Taue, Segel und so was“, antwortete Jax.
„Kriegst du das hin?“, wandte sich Loic an seinen Takler.
„Ist mein täglich Brot seit ich die Ahle halten kann. Ist mir auch lieber, als Leichensäcke zu nähen“, sagte Junias.
„Und hast du alles, was du brauchst?“
„Ich denke schon …“
„Gut. Gleich morgen fängst du an. Nimm dir ein paar Männer, wenn du Hilfe brauchst.“
„Aye.“
„Locan? Besetze den Ausguck und teile beim nächsten Glasen einen anderen Rudergänger ein.“
„Aye.“
„Ach, ja. Ich werde heute in deiner Kabine schlafen. Also hol deinen Kram und such dir eine andere Koje. Morgen sehen wir weiter.“
„Aber -“
„Aber was? Soll vielleicht der Cannard bei der Crew schlafen?“
Locans Antwort verlor sich im lauten Klang der Schiffsglocke.
„Vier Glasen. Was ist? Hast du keinen Hunger?“ Rief Loic und stürmte bestens gelaunt den Niedergang hinunter zur Messe.
Das Essen und das warme Bad hatten ihre letzten Reserven verbraucht. Lale und Gida verschliefen den Sturm, die Flaute und den zweiten Sturm, das Abendmahl, die verregnete Nacht und das Fastenbrechen.
Im schalen Licht eines neuen Morgens erwachten sie und sahen sich verstohlen um. Die Kajüte ihres Onkels fand Lale in penibler Ordnung vor. Nichts lag herum, keine Erinnerungsstücke, keine persönlichen Gegenstände. Alles in diesem Raum war akkurat, sauber, faltenlos und im rechten Winkel.
Sie fragte sich, welches die größere Lüge im Leben ihres Onkels war: Die makellose Ordnung seiner Kajüte oder sein Platz als Freibeuter außerhalb des Gesetzes.
Sie stand auf und schlich im Zimmer umher. Die größte Fläche des Tisches nahm ein dicker Stapel Seekarten, beschwert von einem Sonnenstein und einem scheibenartigen Instrument, ein. An der Tür hing Loics Lodenmantel, der nach Pfeifentabak roch, die Schifferstiefel standen akkurat daneben. Am Boden seines Schrankes fand sich eine kleine massive Truhe mit dicken Beschlägen. Der Schlüssel steckte. Für einen Moment fühlte sie sich versucht, hineinzusehen. Doch unter Gidas aufmerksamen Blick bezwang sie ihre Neugier und warf die Schranktür krachend zu. Es klopfte. Mit einem Satz sprang Lale in die Koje und zog die Decke bis ans Kinn.
Ohne die Antwort abzuwarten, trat der Cannard ein. „Wie ich sehe, seid ihr endlich wach.“
Lionrock trug am freien Ende des Tisches das Essen auf. Gida sprang in Hemdsärmeln herbei. Stehend und mit beiden Händen stopfte sie sich feines weißes Brot in den Mund und spülte mit dampfendem Tee nach. Vor den Fenstern am Achterdeck baumelte Lales zerrissenes Gewand zum Trocknen an einer Schnur. Der Rock war bis zum Knie verbrannt.
Der Cannard nahm das Kleid herunter und legte es über seinen Arm. „Junias ist geschickt mit der Nadel. Womöglich lässt sich noch was machen.“ Er lief zum Schrank und warf Hemd, Weste und Hose auf das Bett. „Inzwischen kannst du das anziehen.“
Die verrutschte Decke entblößte Lales runde weiße Schulter. Der Ansatz ihres Busens hielt Loics Blick fest.
„Wenn nichts weiter ist …“, nuschelte der Alte und riss den Cannard aus seinen Gedanken.
„Richtig. Ja … warte noch!“ Mit brennenden Ohren übergab er dem Alten Lales zerrissenes Kleid. „Bring das zu Junias! Ich komme später nach.“
„Aye.“ Lionrock ging.
„Also entweder schließt du die Tür von der einen oder von der anderen Seite. Auf jeden Fall werde ich nicht aufstehen, so lange sie offen ist“, sagte Lale mit einem halben Lächeln.
Mit dem Fuß schob Loic die Tür hinter Lionrock zu, ohne seinen Blick abzuwenden.
„Umdrehen!“, kommandierte Lale.
Der Cannard schaukelte zum Tisch und musterte seine Karten. Das Kind schickte einem letzten Schluck Tee einen kräftigen Rülpser hinterher und wischte seine Hände am Beinkleid ab.
„Was ist das?“, fragte Gida und zeigte auf die golden schimmernde verzierte Scheibe neben dem Kristall.
„Nicht anfassen!“, donnerte Loic.
Das Kind zuckte zusammen und versteckte seine Hände unter dem Tisch.
„Das ist ein Planisphärum.“
Mit großen Augen schaute es ihn schweigend an und rührte sich nicht von der Stelle.
„Komm schon her, ich zeig es dir.“ Sein Ton war versöhnlicher.
„Auf dieser Scheibe sind der Horizont und die Kreise des horizontalen Koordinatensystems abgebildet, siehst du? Man nennt sie Tympanon. Hier oben liegt die Rete. Man kann sie drehen. Auf ihr befinden sich die Jahresbahnen der Sonnen, von Shamsa und anderen Sternen.“
„Wofür braucht Ihr das?“ Fragte Gida.
„Aus der Zeit, also dem genauen Tag und der Position eines Sternes oder der Sonnen lässt sich zum Beispiel die Himmelsrichtung bestimmen. Oder andersherum kann ich die Rete auf Datum und Uhrzeit einstellen, um die Position der Sterne abzulesen.“
„Das heißt, damit findet Ihr heraus, wo das Schiff gerade ist.“
„Richtig. Oder ich bestimme einen Kurs, der mich zu einem bekannten Ort führt.“
Gida beugte sich über den Tisch, um das Instrument genauer zu betrachten. „Was ist ein Datum?“
„Ein ganz bestimmter Tag in einer Reihe von vielen Tagen.“
„Woher weißt du ob es gerade dieser und nicht ein anderer Tag ist?“
„Durch den Kalender.“
„Was ist ein Kalender?“
„Bei allen Seegeistern! Ich hatte noch nicht einmal Frühstück und du fragst mir Löcher in den Bauch“, brummte Loic. Er wühlte in seinen Papieren und zog ein großes Pergament hervor. „Du weißt, dass die Sonnen und der Mond diese Welt auf ganz bestimmten Wegen umkreisen.“
„Nein“, sagte Gida.
„Nun, sie tun es. Und wenn du den Himmel genau beobachtest, wirst du sehen, dass sie immer zu einem bestimmten Zeitpunkt an einer ganz bestimmten Stelle zu sehen sind.“
„Und dieser ganz bestimmte Zeitpunkt ist ein Datum.“
„Richtig! Die Übersicht über alle Tage nennt man Kalender. Diesen hier habe ich von den Assai. Sie haben Kalender, die weit in die Vergangenheit und in die Zukunft reichen.“
Ehrfürchtig strich das Kind über das Blatt. „Dann gibt es ein Papier, auf dem der erste Tag meines Lebens verzeichnet ist?“
„So ist es.“
„Und auch mein letzter?“
„Wahrscheinlich schon. Aber auch meiner und von jedem anderen, den du kennst.“
„Dann sind sie mächtiger als ich“, flüsterte das Kind.
Lale sprang aus der Koje, wie ein Nunki aus dem Hinterhalt. Die Weste segelte durch die Luft und landete auf Loics kahlem Schädel. Gida kicherte.
„Was soll das?“ Ärgerlich riss er das Kleidungsstück herunter.
„Ist für Kerle gemacht.“ Sie zeigte auf ihre Kurven. „Da passe ich nicht rein.“
Mit roten Ohren musterte er ihren Busen. „So gehst du jedenfalls nicht hinaus!“
„Das ist dann ein Problem.“ Lale schenkte ihnen Tee ein. „Denn ich lasse mich nicht einsperren.“
Genießerisch biss sie in das frische weiße Brot und schloss verzückt die Augen.
„Dein Bürschlein hat Verstand. Wie heißt er eigentlich?“
„Gid-jon“, antwortete Lale rasch.
Das Kind sah auf und erwiderte ungerührt den strengen Blick seiner Herrin. Dem Cannard entging der Blickwechsel nicht.
„Geh auf die Brücke und melde dich bei Locan. Er findet sicher Arbeit für dich, Gidjon“, befahl er mit ironischem Unterton.
„Nein, bleib hier!“, sagte Lale.
Der meergrüne Blick verdunkelte sich. „Ich habe an Bord dieses Schiffes das Sagen. Und ihr beide werdet mir gehorchen!“
„Wir sind aber nicht Teil deiner Crew!“
„Ein Wort von mir und ihr sitzt im Handumdrehen wieder auf eurer kleinen Jolle. Sieh dir den Himmel an! Noch einen Sturm übersteht die Lorayn in ihrem jetzigen Zustand nicht. Es wäre euer Untergang.“
„Spricht so ein liebevoller Onkel?“
„Weiß nicht, Onkel bin ich erst seit letzter Nacht. Vor allem bin ich der Cannard dieses Schiffs. Unser aller Leben hängen davon ab, ob die Männer mir gehorchen, oder nicht. Einem schwachen Anführer werden sie nicht folgen. Und sollten sie meutern, sterbe womöglich nicht nur ich, sondern auch du und deine Sprotte und all die anderen, die treu zu mir stehen.“
Nachdenklich kaute sie an ihrer Unterlippe. Dann schob sie einen Becher Tee über den Tisch. „Gut. Ich werde mich zusammenreißen. Versprochen.“
Loic nahm einen tiefen Schluck aus der dampfenden Tasse und verzog schmerzgeplagt sein Gesicht.
„Aber was das Kind angeht … Über Gidjon bestimme ich.“ Sie beugte sich nach vorn und sah dem Schiffer fest in die Augen. „Nur ich.“
Die Falten auf seiner Stirn vertieften sich.
Es klopfte.
„Herein“, sagten beide aus einem Mund.
Loic schüttelte sein Haupt. Grinsend legte Lale einen Finger auf ihre Lippen und öffnete schweigend die Tür.
Der Zimmermann stand im Gang. Er fuhr sich mit der Hand durch sein blondes Haar. Duftende Holzspäne rieselten zu Boden. Stumm hielt er seinem Cannard ein schmuddeliges Wachstuch, in dem ein länglicher Gegenstand eingewickelt war unter die Nase. „Das habe ich auf dem Boot gefunden.“
„Mein Schwert“, rief Gida und sprang herbei. Sie nahm das Bündel und drückte es fest an sich.
„Hast du noch etwas anderes gefunden?“, fragte Loic mit einem Seitenblick auf seine Nichte.
„Nein, nur das.“
„Gut, macht weiter.“
„Hier ist es langweilig. Kann ich mit dir kommen?“, rief Gida dem jungen Mann nach.
Er hob die Schultern. „Weiß nicht. Ich hab keine Zeit, mit dir zu spielen, Kleiner.“
„Ich spiele schon lange nicht mehr!“ Schmollend zog Gida ein Gesicht.
„Nimm ihn mit, Jax. Er soll sich nützlich machen“, sagte Loic. Doch er ließ dabei seine Nichte nicht aus den Augen.
Sie zwängte sich an ihm vorbei. Ihr Busen strich über seinen Rücken und er wich einen Schritt zurück. „Lass das bei mir, Gidjon.“ Lale zeigte auf das Bündel. Auf dem Gang hielt sie den Zimmermann am Arm fest und beugte sich herab. „Lass ihn nicht aus den Augen. Sonst halte ich mich an dich.“
Jax warf einen Blick auf den Cannard in der Tür.
„Ich hätte es nicht besser sagen können“, murmelte Loic. Er nahm Lale das Bündel ab und wickelte die Waffe aus. „Woher hat dieser Bursche das Schwert meines Vaters?“
„Von mir. Ich habe es ihm geschenkt.“
„Diese Waffe geht seit Generationen vom Vater auf den Sohn über. Mit welchem Recht verschenkst du es?“
„Der Vater starb und sein Sohn war nicht da. Niemand war da.“
„Aber nicht, weil ich das so wollte. Du weißt, ich ging nicht freiwillig fort.“
„Laif ist seit zwanzig Wintern tot! Du hättest jederzeit zurückkehren können.“
Er antwortete nicht.
„Sie hat auf dich gewartet, wusstest du das? Deine alte Mutter hauste allein auf dieser feuchten kalten Insel, in dieser zugigen Hütte und lebte von der Hand in den Mund. Sie hätte dich gebraucht!“
„Das sagt die Richtige! Glaubst du, ich wüsste nicht von dem Prozess gegen sie? Wo warst du, als sie dich brauchte?“
„Nicht da, wo ich hätte sein sollen.“
„Hat der Kleine bei ihr gelebt?“
„Eine Zeit lang … Seinetwegen starb Laeda nicht allein und ohne Hoffnung.“
Loic schluckte laut. Lale sah, wie sich die Ader an seiner kahlen Stirn mit Blut füllte und im Rhythmus seines Herzens pulsierte. „Wie …?“
„Jed. Er hat sie mit ihrer Axt getötet.“
Mit beiden Händen umschloss Loic den heißen Becher. Seine Knöchel schimmerten hell durch die wettergegerbte Haut. Es knirschte und der Tee sammelte sich in einer dampfenden Lache unter den Fäusten des Cannard. Er atmete heftig. „Wäre er nicht bereits tot …!“
Er schluckte.
„Deshalb hast du ihn getötet.“
„Nicht ich. Gidjon.“
„Und warum hast du die Schiffe verbrannt?“
„Weil ich es versprochen habe.“
„Wem? Leamnach? Wo ist er überhaupt?“
„Tot. Sie sind alle tot.“
Loic atmete tief durch. Irritiert betrachte er die Innenseite seiner Hand und zog mit spitzen Fingern eine Tonscherbe aus der Haut. „Du hättest mir sagen können, was du vorhast. Ich hätte dir geholfen.“
„Ich habe dir nicht getraut.“
„Dann hat dieses Kind -“
„- die Mörder von eigener Hand getötet.“
„Er ist kaum größer als ein Schweineeimer.“
„Tja, Größe ist nicht alles. Das weißt du sicher.“ Sie grinste.
Nachdenklich strich Loics breiter Finger über die Klinge.
„Vorsicht!“, rief Lale.
Blut quoll aus seiner Fingerbeere. „Soll er es haben. Er hat es sich verdient“, sagte Loic und steckte seinen Finger in den Mund. „Ich muss jetzt los.“
„Warte, ich komme mit. Die frische Luft wird mir guttun.“ Sie schlüpfte in Loics Mantel.
Kopfschüttelnd musterte er den dünnen Stoff seines Hemdes, der sich straff über Lales Busen spannte.
„Was?“
„Komm nicht an und heul mir die Ohren voll, weil dich irgendein Kerl begrapscht hat.“
„Eher kommt irgendein Kerl und heult dir die Ohren voll, weil er was auf die Finger gekriegt hat.“
„Mögen mich die Seegeister damit verschonen“, brummte Loic und polterte die Treppe hinauf.